Die erzkonservative Gemeinschaft, die sich von der Schweiz aus weltweit verbreitet hat, sieht sich heftigen Vorwürfen ausgesetzt.
Die Schule sieht von aussen unverdächtig aus, und sie hat einen poetischen Namen: Fleurs de mai, Maiglöckchen. Doch hinter den Mauern der Schule in Riddes, einer Gemeinde zwischen Sion und Martigny, spielten sich üble Szenen ab. Kürzlich berichtete der Walliser Journalist François de Riedmatten in der Zeitung «Le Temps» von seinem Martyrium: Er sei als Siebenjähriger vor seiner ganzen Klasse mit Stöcken geschlagen worden – mit heruntergelassener Hose. Das war in den Neunzigerjahren.
Das Schicksal von François de Riedmatten ist Teil einer umfassenden Recherche über die Machenschaften der umstrittenen Piusbruderschaft, zu der die Schule gehört. Der Walliser Bildungsminister Christophe Darbellay schickte deshalb Inspektoren los. Sie sollten herausfinden, ob es in der Schule weiterhin zu demütigenden Szenen kommt. Die Verantwortlichen weisen das weit von sich. Es müssten auch alle Mitarbeiter Strafregisterauszüge vorlegen, beteuern sie.
Die Bruderschaft St. Pius X (FSSPX), so der offizielle Name, steht derzeit nicht nur wegen der Vorgänge in Fleurs de mai unter Rechtfertigungsdruck. Denn «Le Temps» hat aufgedeckt, dass es innerhalb der Priestervereinigung zu zahlreichen Fällen von Kindsmissbrauch, zu sexueller, physischer und psychischer Gewalt gekommen ist. Und dass diese Fälle, die sich über Jahrzehnte hinweg und in verschiedenen Ländern dokumentieren lassen, systematisch vertuscht wurden.
Alles gewusst, nichts gemacht
Eine belgische Mutter berichtet beispielsweise, wie ein Pius-Priester aus dem Wallis sich im Jahr 2010 in Brüssel im Schlafsaal seiner Schüler mehrmals an ihrem damals neunjährigen Sohn vergangen hat. Die belgische Justiz verurteilte den Priester 2017 zu einer dreijährigen Haftstrafe. Bereits zuvor hatte die Piusbruderschaft gewusst, dass der Mann unter dem Verdacht stand, im Wallis ein Kind missbraucht zu haben. Doch sie meldete ihn nie an die Justiz, versetzte ihn einfach nach Belgien. «Wie kann es sein, dass man solche Pädophilen in einer Schule arbeiten lässt?», fragt die Mutter. «Wer hat das verantwortet? Und warum?»
Opferverbände schätzen, dass fast jeder Zehnte der 700 Priester der Bruderschaft schon übergriffig geworden sei. Doch über all diesen Fällen liege ein «Schleier des Schweigens», der nur schwer gelüftet werden könne, konstatiert «Le Temps». Um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, hilft ein Blick in die stürmische Geschichte der Piusbrüder. Eine Geschichte, die stets auch stark mit der Schweiz verknüpft war.
Gegründet hat die Gemeinschaft 1970 der französische Erzbischof Marcel Lefebvre (weshalb zuweilen auch von «Lefebvristen» die Rede ist) im Weiler Ecône bei Riddes. Es war eine Reaktion auf das Zweite Vatikanische Konzil, das in den Sechzigerjahren frischen Wind in die katholische Kirche brachte – sehr zum Missfallen von reaktionären Klerikern wie Lefebvre. Er und seine Mitstreiter lehnten die meisten Neuerungen des Konzils ab. Bedauerlicherweise hätten sich in dessen Folge «zahlreiche verworrene, falsche Ideen in die Mitte der katholischen Kirche geschlichen», schreibt die Piusbruderschaft.
Ihre Mitglieder empfanden die Anerkennung der Religionsfreiheit ebenso wie die Anerkennung des Judentums als Anpassung an den «relativistischen Zeitgeist». Die Ökumene mit anderen christlichen Konfessionen ist für sie eine Verbrüderung mit «Schismatikern» oder sogar «Ungläubigen». Auch gegen flachere Hierarchien in der Kirche und demokratischere Entscheidungsprozesse wehren sich die Piusbrüder, weil dadurch die Autorität des Papstes unterminiert werde.
