Mittwoch, März 19

Der Skisprungskandal wirft ein Schlaglicht darauf, dass Unstimmigkeiten in der Disziplin jahrelang diskret behandelt wurden – ähnlich wie im Radsport während der Ära von Lance Armstrong. Doch jetzt entsteht eine neue Dynamik.

Der vorläufige Höhepunkt des Skandals war der Spott von Stephen Colbert zu bester Sendezeit im amerikanischen Fernsehen. In aller Regel arbeitet sich der Late-Night-Show-Moderator an Donald Trump ab, aber vor wenigen Tagen begann er seine Sendung mit den Worten: «Manchmal begehen auch Menschen in anderen Ländern Dummheiten.» Dann erklärte er den grölenden Zuschauern, dass norwegische Skispringer mit einer verstärkten Naht in ihren Anzügen erwischt worden seien.

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Es dürften auch Menschen mitgelacht haben, die kaum eine Vorstellung vom Aussehen einer Skisprungschanze haben. Ein ungünstigeres Szenario ist für eine Randsportart kaum denkbar: Während selbst die Vierschanzentournee nur einen begrenzten Personenkreis interessiert, schafft es der Skandal mit Leichtigkeit auf die globale Entertainmentbühne.

What's Going On Over There? - Norway's Ski Jump Scandal | Ancient English Soccer | Nessy Sighting

Die Turbulenzen sind gewaltig. Fünf norwegische Springer, ihr ehemaliger Cheftrainer sowie mehrere seiner Mitarbeiter sind mittlerweile suspendiert. Der Sportdirektor Jan Erik Aalbu gibt den Betrug in erfrischender Offenheit zu («Wir haben versucht, das System auszutricksen»). Der ehemalige Olympiasieger Daniel-André Tande behauptet, das Fehlverhalten sei das Normalste der Welt («Das macht wirklich jeder»). Und Bine Norcic, als neuer Coach der Norweger engagiert, schmeisst schon nach drei Tagen wieder hin («Ich möchte nicht Teil dieses Chaos sein»).

Am Schlusswochenende der Nordischen Skiweltmeisterschaften in Trondheim war ein Video aufgetaucht, in dem zu sehen ist, wie ein Materialexperte des norwegischen Teams an Anzügen herumnäht, die bereits überprüft worden waren. Und wer davon ausging, es handle sich um einen isolierten Fall von Skrupellosigkeit, während am System nichts auszusetzen sei, wurde durch die erste Reaktion des Weltverbandes FIS eines Besseren belehrt: Der Materialkontrolleur Christian Kathol verhängte nicht prompt Sanktionen gegen die Norweger. Stattdessen warf er zunächst dem anonymen Filmer «Agentenmethoden» vor.

Wie viel auf dem Spiel steht, zeigt ein Blick auf den Radsport, der in seiner jüngeren Geschichte gleich zwei existenzielle Krisen durchmachte. Zunächst den Festina-Skandal, als vor der Tour de France 1998 ein Masseur mit einem Kofferraum voller Dopingsubstanzen am Zoll hängenblieb. Damals forderten die meisten Fahrer und Funktionäre nicht etwa harte Strafen, sondern waren sauer auf die Ermittler. Im folgenden Jahr zelebrierten sie einen Sitzstreik – und beschädigten das Image des Radsports damit fast irreparabel.

Erst nach dem nächsten epochalen Ereignis, dem Doping-Geständnis von Lance Armstrong 2013, passenderweise ebenfalls vor dem amerikanischen Fernsehpublikum, kam es zu einem Umdenken. Gerade noch rechtzeitig, um den Absturz des Radsports in die Bedeutungslosigkeit zu verhindern.

