Montag, September 30

Der Hizbullah ist gedemütigt und geschwächt – das macht die Lage noch unberechenbarer. Zu Recht will Israel der Bedrohung aus Libanon ein Ende setzen. Gute Optionen hat es dabei aber nicht.

Der Krieg im Nahen Osten ist seit dieser Woche um ein ebenso spektakuläres wie verwirrendes Kapitel reicher. In Libanon herrscht eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Panik und Zorn, nachdem mit Sprengstoff präparierte Pager und Funkgeräte des Hizbullah am Dienstag und am Mittwoch plötzlich explodiert sind, Tausende von Menschen verletzt und Dutzende getötet haben. Die offensichtlich koordinierte Aktion richtete sich ganz gezielt gegen den von Iran gesponserten Hizbullah.

Die radikalislamische Miliz ist gedemütigt und geschwächt. Sie muss nun sowohl den Ausfall einer Vielzahl von Kämpfern und Kaderleuten verkraften wie auch ihr gesamtes Kommunikationskonzept überprüfen. In den Reihen des Hizbullah herrscht Angst vor weiteren israelischen Geheimoperationen, die Moral der Milizionäre liegt am Boden, in der Bevölkerung hat das Ansehen der Truppe gelitten. In seiner Rede vom Donnerstag referierte der Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah zwar feurig von roten Linien und Vergeltung – doch auch er musste eingestehen, dass seine Truppe einen schweren Schlag erlitten hat.

Es lässt sich nicht mit abschliessender Sicherheit beweisen, dass Israel hinter der Operation steckt; der jüdische Staat hat seine Urheberschaft weder bestätigt noch dementiert. Doch das Ausschlussverfahren liefert ein deutliches Ergebnis: Wer sonst verfügt über die Fähigkeiten, das Know-how und das Interesse, dem Hizbullah mit einer derart komplexen Operation zu schaden?

Der Hizbullah hat diesen Krieg begonnen

Die Durchführung dieser Angriffe erforderte eine jahrelange Planung, enormen personellen und materiellen Aufwand sowie strikte Geheimhaltung. Berichte lassen darauf schliessen, dass die mit Sprengstoff präparierten Kommunikationsgeräte wohl eigens als Fälschungen hergestellt und über ein Netzwerk von Tarnfirmen im Ausland dem Hizbullah angedreht wurden – diese Aktion beschämt sogar Hollywood.

Es dauerte nicht lange, bis die obligate Empörungswelle über Israel hereinbrach. Von «Massenmord» und «Terror» war die Rede, Israel wurde als «Aggressor» und «Brandstifter» verschrien. Zweifellos markieren die Angriffe eine neue Dimension in diesem seit Monaten schwelenden Konflikt, in dem die vielbeschworene «Eskalation» längst Tatsache ist. Israel und der Hizbullah liefern sich einen gefährlichen Tanz, der die ganze Region in den Abgrund stürzen kann.

Doch die Kritiker haben offenbar bereits vergessen, dass es der Hizbullah war – der von den USA und der EU notabene als Terrororganisation eingestuft wird –, der diesen Krieg am 8. Oktober begonnen hat. Er demonstriert durch täglichen Raketenbeschuss Israels seine Solidarität mit der mörderischen Hamas im Gazastreifen. Zehntausende Israeli wurden aus dem Norden des Landes vertrieben und müssen seit Monaten in anderen Landesteilen ausharren. Für einen souveränen Staat ist diese dramatische Situation nicht hinnehmbar.

Die Pager-Operation war ein zielgerichteter Schlag gegen die Terrormiliz. Aus Angst vor den israelischen Geheimdiensten hatte Nasrallah schon vor Monaten den Gebrauch von Mobiltelefonen untersagt und stattdessen Pager und Funkgeräte an seine Kommandanten und Kämpfer im ganzen Land verteilen lassen. Der Angriff traf folglich fast nur Hizbullah-Kämpfer und deckte darüber hinaus die (kaum überraschende) Verwicklung des iranischen Botschafters in die Aktivitäten der Miliz auf.

Zwar wurden auch unbeteiligte Personen verletzt oder getötet, unter ihnen Kinder – doch leider sind Kollateralschäden in einem Krieg nie ganz zu vermeiden. Gleichzeitig ist die Kommunikationstechnik des Gegners ein legitimes militärisches Ziel.

Panikreaktion oder Kalkül?

Dennoch drängen sich nun Fragen auf: Hat es sich bei den Angriffen lediglich um aufsehenerregendes Kriegsspektakel, um ein Muskelspiel der israelischen Geheimdienste gehandelt? Oder steckt auch ein strategisches Kalkül dahinter?

Laut diversen Medienberichten hatte Israel ursprünglich wohl geplant, dieses Mittel als Auftakt zu einem umfassenden Krieg gegen den Hizbullah einzusetzen. Doch offenbar drohte die Operation aufzufliegen, worauf die Israeli die Sprengsätze zündeten, um diese Option nicht endgültig aus der Hand zu geben.

