Mittwoch, April 2

Das Cern legt eine Machbarkeitsstudie für den Future Circular Collider vor. Das wird den Streit um die zukünftige Ausrichtung der europäischen Teilchenphysik nicht entschärfen.

Das Cern in Genf ist das weltweit grösste Laboratorium für Teilchenphysik. Ob es das auch in Zukunft bleiben wird, entscheidet sich in den nächsten zwei bis drei Jahren. Dann muss das Cern bestimmen, welcher Teilchenbeschleuniger nach 2040 die Nachfolge des Large Hadron Collider (LHC) antreten soll, mit dem 2012 das Higgs-Teilchen entdeckt wurde.

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Viele Physiker in Europa favorisieren den Bau eines ringförmigen Beschleunigers, der in einer ersten Phase Elektronen und ihre Antiteilchen und ab 2070 Protonen zur Kollision bringen soll. Für diesen Future Circular Collider (FCC) müsste man einen neuen, 91 Kilometer langen Ringtunnel graben, der unter Frankreich und der Schweiz verläuft.

Eine am Montag veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass der Bau eines solchen Beschleunigers prinzipiell machbar wäre. Das verschafft dem FCC eine gute Ausgangsposition im Rennen um den nächsten Beschleuniger am Cern – mehr aber auch nicht.

Der Tunnel für den FCC verläuft unter dem Genfersee

Für die Machbarkeitsstudie wurden rund hundert Tunnelvarianten untersucht. Um die Stabilität und die Schichtung des Untergrundes zu beurteilen, wurden seismische Messungen und erste Probebohrungen auf französischer Seite durchgeführt. In den nächsten Monaten sollen solche Bohrungen auch in der Schweiz stattfinden. Berücksichtigt wurde aber auch, wie gross die Auswirkungen der Tunnelbohrungen auf Flora und Fauna sind, wie gut die Baustellen durch Strassen erschlossen sind und ob genug Wasser und Strom vorhanden sind.

Die favorisierte Tunnelvariante verläuft in einer durchschnittlichen Tiefe von 200 Metern und geht unter dem Genfersee und dem Rhonetal hindurch. Der Untergrund besteht hauptsächlich aus Sedimentgestein, das sich gut mit Tunnelbohrmaschinen ausheben lässt. Nur an einer Stelle durchquert der Tunnel eine Schicht aus Karstgestein, die schwieriger zu durchbohren ist.

Bei der Bohrung fällt ein Aushub von acht Millionen Kubikmetern Gestein an. Das entspricht ungefähr dem Volumen von drei Cheops-Pyramiden. Derzeit laufen Untersuchungen, wie sich dieses Gestein in fruchtbaren Boden für die Landwirtschaft und andere Zwecke umwandeln lässt.

In der Machbarkeitsstudie wird auch der Strom- und Wasserverbrauch des neuen Beschleunigers abgeschätzt. Derzeit verbraucht das Cern 1,3 Terawattstunden Strom pro Jahr, etwa halb so viel wie der gesamte Kanton Genf. Mit dem FCC wären es mehr. Alleine der FCC würde zwischen 1,1 und 1,8 Terawattstunden Strom pro Jahr verbrauchen. Dazu kämen ungefähr 0,5 Terawattstunden für den Betrieb des Cern.

Der französische Stromnetzbetreiber RTE hat zugesagt, dass er diese Strommenge liefern kann, ohne das Netz ausbauen zu müssen. Auch der Wasserbedarf des neuen Beschleunigers –vornehmlich für die Kühlung der Magnete – liesse sich mit der bestehenden Infrastruktur decken.

Teilchenphysiker streiten über das beste Konzept

Dass der FCC technisch und geologisch machbar wäre, ist allerdings noch kein Freibrief für seinen Bau. Denn es gibt konkurrierende Konzepte für den nächsten Cern-Beschleuniger. So gibt es den Vorschlag, einen etwa 50 Kilometer langen Linearbeschleuniger zu bauen, der Elektronen und Positronen auf hohe Energien beschleunigt. Andere Forscher überlegen, ob sich in dem bereits existierenden Tunnel des LHC ein Beschleuniger unterbringen liesse, der energiereicher ist als der LHC.

Selbst die Fürsprecher des Future Circular Collider sind sich nicht einig, ob das zweistufige Vorgehen – erst Elektron-Positron-Collider, dann Proton-Proton-Collider – sinnvoll ist. Manche von ihnen sähen es lieber, wenn man direkt einen Proton-Proton-Collider im Tunnel bauen würde. Dafür fehlt bis heute allerdings die Magnettechnologie. Nicht zu vergessen sind jene Teilchenphysiker, die den Bau eines neuen Grossbeschleunigers grundsätzlich ablehnen. Wohl nicht ganz zu Unrecht befürchten sie, dass dann kein Geld mehr für kleinere teilchenphysikalische Experimente übrig bleibt.

