Samstag, Oktober 5

Seit zweieinhalb Jahren wehren sich die kampferprobten Nordukrainer gegen Putins Truppen. Nun verschafft ihnen die Offensive ihrer Armee eine Atempause. Doch der Krieg geht mit anderer Dynamik weiter.

Sieben Stunden dauert Russlands Beschuss von Sumi in dieser warmen Augustnacht. Er beginnt um 23 Uhr mit Shahed-Drohnen über der nordukrainischen Region. Sofort erhellen die Suchscheinwerfer der Verteidiger den Himmel. Dann setzt schweres Feuer aus Maschinengewehren ein. Die Leuchtmunition zieht lange Streifen, fast wie Sternschnuppen. Und sie wirkt: Alle 14 Drohnen werden abgeschossen. Ein paar Stunden lang herrscht Stille.

Doch um Punkt 6 Uhr morgens zischt eine Rakete über den Hotelparkplatz. Sekunden später knallt es. Schwarzer Rauch mischt sich in die Wolken, die Luft riecht nach verbranntem Plastik. Am Einschlagsort ist das ganze Quartier auf den Beinen. Von Balkonen und der Strasse aus schauen die Leute zu, wie die Feuerwehrmänner mit den Flammen kämpfen. Die Iskander-Rakete hat einen Parkplatz getroffen und ein Dutzend Autos in Brand gesetzt. Es gibt zwei Verletzte.

Der Einmarsch in Kursk

Sumi lebt seit zweieinhalb Jahren mit Russlands Raketen. Doch seit dem 6. August wird die Stadt täglich beschossen. Der Einmarsch nach Russland, wo die Ukrainer auf 900 Quadratkilometern ein Gebiet kontrollieren, das knapp zweimal so gross ist wie der Bodensee, hat die Intensität des Krieges verändert. Moskau bestraft die Ukrainer mit Terror: Neben dem Parkplatz gibt es weit und breit kein militärisches Ziel. Einige Wochen später wird gar ein Kinderheim zum Ziel.

Gleichzeitig ist Sumi zu einer Garnisonsstadt geworden. Immer wieder rollen Kolonnen von Armeefahrzeugen durch die Stadt. Sie sind auf dem Weg zur neuen Front oder kommen von dort. Die Geschichte hat die Menschen im Grenzgebiet das Kämpfen gelehrt. Nicht umsonst thront der Helm als Symbol der Verteidigung auf dem Wappen der Region.

«Als die Invasion 2022 begann, hatte ich eine animalische Angst vor dem Sterben», sagt Dmitro Kudinow. «Aber irgendwann hatte ich die Nase voll davon, mich zu fürchten.» Der Geschichtsprofessor erinnert sich an die ersten Tage der Invasion, als seine Furcht zu grimmiger Entschlossenheit wurde. Der 45-Jährige erlebte den Beschuss der Stadt, den Rückzug der ukrainischen Armee. Und Kudinow sah russische Panzer durch eine Strasse von Sumi rollen, wo vor dem Krieg eine Viertelmillion Menschen gelebt hatte.

Mehr als einen Monat lang war die Stadt umzingelt, die Russen beschossen sie mit Artillerie. Die Bevölkerung organisierte spontan eine Widerstandsbewegung: Männer mit Kampferfahrung taten sich in Freiwilligenverbänden zusammen und begannen einen Guerillakrieg. Freiwillige kochten gratis für sie, Kudinows Studentinnen knüpften Tarnnetze. «Natürlich sassen auch viele einfach zu Hause», sagt der Historiker. «Aber jene, die auf der Strasse waren, hatten es leichter.»

Die Bewohner von Sumi suchen Ablenkung

Der Kraftakt des Widerstands, glaubt Kudinow, hat die Leute zusammengeschweisst. Doch eine reine Heldengeschichte ist seine Erzählung über die kampffreudigen Provinzler nicht: Ihn schmerzt, wie viele Gräber auf dem Friedhof stehen, wie viele Fähnchen für die Gefallenen wehen neben dem «I love Sumy»-Schild im Zentrum. Zu den Toten kommt der Stress der ständigen Frontnähe. «Der Einmarsch in Kursk war für uns eigentlich ein Schock», sagt Kudinow. Die Stadtbewohner hätten Zweifel, ob die ukrainische Armee das eroberte Gebiet halten könne. «Falls nicht, sind die Russen rasch hier.»