Nun ist diese Karte gespielt, und der Nahe Osten wartet nervös auf das, was noch kommen mag. Das Überraschungsmoment ist zwar weitgehend verpufft, doch bleibt eine israelische Grossoffensive gegen die Schiitenmiliz denkbar: Die Drohkulisse ist aufgebaut, der Gegner geschwächt.

Die Zeichen stehen auf Krieg. In der israelischen Regierung scheint die Überzeugung heranzuwachsen, dass die Bedrohung aus Libanon nur mit militärischer Gewalt entschärft werden kann. Der Druck, der unhaltbaren Situation im Norden ein Ende zu setzen, wächst. Nach langem Zögern hat das Sicherheitskabinett zu Wochenbeginn die Rückkehr der Bewohner des Nordens in ihre Häuser zu einem offiziellen Kriegsziel erklärt.

Um dieses Ziel zu erreichen, bleiben eigentlich nur zwei Optionen: eine diplomatische Einigung mit dem Hizbullah, wie sie das Weisse Haus seit Monaten voranzutreiben versucht – oder ein umfassender Krieg.

Es gibt wenig zu gewinnen und viel zu verlieren

Die Vorzeichen für ein Abkommen stehen denkbar schlecht, zumal die Schiitenmiliz die Einstellung ihrer Angriffe an einen Waffenstillstand im Gazastreifen knüpft. Doch auch diese Bemühungen stecken seit Monaten fest, ein Durchbruch zeichnet sich nicht ab. Möglicherweise hat Israel darauf spekuliert, dass Nasrallah infolge der Pager-Blamage zurückkrebst und sich auch ohne Waffenruhe in Gaza auf eine diplomatische Lösung einlässt. Dafür gibt es jedoch keinerlei Anzeichen.

Selbst wenn ein Abkommen zustande käme, würde dies Israel keine nachhaltige Sicherheit bescheren. Der Hizbullah hat mehrfach bewiesen, dass seinen Versprechen nicht zu trauen ist. Entgegen der nach dem Libanon-Krieg von 2006 verabschiedeten Uno-Resolution hat er sich – im Gegensatz zu Israel – nicht zurückgezogen, sondern das südliche Libanon mit Hilfe aus Teheran in ein riesiges Waffenlager verwandelt, das wohl rund 150 000 Raketen umfasst. Wird nun eine erneute Vereinbarung das zerstörte Sicherheitsgefühl der Bewohner Nordisraels wiederherstellen? Wohl kaum.

Doch auch ein offener Krieg gegen die schiitischen Islamisten birgt enorme Risiken. Ein solcher könnte sich rasch zu einem regionalen Flächenbrand entwickeln, in dem Iran seinem libanesischen Schützling zur Seite springt. Dann wären wohl auch die USA zum Eingreifen gezwungen, die internationale Krise wäre perfekt.

Die Geschichte hat gezeigt, dass es im südlichen Libanon wenig zu gewinnen und viel zu verlieren gibt – und heute ist der Hizbullah deutlich stärker als im Krieg von 2006, der keinen Sieger hervorbrachte. Heute könnte die Miliz während Wochen jeden Tag Tausende von Raketen auf Israel feuern, die Flugabwehr überlasten und für verheerende Schäden und Tausende zivile Opfer im jüdischen Staat sorgen. Auch für Libanon wäre ein solcher Krieg katastrophal.

Der Wunschtraum des Hamas-Chefs

Ein schneller und entscheidender Sieg gegen den Hizbullah ist eine Illusion. Eine umfassende Offensive oder auch nur schon die Schaffung einer Pufferzone brächten lange und verlustreiche Kämpfe in den unzugänglichen südlibanesischen Hügeln mit sich, wo Tunnel, Bunker und moderne Waffensysteme auf die israelische Armee warten.

Darüber hinaus ist offen, ob Israel einen Doppelkrieg gegen die Hamas im Süden und den Hizbullah im Norden zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt bewältigen könnte. Was die Armee in den vergangenen Jahren in die Luftwaffe und in die Flugabwehr investiert hat, wurde bei den Bodentruppen eingespart. Die seit bald einem Jahr im Gazastreifen kämpfenden Reservisten sind erschöpft, die Munitionsvorräte schwinden, und der Reparaturbedarf ist hoch.

Israels Dilemma wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass es noch keinen Ausweg aus der Hölle von Gaza gefunden hat. Verlegt die Armee nun das Schwergewicht ihrer Kräfte in den Norden, rücken der Sieg über die Hamas und die Befreiung der Geiseln in noch weitere Ferne. Der lachende Dritte wäre der Hamas-Chef Yahya Sinwar – ein Jahr nach dem Massaker des 7. Oktobers könnte seine Vision eines Mehrfrontenkriegs gegen Israel doch noch in Erfüllung gehen.

Der Grat zwischen Krieg und Frieden ist in den vergangenen Tagen noch einmal schmaler geworden. Gute Optionen hat Israel nicht. Auch das filmreife Pager-Spektakel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der jüdische Staat nun vor allem eine umfassende Strategie braucht, die nicht mitten ins Chaos führt, sondern eine neue regionale Sicherheitsarchitektur hervorbringt. Mit militärischer Gewalt allein lässt sich dies wohl nicht erreichen.

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