Das Cern steht nun vor der undankbaren Aufgabe, aus dieser Gemengelage eine Strategie zu entwickeln, die von möglichst vielen Physikern mitgetragen wird. Dazu hat das Cern eine Expertengruppe beauftragt, die europäische Strategie für Teilchenphysik zu aktualisieren. Das ist das letzte Mal 2020 geschehen.

Bis Januar 2026 hat die Gruppe Zeit, die bestehenden Konzepte zu begutachten. Dann soll sie dem Cern-Rat einen Vorschlag unterbreiten, welches die bevorzugte Option für den nächsten Collider am Cern ist. In diesem Gremium sind die Mitgliedsländer des Cern vertreten. Eine endgültige Entscheidung des Cern-Rats wird frühestens im Jahr 2027 erwartet. Sollte die Wahl auf den Future Circular Collider fallen, könnten die Bauarbeiten Anfang der 2030er Jahre beginnen.

Dass sich das Cern mit einer Entscheidung schwertut, hat auch mit den bisherigen Resultaten des Large Hadron Collider zu tun. Mit diesem Beschleuniger wurde zwar das Higgs-Teilchen entdeckt, das gewissermassen das letzte noch fehlende Puzzleteil im Standardmodell war. Eigentlich hatte man aber gehofft, der LHC werde Abweichungen von diesem Modell finden. Dann hätte man danach mit einem neuen Beschleuniger gezielter nach «neuer Physik» suchen können.

Zum Leidwesen der Teilchenphysiker ist das nicht geschehen. Der LHC hat keine experimentellen Hinweise geliefert, wie ein umfassenderes Modell aussehen könnte. Dass es ein solches Modell geben muss, ist unbestritten. Denn das Standardmodell kann zum Beispiel nicht erklären, woraus die Dunkle Materie im Universum besteht und warum beim Urknall mehr Materie als Antimaterie erzeugt wurde.

Der Physiker Hans-Peter Beck vergleicht das Standardmodell der Teilchenphysik mit der Annahme, die Erde sei flach. Auf der Skala eines Fussballfeldes funktioniere diese Annahme sehr gut. Dass die Erde gekrümmt sei, merke man nur dann, wenn man auf dem Fussballfeld sehr präzise Messungen vornehme oder aber die Skala erweitere.

Diese Doppelstrategie verfolgt auch der FCC. Der Elektron-Positron-Collider, der in der ersten Phase im Tunnel gebaut werden soll, dient vor allem dazu, das Standardmodell durch präzise Messungen zu überprüfen. In der zweiten Phase soll dann ein Proton-Proton-Beschleuniger mit einer Kollisionsenergie von 100 Teraelektronenvolt zum Zug kommen. Das ist achtmal so viel wie beim LHC. Bildlich gesprochen macht man also das Fussballfeld grösser, um die Krümmung der Erde sichtbar zu machen.

Es gebe keine Garantie, mit dem FCC etwas Neues zu entdecken, sagt Beck. Seiner Meinung nach habe dieser Beschleuniger aber von allen Konzepten das grösste Entdeckungspotenzial. Beck ist einer der Autoren der Machbarkeitsstudie.

Am Ende entscheidet das Geld

Am Ende dürfte allerdings nicht nur die Physik darüber entscheiden, wie es am Cern weitergeht. Teilchenphysik ist teuer. Für die erste Stufe des Future Circular Collider werden über einen Zeitraum von 12 Jahren Kosten von 15 Milliarden Franken veranschlagt. Das umfasst die Kosten für den Bau des Tunnels, der Infrastruktur, des Beschleunigers und von vier Detektoren. Damit wäre die erste Stufe des FCC ungefähr dreimal so teuer wie der Large Hadron Collider.

Derzeit beträgt das gesamte Budget des Cern 1,2 Milliarden Franken pro Jahr. Der FCC wird sich deshalb nicht vollständig aus dem laufenden Etat bestreiten lassen. Die Bereitschaft der Mitgliedsländer, ihre Beiträge zu erhöhen, dürfte sich allerdings in Grenzen halten. Deutschland, einer der grössten Beitragszahler, hat vor einem Jahr bereits Vorbehalte angemeldet. Unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen sei das Land nicht in der Lage, die geplanten Mittel für den FCC bereitzustellen.

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