Die Gefahr macht die Menschen unruhig. Trotzdem wirkt die Stadt lebensfreudig. Am Abend spazieren die Jungen durch die Strassen und flirten miteinander. Kudinow betritt einen Hinterhof, wo sich Künstler eingerichtet haben. Einer hat ein Bild von Putin hinter Gittern gemalt, ein anderer zeigt einer Gruppe gerade seine Fotoausstellung unter freiem Himmel. Daneben wird ein ukrainischer Stummfilm aus den zwanziger Jahren gezeigt. Das Publikum nippt an einem Negroni, während eine Pianistin die Musik dazu spielt. «Die Leute wollen sich ablenken – vom Krieg, von den schlechten Gefühlen», sagt Kudinow.

Er weiss, dass das viele nicht verstehen, dass sie glauben, Konsum in Kriegszeiten sei unpatriotisch. Doch Kudinow beobachtet, dass die Leute sehr bewusst schauen und lesen: «Die Nachfrage nach ukrainischer Kultur ist umso grösser, je näher man der Front kommt.» Die Menschen setzten sich intensiv mit ihren Wurzeln auseinander. Auch seine Stadttouren zur Geschichte Sumis sind ausgebucht.

Russischsprachig heisst nicht Putin-hörig

Als Historiker ist Kudinow überzeugt, dass ein Blick zurück den Widerstandsgeist in der Region erklärt. Die Stadt habe seit ihrer Gründung Mitte des 17. Jahrhunderts oft als erste Verteidigungslinie gedient. Damals war Sumi ein Vorposten des Russischen Reiches und der christlichen Orthodoxie gegen die Angriffe der muslimischen Tataren im Süden. Heute kommt der Feind aus Moskau.

Wladimir Putin, der sich als Nachfolger der Zaren sieht, erwartete in Sumi keinen Widerstand: Die lange gemeinsame Geschichte und der grosse Anteil der russischsprachigen Bevölkerung liessen ihn glauben, seine Truppen würden als Befreier empfangen. Auch Kudinows Familie spricht Russisch. Doch dies bedeute nicht, dass die Menschen Kreml-hörig seien. «Sumi war in seiner jüngeren Geschichte nie sehr russlandfreundlich. Es gibt eine starke ukrainische Identität.»

Auch das lässt sich historisch erklären. Die Gründer von Sumi waren Kosaken, welche die Ukrainer heute als Vorgänger ihrer Nation sehen. Die Angehörigen dieser ebenso kriegerischen wie teilweise basisdemokratisch organisierten Gruppe waren aus dem Süden geflohen und stellten als sogenannte Wehrbauern die Verteidiger. Viel Hilfe aus Moskau konnten sie nicht erwarten, was ihnen ein Mass an Autonomie garantierte. «Die Leute in Sumi übernahmen selbst Verantwortung für ihr Schicksal», sagt Kudinow.

Neben Charkiw war die Stadt über Jahrhunderte ein wichtiges regionales Zentrum, mit Einfluss bis weit ins heutige Russland hinein. Erst Ende des 18. Jahrhunderts integrierte Katharina die Grosse Sumi vollständig ins Russische Reich und gab die heutigen Staatsgrenzen vor. Diese blieben aber durchlässig. Als die Sowjets in den zwanziger Jahren die Grenzen der Ukraine festlegten, erwogen sie sogar, ihr die wirtschaftlich eng mit Sumi verbundene Region Kursk zuzuschlagen. Manche Ukrainer verkünden nun, sie holten mit dem Einmarsch in Russland ihre historischen Gebiete zurück. Ganz ernst gemeint ist das nicht.

Bis vor wenigen Jahren fuhren die Leute regelmässig über die Grenze, um einzukaufen oder ins Kino zu gehen. In jenen Zeiten, da in Kiew prorussische Regierungen herrschten, wurde die Nähe auch politisch zelebriert: Bis 2014 bildeten Kursk und Sumi gar eine Euro-Region namens Jaroslawna. Erst Moskaus Besetzung der Halbinsel Krim und seine Invasion der gesamten Ukraine vor zweieinhalb Jahren machten die Grenze zu einer Barriere.