Allzu grosser Zusammenhalt behindert die Aufklärung

1998 reagierte das Peloton auf die Verwerfungen mit einer fatalen Wagenburg-Mentalität, 2013 mit Reformen. Welchen Weg der Skisprungzirkus einschlägt, ist noch offen. Augenfällig sind zunächst einige Parallelen: Die professionellen Protagonisten beider Sportarten bezeichnen ihre jeweiligen Szenen gerne als grosse Familien. Was sympathisch wirken mag, aber auch Gefahren in sich birgt. Denn Familien halten, wenn es ernst wird, nach aussen fast immer zusammen. Das behindert zuweilen die Aufklärung von Betrug.

Mehrere Exponenten aus dem Skispringen lehnen Anfragen der NZZ ab, vertieft über die Thematik zu reden. Sie entschuldigen sich mit Zeitmangel, dem Hinweis auf laufende Ermittlungen gegen die Norweger, Loyalität zu ihren Arbeitgebern.

Dass Teams bei der Herstellung ihrer Anzüge Grenzen ausloten, ist seit Jahren ein offenes Geheimnis. «Im Skispringen ist ein Materialkrieg im Gang», sagte der damalige deutsche Nationaltrainer Werner Schuster bereits 2013. Er beklagte vor allem, dass seinerzeit ein einziger Kontrolleur der FIS für die Überwachung der Regeln zuständig war: «Wenn ein Lehrer siebzig Schüler in seiner Klasse hat, kann er auch nicht immer auf alle schauen.»

Der einsame Kontrolleur hiess Sepp Gratzer. Er war eigentlich Zollbeamter, von seinem Hauptberuf wurde er für seine Tätigkeit im Skisport freigestellt. In seiner österreichischen Heimat erschienen immer wieder Artikel, die Gratzer als harten Hund charakterisierten («Der Hüter des Adlerhorsts», «Wenn Olympiasieger zittern»). Bei Beteiligten stand er dagegen im Ruf, Auffälligkeiten intern zu thematisieren und diskret zu lösen. Wie in einer Familie eben.

Aussagen von Insidern lassen daran zweifeln, ob die hemdsärmlige Praxis mit der Stabsübergabe an Christian Kathol, der Gratzer nach einem Intermezzo folgte, endgültig Geschichte war. 2023 stellte der frühere deutsche Skisprungstar Martin Schmitt fest: «In diesem Jahr sucht der verantwortliche Kontrolleur Christian Kathol wieder mehr den Dialog mit den Teams und kommuniziert seine roten Linien.» Angesichts des präzisen Regelwerks überrascht die Aussage, der Kontrolleur könne eigenmächtig «rote Linien» definieren.

Spekulationen darüber, dass die Anzüge der Skispringer systematisch die Regeln verletzen könnten, sind ebenso gravierend wie pauschale Dopingverdächtigungen im Radsport. Experten sind sich einig: Wenige Zentimeter zusätzlicher Stoff im Schrittbereich, und Athleten springen im Extremfall mehrere Meter weiter. Ein fairer Wettbewerb ist mit manipulierten Anzügen nur noch Illusion.

Auf einer diffusen Ebene wird schon lange über Missstände geraunt. Zurzeit könne er die Anzugskontrollen nicht ernst nehmen, sagte ein anonymer, damals noch aktiver Skispringer ebenfalls 2023 dem «Blick». Es betrüge praktisch jeder. In der Folge verkrachte sich der Kontrolleur Kathol mit seinem Vorgänger Gratzer. «Es fehlt an Fingerspitzengefühl. Es fehlt an Wissen. Es fehlt an der Kommunikation», schimpfte Gratzer. «Uns wurde ein komplett intransparentes System übergeben», erwiderte Kathol. Möglicherweise deutete der Streit erstmals an, dass der Zusammenhalt innerhalb der Familie zu bröckeln begann.

In dieser Saison ist eine neue Dynamik entstanden: Die gegenseitigen Unterstellungen erfolgen jetzt zielgerichteter. Als die Österreicher im Januar an der Vierschanzentournee einen Dreifacherfolg errangen, hielt der Norweger Halvor Egner Granerud deren Dominanz für «seltsam». Seine Landsfrau, die ehemalige Skisprung-Olympiasiegerin Maren Lundby, bezeichnete sie sogar als «verdächtig».

