Freitag, August 22

In den Wäldern rund um die bosnische Kleinstadt Srebrenica brachte im Sommer 1995 eine entfesselte serbisch-bosnische Miliz alle bosniakischen Männer um, deren sie habhaft geworden war. Die Wunden vom Völkermord sind noch immer nicht verheilt.

«Wir Serben akzeptieren die Lüge vom Genozid nicht», sagt Aleksandar Mladjenović, Priester der serbischen-orthodoxen Kirche in Srebrenica, ohne Umschweife. «Uns schmerzt vor allem, dass niemand das Leiden des serbischen Volkes sieht.» Im Bosnienkrieg der neunziger Jahre hätten schliesslich alle gelitten, doch verurteilt habe man nur die Serben.

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Mladjenović, eher Politiker denn Seelsorger, sitzt in einem Café unweit seiner Kirche im Zentrum der Stadt und zieht einen kühnen historischen Vergleich zwischen den Richtern des Haager Tribunals und den Richtern von Jesus Christus: «Jesus wurde damals von einem legalen Gericht verurteilt. Heute wissen wir, dass diese Entscheidung eine Katastrophe war. Die heutigen Gerichte sind keinen Deut besser als die von damals.»

So falsch wie das Urteil über den Gottessohn ist es für Mladjenović, wenn der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag den organisierten Mord vom Juli 1995 an über 8300 Bosniaken, also Bosniern muslimischen Glaubens, einen Genozid nennt. Zweifellos hat es im Bosnienkrieg der neunziger Jahre auch Verbrechen von Bosniaken an serbischen Zivilisten gegeben, aber keine gezielte Vernichtung dieser als einer ethnischen Gruppe.

Alle mit muslimischem Namen

Am 11. Juli 1995 marschierten serbisch-bosnische Truppen unter der Führung von General Ratko Mladić in die Stadt Srebrenica ein. Binnen weniger Tage töteten sie alle Männer mit muslimischen Namen, deren sie habhaft werden konnten. Das Massaker gilt immer noch als grösstes Kriegsverbrechen seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Es fand in einer Uno-Schutzzone statt, die man zwei Jahre zuvor eingerichtet hatte, um die Sicherheit der Bosniaken zu gewähren. Doch in den entscheidenden Augenblicken des Juli 1995 griffen die rund 450 niederländischen Uno-Soldaten nicht ein, sondern lieferten ihre Schutzbefohlenen an die Leute von Ratko Mladić aus. Sie sahen zu, wie die Eroberer Frauen und Kinder mit Bussen abtransportierten. Sie blieben untätig, als jene alle muslimischen Männer, auch Jugendliche, absonderten, um sie daraufhin an verschiedenen Orten hinzurichten.

Dreissig Jahre später ist Srebrenica immer noch von den Folgen des Völkermords gezeichnet.

Viele Häuser stehen leer, verfallen. Die Kuranlagen an den Heilquellen des Guber, zu Zeiten der habsburgischen Herrschaft errichtet, eine wichtige Einnahmequelle auch im Tito-Jugoslawien, liegen darnieder. Investitionen sind nicht in Sicht. Alle Teile der Bevölkerung leiden unter einer verfahrenen Politik.

Zwar leben derzeit Serben und Bosniaken wieder in Srebrenica zusammen. Doch im Vergleich zur Vorkriegszeit ist die Gesamtzahl der Bevölkerung stark geschrumpft – von damals über 36 000 Menschen auf heute noch ungefähr 5000. Bosnien-Herzegowina besteht seit dem Dayton-Abkommen von 1995 aus zwei Teilstaaten, der sogenannten Föderation, in der hauptsächlich Bosniaken und Kroaten leben, und der Republika Srpska, in der die Serben dominieren und zu der auch Srebrenica gehört. Die politische Führung der Republika Srpska interessiert sich kaum für eine Wiederbelebung des multiethnischen Srebrenica. Stattdessen liebäugelt sie mit einem Anschluss ihres Teilstaats an Aleksandar Vučićs Serbien. Die nichtserbischen Bevölkerungsteile gelten dabei als Störfaktor.