Das verminte Idyll im Grenzland

Seither haben beide Seiten die Grenze mit Panzersperren, Bunkern und Minenfeldern befestigt. Zwar blieb der Frontabschnitt vergleichsweise ruhig. Landschaft und Licht haben hier im Norden ihren eigenen Reiz, die Ortschaften und Gärten sind so gepflegt und farbig wie kaum sonst wo in der Ukraine. Doch in den Dörfern an der Grenze gehörten Russlands Raketen und Bomben auch nach der Befreiung im Frühling 2022 zum Alltag. Am Strassenrand stehen zerstörte Häuser und warnen Schilder vor Minenfeldern.

Der Boden gehört zu den fruchtbarsten in ganz Osteuropa. Nicht umsonst ziert Sumis Wappen neben dem Helm eine Ähre. Ein Fünftel der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft. Selbst in Kriegszeiten fahren die Mähdrescher in langen Reihen über die flachen Weizenfelder. Ihre riesigen Haspeln zerhacken die Pflanzen, über lange Rohre spucken sie den Schrot auf die Ladeflächen der wartenden Lastwagen.

Doch die Arbeit im Grenzgebiet ist gefährlich: Die ersten Kilometer sind militärisches Sperrgebiet, hier darf die Armee auf dem Land der Bauern ihre Verteidigungsstellungen bauen. Selbst dahinter müssen diese die Ernte oft unter Beschuss einbringen. Erst am Wochenende feuerten die Russen eine Rakete auf eine Lastwagenkolonne mit Getreide ab. Ein Mann wurde getötet.

Es geht deshalb auch um die Bauern, wenn Präsident Selenski sagt, das Ziel der Operation in Kursk sei eine Pufferzone zum Schutz der Zivilbevölkerung. Teilweise ist das gelungen: Verschiedene Gesprächspartner erzählen, die Russen seien zurückgedrängt worden und schössen kaum mehr mit Granaten.

Friedlich ist es nicht geworden. Im Zentrum der Kleinstadt Bilopillja hat kürzlich eine Gleitbombe eingeschlagen und zwei Personen verletzt. Das ist bezeichnend für die Entwicklungen seit Beginn der ukrainischen Invasion in Kursk: Die Russen feuern ihre Bomben nun von Kampfjets aus grösserer Distanz ab. Der ständige Beschuss hat die Bevölkerung des knapp zehn Kilometer von Russland entfernten Ortes stark schrumpfen lassen. Von einst 16 000 Einwohnern blieben weniger als ein Drittel.

Moskaus langer Arm über die ukrainische Grenze

Natalia Kalinitschenko ging nicht. Nun hat sie ein Dutzend Schlüssel von Nachbarn bei sich: In verlassenen Wohnungen füttert sie Katzen, in Häusern bringt sie alten Leuten, die niemanden mehr haben, Medikamente vorbei. Eigentlich ist die 63-Jährige aber Journalistin. Doch seit einem russischen Raketenangriff liegt ihre Redaktion in der Innenstadt von Bilopillja in Trümmern.

Die Attacke hat die unverwüstlich wirkende Frau erschüttert. Sie fuhr deshalb zur Erholung in die Westukraine und kam erst Mitte August zurück, eine Woche nach Beginn des ukrainischen Einmarsches. «Die Atmosphäre hat sich seither stark verändert», sagt sie. Die Menschen seien nervös. «Es gibt wenig gesicherte Information. Das stresst die Leute.» Diese trieben viele Fragen um: Was, wenn die ukrainische Armee sich im eroberten Gebiet nicht halten kann? Was, wenn die Russen die Stadt zerstören, um Rache zu nehmen?

Kalinitschenko sieht eine Mitverantwortung der Führung in Kiew für die Unruhe. Die Geheimhaltung rund um die Militäroperation habe die Gerüchteküche befeuert. Auf der Website der Zeitung sammeln die Journalisten deshalb lokale Neuigkeiten, auch wenn sie nichts über die militärische Lage schreiben dürfen. Die verbliebenen Einwohner liefern dafür Informationen aus erster Hand. Kalinitschenko glaubt, dass die lokale Verankerung eines der wenigen effizienten Mittel gegen das Misstrauen darstellt.

