Mittwoch, Juni 26

Die Sommerspiele vor hundert Jahren lieferten Stoff für filmreife Dramen und Heldengeschichten. Die eigentliche Sensation: das Fussballturnier mit dem Triumph der entfesselten Uruguayer und dem famosen Schweizer Nationalteam.

Er träumte von Paris, von den Olympischen Spielen 1924. Dort wollte er unbedingt laufen, mit den Besten der Welt. Aber der Rektor des Technikums Burgdorf verweigerte dem 21-jährigen Studenten Willy Schärer den Urlaub. Erst das Machtwort des Berner Regierungsrats Tschudi ermöglichte Schärer die Teilnahme und den überraschenden Gewinn der Silbermedaille im 1500-Meter-Rennen. Und das Land überschlug sich vor Begeisterung, als im fernen Paris die famose Schweizer Fussball-Nationalmannschaft in den Olympiafinal gegen Uruguay stürmte und den inoffiziellen Europameistertitel errang.

Schneller, höher, stärker – und, die olympische Losung wurde in Paris entscheidend erweitert: populärer. Die Ereignisse rückten näher ans Publikum heran. Der Reporter von Radio Paris berichtete erstmals live aus einem Ballonkorb über dem Stadion von Colombes.

Die Olympischen Sommerspiele, die am 4. Mai 1924 in der französischen Metropole begannen, waren das Fanal für den modernen massenmedialen Sport und lieferten Stoff für filmreife Dramen und Heldengeschichten. Sie entzündeten sich an den «Roaring Twenties», den wilden zwanziger Jahren, einer Zeit des Aufbruchs und der Lebensfreude. Bereits Anfang Jahr hatten in Chamonix die ersten Olympischen Winterspiele stattgefunden. La Grande Nation war der Nabel der Sportwelt.

«Les Jeux Olympiques» waren das Geschenk an Baron Pierre de Coubertin, den Erfinder der Olympischen Spiele der Neuzeit. Alle andern Kandidatenstädte hatten ihre Bewerbung für die Spiele 1924 aus Respekt vor ihm zurückgezogen. Deutschland blieb verbannt wegen der Kriegsschuld, die Sowjetunion war in Lenins Todesjahr nicht Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees. China hatte lediglich vier Tennisspieler gemeldet, die allerdings wieder abreisten, und Britisch-Indien war noch eine Kolonie. Unter den 3072 Teilnehmenden waren nur 135 Frauen, deren vier kamen aus der Schweiz.

Joseph Imbach läuft im 400-m-Halbfinal Weltrekord – und erbricht sich im Final

Die Erinnerung an Paris 1924 weckte Generationen später der Erfolgsfilm «Chariots of Fire» (zu deutsch: «Die Stunde des Siegers»). Er wurde 1981 mit vier Oscars prämiert und zeigte romantisierend die Freundschaft und Rivalität der britischen Läufer Harold Abrahams und Eric Liddell. Abrahams ist Jude, Student in Cambridge, der die Goldmedaille im 100-Meter-Sprint davonträgt. Der Schotte Liddell, Sieger über 400 Meter in der Weltrekordzeit von 47,6 Sekunden, wird später wie seine Eltern ein christlicher Missionar. Er ist ein Naturtalent, spielt auch für die schottische Rugby-Mannschaft. Zur Welt kam Liddell in Tianjin in China, wohin er später zurückkehrte. Im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg wurde er 1943 gefangen genommen, 1945 starb er an einem Gehirntumor – mit erst 43 Jahren.

Ein Weltrekord wurde bereits im 400-m-Halbfinal aufgestellt, und zwar von einem Schweizer. «Vive Imbach, vive la Suisse!», rief die Menge im Stadion von Colombes, wie das Fachblatt «Sport» in die Heimat meldete. Joseph Imbach legte die 400 Meter, die auf einer ungewohnten 500-Meter-Bahn ausgetragen wurden, in 48,0 Sekunden zurück. Doch im Final 20 Stunden später erbrach er sich, begann merkwürdig zu taumeln, stolperte, fiel hin und schleppte sich wie in Trance abgeschlagen als Letzter über die Ziellinie. Seinen desolaten Zustand erklärte er mit einer verdorbenen Omelette.

Im Nachhinein erscheint Imbach als verkannter Superstar des Schweizer Sports – und als sein grösster Pechvogel. Der Mechanikerlehrling fuhr und gewann zuerst Velorennen, aber am liebsten spielte Imbach Fussball, als Stürmer mit Kickers Luzern in der damaligen Serie A, der höchsten Schweizer Liga. Dabei entdeckte er die Leichtigkeit des Laufens, wurde auf Anhieb Schweizer Meister über 800 und 1500 Meter, versuchte sich aber auch als Sprinter und schraubte den Landesrekord über 100 Meter auf 10,6 Sekunden herunter, was damals die Egalisierung des Weltrekords bedeutete. Imbach starb vergessen und verarmt mit 62 Jahren in Genf, wo er zuletzt wieder Fahrräder repariert hatte.

In Paris schlug die Sternstunde zweier anderer Schweizer Läufer: Paul Martin, ein Arzt aus Lausanne, und Willy Schärer, der eingangs erwähnte Schulschwänzer mit höchster Erlaubnis, gewannen Silbermedaillen. Martin ging die 800 Meter etwas zu verhalten an, im Finish fehlte ihm auf den britischen Sieger Douglas Lowe kaum ein Schritt. Lowe wurde später Richter am Crown Court, dem obersten britischen Strafgericht; Martin war ein Weltenbummler, der zwischen 1920 und 1936 an fünf Olympischen Spielen teilnahm, aber auch ein erfolgreicher Chirurg mit Weltruf auf dem Gebiet der Knochentransplantation.