Mit dem Rücken zum Volk
Sichtbarstes Zeichen ihres Widerstandes ist das Festhalten an der «alten» tridentinischen Messe, die vor dem Konzil der Sechzigerjahre üblich war, die der Vatikan aber nur noch in Ausnahmesituationen duldet. Anders als mittlerweile in katholischen Kirchen üblich, zelebrieren die Piusbrüder die Messe mit dem Rücken zur Gemeinde und auf Latein, auf den Kirchenbänken sitzen Männer und Frauen getrennt.
Für die Piusbrüder ist diese Form der Messe ein «Gesamtkunstwerk, dem in jeder noch so beiläufig wirkenden Geste ein tieferer Sinn zur Verehrung Gottes innewohnt». Für Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Luzern, zeigt sich an der tridentinischen Messe hingegen, wie abgewandt von der Welt die Piusbrüder sind. «Die Laien in der Gemeinde sind nicht Akteure in der Messe, sondern passive Empfänger der Gnadenwirkung, die der Priester mit der Messe hervorruft – fast wie bei Tieropfern in der Antike. Deshalb ist es auch nicht nötig, dass die Messbesucher sein Gesicht sehen und dass sie verstehen, was er sagt.»
Der Vatikan gratulierte 1970 noch zur Gründung der Bruderschaft, doch das Verhältnis kühlte sich schnell ab. In einer Grundsatzerklärung schrieb Lefebvre 1974, die Reform des Konzils sei vom Liberalismus und vom Modernismus vergiftet, sie führe zur Häresie. Deshalb sei es jedem wachen und treuen Katholiken unmöglich, diese Reform anzunehmen. Die Piusbrüder meinen, sie seien katholischer als der Papst. Weil sich Lefebvre weigerte, seine Erklärung zu widerrufen, entzog Rom der Piusbruderschaft die Anerkennung. Und damit auch das Recht, eigene Priester und Bischöfe zu weihen.
Exkommuniziert und rehabilitiert
Darüber setzte sich Lefebvre jedoch hinweg, 1988 weihte er vier Bischöfe, unter ihnen der Engländer Richard Williamson und der Walliser Bernard Fellay. Papst Johannes Paul II. sah darin einen schismatischen Akt, deshalb exkommunizierte er Lefebvre und alle seine Piusbischöfe. Erst 21 Jahre später hob Benedikt XVI. die Exkommunikation wieder auf – auf Bitte von Fellay, der seit 1994 der Chef der Piusbrüder war.
Der deutsche Papst wollte die Kirchenspaltung überwinden. Doch er übersah, wie stark antisemitisch Teile der Bruderschaft waren, für sie sind die Juden «Gottesmörder». Weltweite Proteste löste Bischof Williamson aus, indem er den Holocaust leugnete: Niemand sei in den Gaskammern getötet worden, das sei alles eine Erfindung der Juden gewesen. Die Piusbrüder warfen Williams 2012 aus der Gemeinschaft, das Verhältnis zum Vatikan ist indes bis heute kompliziert. Mal versucht Franziskus, die Piusbrüder mit barmherzigen Gesten wieder der Kirche anzunähern – so anerkennt der Vatikan seit 2017 wieder Eheschliessungen durch Priester der Bruderschaft, – mal geht er deutlich auf Distanz zu ihnen.
2018 beerbte der Italiener Davide Pagliarani den Walliser Fellay an der Spitze der Gemeinschaft, doch ihr Machtzentrum liegt nach wie vor in der Schweiz: Das Generalhaus, der Sitz des Generaloberen, steht in Menzingen im Kanton Zug. Und auch an der rückwärtsgewandten Gesinnung der Gemeinschaft, die weltweit rund 600 000 Anhänger zählt, hat sich nie etwas geändert.
Was den Missbrauch begünstigt
So überrascht der jüngste Missbrauchsskandal kaum. Denn alle Faktoren, welche die Übergriffe in der katholischen Kirche in den vergangenen Jahrzehnten begünstigt haben, sind bei den Piusbrüdern heute noch vorhanden – und dies teilweise in noch grösserem Ausmass als in der Weltkirche. So die Abkapselung von der säkularen Aussenwelt, die die Piusbrüder als dekadent und feindlich wahrnehmen. Das erhöht kaum die Bereitschaft, mit der weltlichen Justiz zusammenzuarbeiten – auch wenn die Bruderschaft beteuert, genau dies stets zu tun.