Gleichzeitig tut Moskau alles, um dieses zu schüren. Die Russen hätten in den letzten zweieinhalb Jahren mehrere neue Sendetürme an der Grenze aufgestellt, um ihre Propaganda zu verbreiten, erzählt Kalinitschenko. «Gleichzeitig bombardierten sie unsere Antennen. Wir hatten vier Monate lang keinen Radio- und Fernsehempfang.» In das Informationsvakuum stiessen koordinierte Kampagnen: Russische Grenzbewohner riefen ihre Verwandten in der Ukraine an. «Sie sagten, wir sollten keinen Widerstand leisten und unsere Armee aus dem Ort vertreiben, damit wir nicht zum Ziel werden.»

Das frühere Vertrauensverhältnis der Familien über die Grenze hinweg ist seit Russlands Invasion einer Atmosphäre der Angst und der Lüge gewichen. Normale Gespräche seien kaum mehr möglich, und inzwischen verbreiteten die Russen nicht einmal mehr Todesanzeigen ihrer gefallenen Söhne auf sozialen Netzwerken, beobachtet Kalinitschenko. Sie fürchteten, die Veröffentlichung solcher Informationen könnte ihnen schaden.

Die nächste ukrainische Verteidigungslinie

Kalinitschenkos Sohn kämpft in der 117. Brigade der Territorialverteidigung von Sumi. Dort dient auch ein Soldat mit dem Kampfnamen «Cham». Der 36-Jährige hatte sich Anfang 2022 freiwillig gemeldet, davor war er Fahrer in Deutschland. «Wenn ein Mann denkt, dass das Land ihm gehört und er ein Zuhause hat, muss er es schützen», sagt der zweifache Familienvater. In Sumi ist dies mehr als eine Worthülse: Seine Frau und seine Söhne leben in der Nähe seiner Stellung, er sieht sie wöchentlich. Beim letzten Besuch ging er mit den beiden Teenagern fischen.

«Cham» – übersetzt «Grobian» – kommandiert eine Einheit von Kanonieren. Von der Grenze schiesst sie mit Mörsern nach Russland. Bis zum 6. August dienten die Salven der Abschreckung: Noch im Frühling war die Befürchtung gross, die feindlichen Truppen könnten nach ihrer gescheiterten Offensive gegen Charkiw auch Sumi angreifen. «Dass die Russen dort nicht weit kamen, hat uns gerettet», sagt ein Soldat.

Direkt in die ukrainische Offensive gegen Kursk ist die 117. Brigade bis heute nicht involviert. Aber sie hat mehr zu tun als früher, weil sie die Truppen in Russland unterstützt. So schoss sie jüngst auf einen Bunker, um feindliche Soldaten zu blockieren. Dies ermöglichte einer ukrainischen Einheit den sicheren Rückzug aus ihrer umzingelten Position.

Trotz den zusätzlichen Aufgaben verschafft der Einmarsch in Kursk den Verteidigern von Sumi in den Schützengräben eine Atempause. Ein Stück Anspannung fällt weg, weil der Feind weiter entfernt ist. Und die Soldaten freuen sich über die Erfolge nach über zwei Jahren Verteidigung. «Jetzt zahlen wir es den Russen mit gleicher Münze heim», sagt einer.

Was kommt nach dem Vorstoss in Kursk?

Sie wissen aber auch, dass die Offensive mit grossen Risiken verbunden ist. Bis heute bleibt unklar, wie weit die Ukrainer vorstossen wollen und wie viele Verluste sie dafür in Kauf nehmen. Die Front in Kursk ist inzwischen seit mehreren Wochen praktisch stabil, und die Anzeichen mehren sich, dass die Russen sich auf einen grösseren Gegenschlag vorbereiten. Ob die Ukrainer das eroberte Gebiet dann auch halten können, wird sich zeigen.

Falls dies nicht gelingt, steht die 117. Brigade erneut in den vordersten Verteidigungslinien vor Sumi. Die Front der Kanoniere besteht aus dunklen Gräben unter der Erde, in denen sie im Sommer schwitzen und im Winter frieren. Die Dynamik des Krieges würde sich dann ein weiteres Mal ändern, während die Aufgaben gleich bleiben wie heute: Sobald der Feuerbefehl auf «Chams» Funkgerät eingetroffen ist, holt ein Soldat die Granate und lässt sie ins Rohr des Mörsers gleiten. Ein anderer hält die Zündschnur. Wenn er «Feuer!» schreit, öffnet sich kurz die Abdeckung, die vor Russlands Drohnen schützt. Dann fliegt die Granate über die Grenze. Jemand hat «Für unsere Kameraden» darauf geschrieben.

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