Eduard Wilhelm «Willy» Schärer, den zuvor niemand gekannt hatte, tauchte im 1500-Meter-Final auf der Zielgeraden in die Lücke, die der Finne Paavo Nurmi aufgerissen hatte. Nurmi lief während eines Jahrzehnts Weltrekorde in Serie, oft mit der Stoppuhr zur Selbstkontrolle in der Hand. Allein in Paris gewann er, die Teamwettbewerbe mitgerechnet, fünf Goldmedaillen. Nurmis Karriere endete unter der Guillotine der Heuchler und Puristen, weil er in Deutschland überhöhte Reisespesen kassiert und damit gegen den Amateurparagrafen verstossen hatte. Das Lebensende fristete er in Verbitterung; nach mehreren Herzinfarkten war er halb gelähmt. Immerhin wurde ihm ein Staatsbegräbnis zuteil.

Nach Willy Schärer erkundigte sich in Paris auch der damalige Schweizer Botschafter Paul Dinichert. Er fragte ihn beiläufig, was er denn im Militärdienst so mache. Schärer, noch keine 21, entgegnete, man habe ihn «nicht gewollt, weil mit dem Herz etwas nicht in Ordnung sei». Als pflichtbewusster Staatsbürger holte er die Rekrutenschule später nach und wurde sogar Offizier. Doch mit Laufen war bald Schluss, als er die Firma seines Vaters übernahm, eine Werkstätte für Präzisionsmechanik.

Spätere Fotos zeigen Schärer als nachdenklichen Pfeifenraucher. Er hatte sich früh schon für Astronomie interessiert, Schärer dachte in anderen Zeiträumen als Laufrekorden. Er baute selber zwei Teleskope und eine Sternwarte im Gantrischgebiet. Die Universität Bern verlieh ihm den Ehrendoktor. Sein Schweizer Rekord über 1500 m, die 3:55,0 Minuten von Paris, überdauerte 25 Jahre.

In Paris gewannen die Schweizer Sportler so viele Medaillen wie nie mehr seither: 25, deren sieben waren goldene. Der Freilstilringer Fritz Hagmann wurde Olympiasieger im Mittelgewicht, Henri Wernli Zweiter im Schwergewicht. Zwei Jahre später wurde Wernli dafür eidgenössischer Schwingerkönig.

Das Schweizer Fussball-Nationalteam unterliegt Uruguay im Olympia-Final 0:3

Die eigentliche Sensation war in Paris aber das olympische Fussballturnier mit der Entdeckung des südamerikanischen Stils aus Härte und Virtuosität, wie ihn Uruguay praktizierte. Die Mannschaft aus Montevideo fegte ihre Gegner hinweg – mit fünf Siegen und 22 Toren (und einem einzigen Gegentor). Und mit einer Attraktion, wie sie die Alte Welt bisher nicht gesehen hatte: José Leandro Andrade, dem einzigen Schwarzen im Team; er stammte von einer Sklavenfamilie ab. Gegen Frankreich, das Gastgeberland, umdribbelte Andrade sieben Gegenspieler, bevor er den Ball im Tor versenkte. Eine ähnliche Einzelleistung gelang erst Maradona gegen England wieder, 62 Jahre später.

Die tapferen Schweizer hatten im Final nicht den Hauch einer Chance gegen den uruguayischen Ballzauber und verloren 0:3, aber bis heute schaffte es keine Schweizer Nationalmannschaft mehr an einem grossen Turnier in den Final. Zum Team zählte auch Max (genannt «Xam») Abegglen, er schoss allein sechs Tore und gehörte als Namensgeber zu den Mitbegründern des Klubs Neuchâtel Xamax.

José Andrade inszenierte dann auch die vermutlich längste Siegesfeier der Sportgeschichte. Er blieb einfach noch einige Monate in Paris, streifte als hinreissender Showman und Tänzer durch Bars und Nachtklubs oder stimmte für ein paar Francs Klaviere für die Gastgeber. 1928 in Amsterdam triumphierte Uruguay erneut, doch im Final fehlte Andrade verletzt. Und 1930 gewann Uruguay im eigenen Land mit Andrade die erstmals ausgetragene Weltmeisterschaft. Nur: Sein ausschweifendes Leben ruinierte ihn. Andrade starb mit 55 Jahren im Armenhaus.

Andere Sportgrössen schufen in Paris die Basis für ihren Nachruhm. John Kelly, ursprünglich ein Bauarbeiter und Sohn einer irischen Einwandererfamilie, legte als Ruderer eine einmalige Serie mit 126 Siegen hin, zuletzt triumphierte er in Paris im Doppelzweier mit seinem Cousin Paul Costello. Auch dank seinem Beziehungsnetz als Sportler baute er einen erfolgreichen Baukonzern auf. Seine Tochter Grace Kelly, die Filmschauspielerin, wurde später die Fürstin von Monaco.

Wasser als Karriereelement: Das ist die Saga von Johnny Weissmüller, dem ersten Menschen, der die 100 Meter unter einer Minute crawlte, insgesamt 67 Weltrekorde aufstellte und in Paris drei Goldmedaillen errang. Weissmüller war als Baby mit seiner Banat-deutschen Familie aus Rumänien in die USA gekommen. Der 1,91 Meter grosse Modellathlet fiel auch in Hollywood auf und verkörperte in zwölf Tarzan-Filmen den Urwaldmenschen, später in einer TV-Serie den Abenteurer «Jungle Jim». Weissmüller war fünf Mal verheiratet, doch der Nachruhm schützte auch diesen Giganten nicht vor dem Fall in Altersarmut und Krankheit.

Exit mobile version