Donnerstag, September 19

20 Millionen Schiiten kommen während Arbain in die irakische Stadt Kerbala. Es ist die grösste jährliche Pilgerreise der Welt. Der schiitische Zusammenhalt, der hier beschworen wird, hat Auswirkungen auf die ganze Region.

Durst ist das Letzte, was einem Gast auf der Pilgerfahrt widerfahren darf. Alle paar Meter drücken daher Freiwillige den schiitischen Pilgern auf dem Marsch durch die heisse südirakische Tiefebene Becher in die Hand. Es gibt Wasser, Schwarztee, Saft in den grellsten Farben, Safransirup und manchmal sogar Coca-Cola. «Tfazal ya zair» ist der Schlachtruf, mit dem sich die Freiwilligen gegen den Strom aus schwarzen T-Shirts und Ganzkörperschleiern stellen und Brötchen und Kebabspiesse an die Pilger verteilen. «Greif zu, o Besucher!»

Zäh, aber hartnäckig bewegt sich der Menschenstrom voran durch die Wüste im Südirak. Der Pilgerweg vom Imam-Ali-Schrein in Najaf zum Imam-Hossein-Schrein in Kerbala verläuft gerade wie ein Lineal nach Norden, 80 Kilometer entlang einer vielbefahrenen irakischen Staatsstrasse. Es ist ein Menschenzug biblischen Ausmasses, unter den Pilgern sind Frauen mit Neugeborenen, Greise und kräftige Männer, die kranke Angehörige auf Rollstühlen schieben.

Die Pilger kommen aus aller Welt, aus Iran, Jemen, Pakistan, aber auch aus den USA, Deutschland und Australien. «Labaike ya Hossein! Labaike ya Hossein!», so feuern einheimische Kinder die Kohorten aus Pilgern an. «Wir stehen bereit für dich, o Hossein!» Er ist der Grund, warum die Millionen gekommen sind.

Die Erinnerung an die Schlacht ist noch immer lebendig

Imam Hossein war der Enkel von Prophet Mohammed, der im Jahr 680 nach Christus mit wenigen Getreuen gegen die übermächtigen Truppen des Kalifen Yazids in den Kampf zog. Dieser machte in der Schlacht von Kerbala kurzen Prozess. Hossein wurde geköpft, seine Frauen versklavt. Am vierzigsten Tag nach Imam Hosseins Todestag wird Arbain gefeiert. Dieses Jahr fiel es nach dem islamischen Mondkalender auf den 25. August. Dazu pilgerten 20 Millionen Schiiten zu seinem Grabmal in Kerbala, wie die Schreinverwaltung mitteilte.

Für sie bleibt Hosseins Martyrium brandaktuell. Sie schlagen sich zur Zeichen der Trauer auf die Brust, weinen, schwärmen von Hosseins Güte, als hätten sie ihn persönlich gekannt. Die verlorene Schlacht ist der grosse Gründungsmythos der Schiiten. Im Gegensatz zu den Sunniten sahen die Schiiten Yazids Machtanspruch als illegitim und bestanden auf einem Kalifen aus der Familie Mohammeds. Mit der Niederlage von Kerbala schien ihr Anliegen gescheitert.

Doch dann geschah das Unerwartete: Die Berichte über Hosseins Tapferkeit veranlassten Tausende Muslime, zu den Schiiten überzulaufen. Ausgerechnet ihre grösste Niederlage bewahrte die Schiiten vor der Bedeutungslosigkeit. Doch der Streit darum, wer der rechtmässige Nachfolger Mohammeds ist, blieb. Er begründet bis heute die Kluft zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen, zwischen dem Norden und dem Süden Iraks, zwischen Iran und Saudiarabien.

Die Pilgerreise ist perfekt organisiert

Das eigentliche Wunder findet aber in der Gegenwart statt. Millionen Menschen, die innerhalb weniger Tage nach Kerbala pilgern, die meisten von ihnen zu Fuss, bei knapp 50 Grad im Schatten. Alle brauchen Wasser, Nahrung, Toiletten, Abkühlung, Transport und Schlafplätze. Während beim Hajj in Mekka, an dem dieses Jahr 1,83 Millionen Pilger teilnahmen, über 1300 an der Hitze starben, gab es bei der Pilgerfahrt nach Kerbala dieses Jahr keine grösseren Zwischenfälle.

Die Versorgung ist nahezu lückenlos. Am Strassenrand stehen klimatisierte Hallen, Schlafräume und Toiletten. In regelmässigen Abständen trifft man auf Arztstationen, an denen sich die Pilger durchchecken lassen können. Zudem stehen freiwillige Masseure bereit, die verkrampfte Waden kneten. Alles kostenlos.

