Ihre fremd-vertrauten Bildwelten sind gemalte Psychogramme unseres Zeitgeists. «Many Moons» im Masi Lugano ist die erste Museumsausstellung der digital arbeitenden Schweizer Künstlerin Louisa Gagliardi.

Glas rostet nicht, fault nicht, wird nicht von Pilzen befallen, verwittert nicht und nimmt keine Feuchtigkeit auf. Glas gibt den Blick frei. Glas trennt. Es gibt ein Davor und ein Dahinter. Glas ist – in ganz unterschiedlichen Spielarten – ein häufig wiederkehrendes Motiv im Werk der Schweizer Künstlerin Louisa Gagliardi.

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Ob in Gestalt von Fensterscheiben, Trennwänden, Spiegeln, Brillengläsern oder Kameralinsen: Immer wieder schiebt sich das Bild der kalten, glatten Materie vor das Auge des Betrachters. In den Werken Gagliardis tauchen surreale Welten auf, die in ihrer Ambiguität irritieren und beunruhigen, gleichzeitig aber anziehen, bisweilen sogar in den Bildraum hineinziehen. Eindeutig ist das Gezeigte selten. Oft bieten sich verschiedene Lesarten an. Und darin liegt die Anziehungskraft der Bilder Gagliardis: Sie sind Einladungen an unsere eigene Phantasie.

Für ihre enigmatischen, magisch-traumhaften Bildmomente, die sich oft im Schwebezustand unheilvoller Stimmungen befinden, hat sich die 1989 in Sitten geborene und heute in Zürich lebende Künstlerin ihr eigenes Motivarsenal geschaffen: Personen, die sich schablonenhaft ähneln, geschlossene oder umgrenzte Räume, angereichert mit einigen wenigen Gegenständen, sei es ein Schlüssel, eine Uhr, ein Trinkglas. Auch Vögel sind ein immer wiederkehrendes Motiv. Die Atmosphäre in den Bildern ist unterkühlt, oft unheimlich oder gar bedrohlich.

Exhibitionismus und Voyeurismus

Emotionen sind auf den alterslosen, blutleeren Gesichtern nicht abzulesen, und wenn die wie Avatare wirkenden Wesen in direktem Körperkontakt stehen – so etwa in dem Gemälde «Green Room» (2023) –, sind die Körper nur schemenhaft, gläsern, wie nicht präsent. Mit ihren surrealen Bildwelten reflektiert Gagliardi unseren heutigen Zeitgeist. Sie klagt nicht an, sondern beobachtet und gibt wieder, was sie in unserer hyperdigitalisierten Welt wahrnimmt.

«Wenn es in meiner Arbeit viel Angst gibt, dann spiegelt das das wider, was meine Generation erlebt. Wir sind ständig online, wir können alles über unser Image kontrollieren, wir sind in der Selbstkuratierung, während wir gleichzeitig immer ultravoyeuristisch sind», so kommentiert Gagliardi ihre Arbeiten in einem Interview in «Le Temps» im August 2022.

Analoges und Virtuelles gehen ineinander über, und der Preis dicht geknüpfter sozialer Netzwerke im Internet scheint mitunter der einsame Fall ins Leere zu sein: «Wir wollen in der Welt sein, haben aber Angst vor ihr. Alle Gespenster, die ich zeichne, sind diese Menschen, die wir begehren und vor denen wir fliehen. Die sozialen Netzwerke haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Sie bieten uns unglaubliche Möglichkeiten. Gleichzeitig sind sie unser Fluch.»

Der Blick etwa in den Wohnraum in dem Bild «Chaperons» (2023) lässt die Betrachter in Louisa Gagliardis erster Museumsausstellung im Masi Lugano frieren: Der klinisch rein wirkende Schlafraum ist zwar in einem Brutkasten-ähnlichen Schauraum platziert, wohlige Wärme aber verspürt man beim Anblick dennoch nicht.

