Dienstag, Oktober 8

Für Alexander Lukaschenko kommt der Krieg nach zwei Jahren wieder bedrohlich nahe. Der Machtinhaber in Minsk rasselt an der Grenze mit dem Säbel. Gleichzeitig schickt er Signale in alle Richtungen.

Mit dem ukrainischen Einmarsch in die russische Grenzregion Kursk ist der Krieg für Weissrusslands Machthaber Alexander Lukaschenko bedrohlich nahe gerückt. Lukaschenko musste Putin 2022 zwar erlauben, sein Land als Aufmarschgebiet für die Invasion in Richtung Kiew zu nutzen. Doch nach deren Scheitern tat er alles dafür, seinen Staat nicht direkt in Kampfhandlungen zu verwickeln. Moskaus Fokus auf die Ost- und Südukraine kam ihm auch geografisch entgegen.

Nun aber toben heftige Kämpfe weniger als 250 Kilometer von Weissrussland entfernt. Lukaschenko hat deshalb laut eigenen Angaben ein Drittel seiner Armee an die Grenze verlegt. Polen, die Nato und die Ukraine schmiedeten Angriffspläne, phantasiert der bald 70-jährige Langzeitherrscher. Doch Russland und Weissrussland stünden «Schulter an Schulter», um jeden Feind abzuschrecken.

Lukaschenkos erfundene ukrainische Armee an der Grenze

Hinter dem rhetorischen Pulverdampf steht eine völlig andere Realpolitik. Lukaschenko weiss, dass die ukrainischen Nachbarn Weissrussland nicht bedrohen. Erst Mitte Juli hatte er deshalb den Abzug der eigenen Truppen von der Grenze mit der Ukraine verkündet. Es gebe dort keine Gefahr. Vor wenigen Tagen machte er eine peinliche Kehrtwende und nannte den angeblichen Aufmarsch von 120 000 ukrainischen Soldaten als Grund, die Kräfte wieder dorthin zu verlegen. Die Behauptung ist unglaubwürdig. Aus Kiew heisst es, man habe auf der weissrussischen Seite der Grenze keine neuen Einheiten entdeckt.

Der weissrussische Oppositionelle Pawel Latuschko geht davon aus, dass der Machthaber seines Landes die Spannungen an der Grenze dramatisiert, um mehr Spielraum zu gewinnen. Lukaschenko führe ein Theater auf, das nur einen einzigen Zuschauer im Kreml habe. «Deshalb hat er die Geschichte erfunden und Truppen an die Grenze zur Ukraine verlegt, als wolle er Putin zeigen, dass ‹ich hier und jetzt gebraucht werde›», sagte Latuschko gegenüber BBC Ukraine.

Tatsächlich sieht sich Lukaschenko mit dem Vorwurf aus Moskau konfrontiert, durch den Abzug seiner Grenztruppen im Juli der Ukraine den Angriff auf Kursk ermöglicht zu haben. Und weil die Russen Mühe haben, die Offensive zurückzuschlagen, drängen sie ihn zu mehr Unterstützung. Minsks Militärdoktrin vom April 2024 sieht im Falle einer «Aggression» gegen Russland eine Beistandsverpflichtung vor. Die weissrussische Armee lieferte deshalb Militärmaterial, das laut ukrainischen Soldaten rasch zum Einsatz kam. Dieses stammt offenbar aus den Beständen aktiver Einheiten, weil es Minsk akut an Waffen und Fahrzeugen fehlt. Die Streitkräfte sind nun noch weniger kampfbereit als zuvor.

Das Regime weiss, dass ein Kriegseintritt mit einem unkalkulierbaren Risiko verbunden wäre. Er wäre unter den Weissrussen äusserst unbeliebt; bereits die Hilfeleistungen von 2022 waren Ziel vielfältiger Sabotageaktionen. Doch Lukaschenko stand vor vier Jahren nach Massenprotesten am Rande des Sturzes. Nur Putins Intervention rettete ihm die Macht. Seither ist er so abhängig von Moskau wie nie zuvor seit seinem Amtsantritt im Jahr 1994. Putin akzeptiert Weissrusslands Abseitsstehen im Ukraine-Krieg nur deshalb, weil er dessen Rüstungsbetriebe und Raffinerien als Nachschubbasis braucht.

Der ukrainische Vorstoss ist für Minsk heikel

Selbst wenn Lukaschenkos Militärmanöver an der Grenze primär eine Ablenkung darstellen: Die Ukraine trifft mit ihrem Vorstoss nach Kursk vitale Interessen Weissrusslands. Der vom Westen vielfach mit Sanktionen belegte Staat hat seine Wirtschaft fast gänzlich nach Osten ausgerichtet. Die wichtigsten Handelsrouten verlaufen durch das Nachbarland. Diese sind nun durch Moskaus hektische Militärtransporte nach Kursk überlastet. Laut auf Logistik spezialisierten Portalen lehnt die russische Eisenbahn bis auf weiteres Aufträge aus dem Nachbarland ab.

Das bedeutet für Lukaschenkos Staatswirtschaft weniger Einkünfte. Sein Regime ist deshalb politisch und ökonomisch herausgefordert. Wie häufig zuvor in Krisenlagen versucht der Diktator, sich aussenpolitisch breiter aufzustellen. Dies kann natürlich keine Abkehr von Russland bedeuten. Vielmehr demonstrierten die beiden Staaten Mitte August bei einer nuklearen Übung das gemeinsame Abschreckungspotenzial. Dabei wartete Lukaschenko aber mit einer Warnung auf: Die Ukraine versuche, Moskau durch den Einmarsch in Kursk zu einer atomaren Reaktion zu provozieren. «Sie würde sich freuen, wenn wir dort Nuklearwaffen einsetzen. Dann hätten wir aber kaum mehr Verbündete.»

Lukaschenko bedient so zwar einerseits die Ängste vor einer nuklearen Eskalation, die in Europa stets gut verfangen. Er zeigt aber auch Russland die Grenzen der Eskalation auf. Gleichzeitig bietet er sich als Vermittler an, um den Krieg zu beenden. Im Gegensatz zu Moskau unterhält er weiterhin Beziehungen zu Kiew auf diplomatischer und geheimdienstlicher Ebene. In Weissrussland fanden immer wieder inoffizielle Gespräche der Kriegsparteien statt.

Allerdings verfügt Lukaschenko nach seiner undemokratischen «Wiederwahl» vor vier Jahren kaum über internationale Anerkennung. Will er dies ändern und Manövrierraum gegenüber Moskau gewinnen, muss er deshalb auf den Westen zugehen. Ein kleiner Schritt in diese Richtung scheint die Freilassung von gesamthaft 31 politischen Gefangenen im Juli und August zu sein. Allerdings schmachten in den Kerkern des Landes weiterhin 1400 Menschen. Der Weg zurück auf die globale Bühne ist für den alternden Lukaschenko noch sehr weit.

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