Diese organisatorische Leistung überrascht. Die staatlichen Strukturen im Irak sind marode, Misswirtschaft und Korruption sind endemisch. Laut dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegte der Irak im Jahr 2023 Platz 154 von 180 Ländern. Doch in Kerbala ist davon kaum etwas zu spüren.

«Nirgends in der Welt wäre ein Event dieses Ausmasses denkbar, nicht einmal in den USA», schwärmt Imran Kazmi, ein pakistanischer Pilger, der seine Ferien dazu genutzt hat, nach Kerbala zu reisen. «Es ist egal, wie arm du bist, die Iraker füttern dich durch.»

Der Glauben ist das wichtigste Kapital

Möglich wird das Ganze durch den pausenlosen Einsatz Zehntausender Freiwilliger. Einer von ihnen ist Haidar al-Helo. Er ist 26 Jahre alt, lebt halb im Irak und halb in Kopenhagen und hat sich in diesem Jahr einen langjährigen Traum verwirklicht: Gemeinsam mit irakischen Freunden hat er einen Mokeb genannten Stand errichtet, an dem sie Pilger versorgen. Er besteht aus einem klimatisierten Zelt mit sechzehn Matratzen und Decken, für die Gäste bereiten Helo und seine Freunde Fisch, Kebab, Pommes frites und Hühnchen zu.

Motiviert ist die Grosszügigkeit im Diesseits durch Eigennutz im Jenseits. «Ich schlafe seit zwei Wochen nur noch vier Stunden am Tag, und trotzdem werde ich nicht müde, weil ich all das für Imam Hossein mache und für mein Leben nach dem Tod», sagt Helo, dessen Familie aus Najaf kurz nach dem Golfkrieg in den neunziger Jahren nach Dänemark geflohen ist. «Unsere Arbeit ist wie eine grosse Investition, wir bekommen von Allah alles tausendfach zurück.»

Ein Mokeb, wie Helo es führt, kostet leicht über 10 000 Euro. Das Geld stammt von privaten Spendern in Dänemark. Sie hatten keine Zeit, selbst nach Kerbala zu pilgern, und sorgen auf diese Weise für ihr Seelenheil vor. Etwa 2000 Euro bleiben in diesem Jahr übrig. Helo und seine Mitstreiter wollen das Geld fürs nächste Jahr aufbewahren. Wenn es für Imam Hossein ist, kommt jeder Cent genau da an, wo er hingehört.

Unter Saddam Hussein war Arbain verboten

Als Massenphänomen ist die Pilgerfahrt nach Kerbala eine Erfindung der letzten zwanzig Jahre. Die älteren Iraker, die in Helos Mokeb mithelfen, erinnern sich noch gut, wie gefährlich die Wanderung früher war, unter Saddam Hussein. Arbain zu feiern, war bis zu seinem Sturz im Jahr 2003 streng verboten. Der sunnitische Diktator fürchtete, dass die Schiiten, die im Irak rund 63 Prozent der Bevölkerung ausmachen, die Veranstaltung zu politischen Zwecken nutzen könnten.

Die wenigen tausend hartgesottenen Gläubigen stapften damals durch den Schlamm des Euphrats, versteckten sich hinter Palmen und Gebüsch vor der Polizei. Wer erwischt wurde, behauptete, dass er für einheimische Bauern auf dem Feld arbeite, und hoffte, dass die Polizisten die Lüge glauben würden. Sonst drohten mehrere Jahrzehnte im Gefängnis.

Nach dem Sturz Saddam Husseins drehte sich der Wind. Noch im Jahr 2003 nahmen Hunderttausende Schiiten an der ersten legalen Arbain-Pilgerwanderung teil. Seitdem sind die Pilgerzahlen rasant angewachsen. Nachdem sich die Schiiten in den Bürgerkriegen gegen die Amerikaner, al-Kaida und den Islamischen Staat behauptet haben, dominieren sie heute die irakische Politik.

Die Schiiten zeigen: Wir sind viele

Die letzte grosse Herausforderung für die Schiiten kam vor knapp zehn Jahren, als die sunnitischen Extremisten des Islamischen Staats zum Sturm auf die Hauptstadt Bagdad ansetzten. Damals rief Ali al-Sistani, das religiöse Oberhaupt der Schiiten im Irak, in einer Fatwa alle politischen Gruppen im Irak zum Jihad gegen den IS auf. Zehntausende Schiiten folgten seinem Ruf.

Es seien vor allem Arbain-Pilger gewesen, die sich freiwillig gemeldet hätten, sagt Abbas Majed-Khorshid, ein ehrenamtlicher Mitarbeiter des Imam-Hossein-Schreins. «Wer für Imam Hossein bereitstand, stand nun auch für den Jihad gegen den IS bereit.» Die Stärkung der schiitischen Identität und des schiitischen Kampfgeists ist der Grund, warum aus der lokalen irakischen Volkstradition Arbain binnen weniger Jahre ein Grossevent von globaler Bedeutung geworden ist.