Zwei mit Gummihandschuhen bezogene Händepaare zupfen am Bettzeug, rücken das Design-Mobiliar zurecht, die Lampe wird in Position gebracht. Doch auch wenn die Hängeleuchte zärtlich wie ein Zündholz gehalten wird, das kühle elektrische Licht lässt keine behagliche Stimmung aufkommen. Offene Türen sucht man vergebens, im Gegenteil, der Eingang ist fest verriegelt.

Exhibitionismus und Voyeurismus über körperlose Distanz hinweg gehen hier Hand in Hand, spielen ihr eigenes Spiel. Dass das Werk «Chaperons» auch ganz anders aufgefasst und interpretiert werden kann, ist durchaus im Sinn der Künstlerin. Mit ihren fremd-vertrauten Bildelementen und ambivalenten Bildtiteln fordert sie uns geradezu auf, die Deutungsrichtung zu wählen.

Malen am Computer

Louisa Gagliardi hat Grafikdesign in Lausanne studiert. Sie lässt ihre Arbeiten am Computer entstehen; die Computermaus ist dabei, wie sie selbst sagt, ihr Pinsel. Gagliardi versteht sich als Malerin, durchaus in der Tradition der Kunstgeschichte stehend. Mit ihren abschliessend aufgetragenen Strichen mit dem Borstenpinsel, getunkt in dicken Gelschaum oder Lack, setzt sie haptische Akzente auf die bedruckten PVC-Platten und will somit auch der klassischen Malerei ihre Reverenz erweisen.

Das Farbspektrum – konzentriert man sich auf die in Lugano ausgestellten Arbeiten – ist reduziert: Petrolgrün, Rubinrot, Rostrot, Violett, Silbergrau. Vom Hell ins Dunkel gehende Farbverläufe und ein perlmuttartiger wolkiger Schimmer unterstreichen den entmaterialisierten, flüchtigen Charakter des Dargestellten. Gleichzeitig erinnert dieses schimmernde Licht an das diffuse kalte und irisierende Leuchten, das Bildschirmflächen ausstrahlen, dem Lichthof des Monds nicht unähnlich.

Bezüge zur Kunstgeschichte sind im Werk Gagliardis immer wieder zu finden, so auch in der für Lugano geschaffenen immersiven Arbeit «Streaming» (2025): In einem kleinen Seitenraum der Ausstellung hat die Künstlerin die Wände zur Gänze mit ihrer Malerei überzogen, so wie man es aus mit Fresken geschmückten Kirchenräumen aus dem Mittelalter und der Renaissance kennt.

Dargestellt sind hier zwei Personen in Übergrösse, ausgestreckt im Schlaf liegend, das Bettlaken geht in einen üppig rauschenden Wasserfall über. Auffallend sind die wie nachträglich eingekratzten «Graffiti», die sich der Symbole der Vanitas-Stillleben aus dem Barock bedienen: heruntergebrannte Kerzen, angebissenes Obst, ein umgekipptes Weinglas, eine Blüte, die zwar noch im vollen Saft steht, aber die das baldige Verblühen ahnen lässt. Die Zeit ist im ständigen, unaufhörlichen Fluss.

Den Ausstellungskatalog möchte man gerne weiterempfehlen: Drei Literaten wurden eingeladen, sich mit dem Werk Gagliardis auseinanderzusetzen: Micah Schippa-Wildfong, Sara Catella und Noëmi Lerch. Letztere erzählt von einer surreal anmutenden Reise. Am Ende ihrer Ich-Erzählung – in behutsamer poetischer Sprache formuliert – durchbricht die Protagonistin eine Glaswand und findet wieder in ihr vertrautes Zuhause zurück, das inmitten der Natur liegt.

Eine Schnittwunde verursacht ihr zwar brennenden körperlichen Schmerz und fliessendes Blut, das auf der Haut gerinnt, aber gerade dies kann als Insigne realen Lebens gelesen werden: eines prallen, pulsierenden Lebens, das in den bleichen, surrealen Bildern von Louisa Gagliardi nicht zu finden ist.

«Louisa Gagliardi. Many Moons». Masi (Standort LAC), Lugano, bis 20. Juli. Katalog (Englisch/Italienisch): Fr. 39.90.

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