Auch der Schweizer Gregor Deschwanden geriet ins Visier, als er sich in wichtigen Springen einer Erfolgssträhne erfreute. Der deutsche Kommentator Stefan Bier sagte im ZDF: «Deschwanden hat einen relativ voluminösen Anzug.» Insider interpretierten das als Vorwurf, den der Journalist verklausuliert an die Öffentlichkeit trug. Einen Beleg für ein Fehlverhalten des Schweizers gibt es nicht. Doch immer klarer scheint, dass die Ära der Wagenburg-Mentalität endet – zumindest für den Augenblick.

Plötzlich wirkt es, als denunziere jeder jeden. Von den Weltmeisterschaften in Trondheim, an denen die Norweger ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten, kursiert mittlerweile ein zweites brisantes Video. Einem polnischen Journalisten wurden Aufnahmen zugespielt, auf denen Vertreter des österreichischen Teams zu sehen sind. Das Video entstand in einem nur für wenige Menschen zugänglichen Bereich der Anlage. Der Filmer weist auf vermeintliche Auffälligkeiten an den Anzügen, Handschuhen und Schuhen der Österreicher hin. Auch in diesem Fall ist kein Fehlverhalten erwiesen.

Die Motive anonymer Informanten mit Handykameras mögen zweifelhaft sein. Doch sie schaffen eine neue, ungeahnte Transparenz – und nähren den düsteren Verdacht, das Fehlverhalten sei ein flächendeckendes Phänomen.

Zwar gibt es keinerlei konkrete Hinweise auf einen Komplott unter Beteiligung von Kontrolleuren. Doch zumindest der ehemalige norwegische Olympiasieger Tande behauptet nun, die Kontrolleure würden den Ausgang der Wettkämpfe nach kommerziellen Erwägungen beeinflussen: «Es ist das Beste für das Produkt, wenn in Norwegen ein Norweger gewinnt oder ein Österreicher in Österreich. Das ist allgemein bekannt.» Darüber hinaus sagte er dem Radiosender NRK, diverse Nationen hätten ihre zu dichten Anzüge mit einer Perforationsmaschine manipuliert, damit sie den Materialtest bestünden. Ein anderes Team habe sich sogar die Maschine der Norweger ausgeliehen.

Springer dürfen nur noch einen Anzug verwenden

Unter dem akuten Eindruck harter Kritik reagiert der Weltverband FIS scharf. Jeder Springer darf im Weltcup bis Saisonende nur noch einen Anzug verwenden, den er 30 Minuten vor seinem Wettkampf zur Verfügung gestellt bekommt und 30 Minuten danach wieder abgeben muss. Wer die rigorose Massnahme für selbstverständlich hält, sei nochmals an den Radsport erinnert: Der dort zuständige Weltverband UCI protegierte jahrelang den notorischen Betrüger Lance Armstrong, befreite ihn von Regeln und verzichtete auf gezielte Tests. Kurzfristige Image-Überlegungen überlagerten jeden Fairness-Gedanken.

Eine Hoffnung bleibt inmitten der akuten Krise: Gerade auch Menschen, die wenig oder nichts vom Skispringen verstehen, bewundern die Athleten für ihren Mut, ihre Nervenstärke und ihre Athletik. Was sogar für den amerikanischen Satiriker Colbert gilt. Er stellte in seiner Sendung die rhetorische Frage in den Raum: «Wer schaut bitte einem Menschen zu, der sich mit 80 Meilen pro Stunde in die Luft schmeisst, 300 Fuss weit fliegt und eine perfekte Landung hinlegt, nur um dann zu sagen: ‹Einen Moment. Hat sein Anzug etwa eine verstärkte Naht?›»

Der Respekt fürs Skispringen ist ungebrochen. Darauf aufbauend, könnte die Disziplin sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen, die ihr zumindest ungeahnte Publizität verschafft. Allerdings nur, wenn die Verantwortlichen die Fehler des Radsports von 1998 vermeiden.

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