Heute sind die Massen in Kerbala auch eine Machtdemonstration der Schiiten, die sonst in der islamischen Welt in der Minderheit sind. Die Botschaft geht vor allem an die irakischen Sunniten, die sie lange unterdrückt haben: Nehmt euch in acht, wir Schiiten sind viele. Die Botschaft geht aber auch über den Irak hinaus. Dabei hat ein Akteur besonders viel in diese Entwicklung investiert: das Regime in Teheran.

Ayatollah Ali Khamenei, der Revolutionsführer der Islamischen Republik Iran, nannte die Pilgerfahrt in einer Rede 2019 eine «riesige und erstaunliche Demonstration der Einheit» unter den Schiiten. Allein 2024 gab Iran nach eigenen Angaben 230 Millionen Euro aus, um die Pilgerfahrt logistisch zu unterstützen. Iraner klagten während Arbain über geschlossene Bäckereien, da die Regierung grosse Mengen Mehl in den Irak geschickt hatte, um die Pilger zu versorgen.

Iran nutzt die Pilgerfahrt für die eigenen Zwecke

Die Islamische Republik hat bei der Förderung der Pilgerfahrt nach Kerbala ganz irdische Ziele im Blick. Einerseits ist Kerbala auch für die Islamische Republik eine Gelegenheit, ihre Macht zu demonstrieren. Die Botschaft geht, ähnlich wie im Irak, an die Gegner im eigenen Land: Nehmt euch in acht, Säkulare, wir Strenggläubigen sind viele.

Andererseits ist der Irak eine wichtige Säule der «Achse des Widerstands», jenes transnationalen Netzwerks schiitischer Gruppen, durch die das iranische Regime seine Macht in der Region projiziert und den Erzfeind Israel bekämpft. Sistanis Aufruf zum Kampf gegen den IS hat Iran genutzt, um im Irak Dutzende proiranische Milizen aufzurüsten. Heute sind sie als Teil des Milizenbündnisses Hashd al-Shaabi in den irakischen Staat integriert.

Und doch hat die «Achse des Widerstands» ein Problem im Irak. Die Iran-treuen Milizen sind in der breiten Bevölkerung höchst unbeliebt. 2019 protestierten Zehntausende gegen ihren Einfluss in der Politik. Auch folgen die meisten irakischen Schiiten in politischen Fragen Sistani, der eine Theokratie nach iranischem Vorbild strikt ablehnt. «Solange ich am Leben bin, wird das iranische Experiment im Irak nicht wiederholt», sagte der betagte Ayatollah 2004.

Irans Propaganda ist allgegenwärtig

Irans Bemühen, sein Image aufzupolieren, ist zu Arbain allgegenwärtig. Wer den Weg von Najaf nach Kerbala geht, wandert drei Tage lang an politischen Symbolen vorbei. Eine lebensgrosse Pappfigur des iranischen Generals Kassem Soleimani, der im Januar 2020 von den USA in Bagdad getötet worden ist, lädt zu Selfies ein. Pavillons der Hashd al-Shaabi preisen Irans Beitrag im Kampf gegen den IS, und am Wegesrand stehen Abfalleimer mit aufgemalten Zionisten-Sternen.

Erst in der Moschee des Imam-Hossein-Schreins reisst die Flut der politisch-religiösen Propaganda ab. Der mit silbernen Reliefs dekorierte Sarkophag unter einer goldenen Kuppel ist das finale Ziel der tagelangen Arbain-Wanderung. Hunderte Gläubige drängen dicht and dicht und mit aller Kraft zum Schrein. Wer starke Ellenbogen hat, nutzt sie gegen die Schwächeren. Den Schrein zu berühren, so glauben die Pilger, bringt sie ihrem Seelenheil ein grosses Stück näher. Sie rufen «Labaike ya Hossein» – wir sind bereit für dich, Hossein.

Die Atmosphäre ist von religiösem Eifer erfüllt, doch selbst hier bleibt die Politik präsent. In einer Ecke des Raums stimmt eine Pilgergruppe wehmütige Lieder für Imam Hossein an. Ein Sänger trägt das Konterfei Hassan Nasrallahs, des Anführers des Hizbullah, auf seinem T-Shirt. Es ist der 25. August, die schiitische Miliz hat gerade von ihren Hochburgen in Südlibanon aus mehr als 300 Drohnen und Raketen auf Israel abgefeuert. Ein Pilger legt seine Hand auf die Brust des Sängers, wo Nasrallahs Gesicht aufgedruckt ist, und streichelt sie zärtlich.

Mitarbeit: Moamel Haydari. Diese Reportage wurde finanziell durch den Medienfonds «real 21 – die Welt verstehen» unterstützt.

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