Oder die überhöhte Stellung des Priesters: Er ist der Repräsentant von Christus auf Erden. Wie sollte so jemand sündigen können? «Ich glaubte immer, die Priester seien wie Engel», berichtete ein früheres Mitglied der Bruderschaft den «Le Temps»-Journalisten. «Man erzählte uns, dass die normalen Gläubigen ihren Trieben ausgesetzt seien, während der zölibatär lebende Priester davon befreit sei.»
Diese Verklärung und eine allgemeine Tabuisierung der Sexualität erschweren es den Opfern von Missbrauch, über das Erlebte zu sprechen. Zudem ist die Gefahr gross, dass die Eltern nichts davon hören wollen. «Glauben die Eltern ihrem Kind, stellt das alles infrage, woran sie glauben», sagt Benjamin Effa, der Sprecher der Vereinigung der Opfer der Piusbruderschaft. «Also sagen sie dem Kind, es solle schweigen.» Würden sie gegen den Täter vorgehen, könne dies die Verbannung aus der Gemeinschaft nach sich ziehen.
Klima des Wegschauens
So herrscht ein Klima des Wegschauens auf allen Ebenen. Schliesslich geht es darum, das Bild der Bruderschaft nicht zu beschmutzen. Mit den Medien sprechen die Verantwortlichen kaum, auch die «Le Temps»-Journalisten erhielten keine direkten Antworten auf ihre Fragen. Gegenüber der NZZ begründet die Bruderschaft dies mit dem Schutz der Opfer, denen «in diesen besonders schmerzhaften Fällen» die Hauptsorge der Gemeinschaft gelte. Es brauche dafür grösstmögliche Diskretion.
Die Bruderschaft betont, es gelte bei ihr die Regel, dass jeder Missbrauchsfall, von dem ihre Oberen erfahren, behandelt werden müsse. «Kein Fall wird vertuscht. Ganz im Gegenteil, wir ermutigen alle Personen nachdrücklich, die Justizbehörden und uns über Fälle zu informieren, von denen sie Kenntnis haben.»
Ganz anders sieht das der Schweizer Kirchenkenner Urban Fink. «Die Piusbruderschaft setzt vorkonziliär die Wahrheit über die Person, was repressionsförderlich ist», sagt er. Den Mitgliedern würden absolute Wahrheiten eingetrichtert, wer daran zweifle, sei verloren. «In einem solchen Umfeld ist die Gefahr von geistlichem und sexuellem Missbrauch gross.»
Fink sagt, in der Deutschschweiz hätten die Piusbrüder nur wenig Ausstrahlung, obwohl ihr Hauptsitz hier liege. «Sie gehören eher zum romanischen Kulturkreis und haben viele Anhänger in der Romandie, in Frankreich oder Belgien.» Die wenigen Mitglieder in den deutschsprachigen Kantonen würden wohl kaum verstehen, wofür die Bruderschaft genau stehe. «Es sind vor allem Leute, die der alten Liturgie nachtrauern.»
Es gibt allerdings das Knabeninstitut der Piusbruderschaft in Wangs im Kanton St. Gallen. Dieses hat einen prominenten Bewohner: den früheren Churer Bischof Vitus Huonder. Er machte bei seinem Umzug nach Wangs 2019 geltend, er habe vom Papst den Auftrag erhalten, die Beziehungen zu den Piusbrüdern aufrechtzuerhalten. Doch kurz darauf wollte der Vatikan von einem solchen Auftrag nichts mehr wissen.
Massive Vorwürfe gegen den Papst
Für Reformkatholiken war es ein fatales Zeichen, dass Huonder zu den Piusbrüdern ging, die ausserhalb der Kirche stehen und von manchen sogar selbst als Häretiker betrachtet werden. Immerhin sahen sich Huonders Kritiker in der Ansicht bestätigt, dass der Oberhirte den Piusbrüdern ideologisch sehr nahesteht. Im Mai 2023 warf Huonder in einem Video Papst Franziskus eine «Hetzjagd» gegen die Traditionalisten vor. Den Ausschluss der Piusbrüder bezeichnete Huonder als «offene Wunde» der römisch-katholischen Kirche – und verlangte vom Papst, dass er sich bei den Piusbrüdern entschuldigt.
Das wird nicht passieren. Und auch die Art, wie die Piusbrüder den jüngsten Missbrauchsskandal handhaben, dürfte die Beziehungen kaum verbessern. Schliesslich hat Franziskus immer wieder betont, wie wichtig ihm der Kampf gegen die sexuellen Übergriffe in der Kirche ist.