Der Bosniake Almir Dudić floh bei Kriegsbeginn als Kind mit Mutter und Schwester aus Srebrenica. Damals hat er einige Jahre in Berlin-Weissensee gelebt, zufällig dort, wo zu DDR-Zeiten ein Bürger aus Srebrenica, der muslimische Bosnier und Bauhaus-Architekt Selman Selmanagić, an der Weissenseer Kunsthochschule gewirkt hatte. Dudić studierte später Germanistik im bosnischen Tuzla.

Heute sitzt er dem Gemeindeparlament von Srebrenica vor. Mit den Serben lebe und arbeite man im Alltag alles in allem gut zusammen, findet er. Über das Heute und Morgen lasse sich gut miteinander sprechen. Aber wenn von der jüngeren Geschichte die Rede sei, komme man auf keinen gemeinsamen Nenner. «Wie viel Zeit man dafür noch braucht, weiss ich nicht», sagt Dudić. Während die Kinder ohne Probleme gemeinsam die Schulbank drückten, besuchten sie den Geschichtsunterricht dennoch separat.

Hasan Hasanović zum Beispiel

Nichts trennt Serben und Bosniaken in Srebrenica mehr als der Bosnienkrieg mit seinen Folgen. In einem kleinen Lebensmittelladen plaudern zwei Bosniakinnen einträchtig mit ihrer serbischen Nachbarin. Als wir uns bei der bosniakischen Ladenbesitzerin erkundigen, ob sie 1995 in der Stadt gewesen sei, ist es mit der guten Stimmung vorbei. «Lasst diese Geschichte. Dreissig Jahre ist das her. Hier ist für euch nichts zu holen. Geht dahin, wo ihr hergekommen seid», ruft uns die Serbin im anschwellenden Zorn zu. Ihre bosniakischen Nachbarinnen beschwichtigen. «Die Leute machen einfach ihre Arbeit.» Eine von beiden ärgert sich dann doch: «Man wird über Srebrenica reden, solange diese Welt existiert.» Die Serbin tritt empört aus der Tür.

Im Vorort Potočari, einige Kilometer nördlich von Srebrenica, stehen die Hallen einer ehemaligen Batteriefabrik. Während des Krieges hatte hier das niederländische Uno-Bataillon seinen Stützpunkt. Heute befindet sich dort die Srebrenica-Gedenkstätte. Eine multimediale Ausstellung zeigt Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des Völkermords.

Einige Mitarbeiter sind zugleich Überlebende, zum Beispiel Hasan Hasanović, der die Abteilung für Oral-History-Projekte leitet. 1975 geboren, in einem Dorf der Umgebung aufgewachsen, kam er mit seiner Familie während des Kriegs als Flüchtling nach Srebrenica und hielt sich auch im Juli 1995 in der Stadt auf. Als klargeworden sei, dass die Uno, anders als angekündigt, keine Luftangriffe gegen die serbischen Angreifer durchführen würde, sei unter den Bosniaken Panik aufgekommen, erinnert sich Hasanović.

Während viele Menschen, unter ihnen seine Mutter und sein jüngerer Bruder, auf dem Gelände der Uno Schutz suchten, brach er mit seinem Zwillingsbruder, dem Vater und einem Onkel zu Fuss in die Wälder auf. Ihre Gruppe wollte sich in ein Gebiet durchschlagen, das die Armee der Republik Bosnien-Herzegowina kontrollierte. Auf dem Weg, unter nächtlichem Granatenbeschuss durch bosnische Serben, verlor der junge Hasanović seine Angehörigen aus den Augen. «Ich habe sie nie wiedergesehen. Sie wurden festgenommen und erschossen. Ich weiss, wo das passierte. Natürlich erfuhr ich das erst später, durch Dokumente, als ich hier anfing zu arbeiten», erklärt Hasanović, der über seine Geschichte später ein Buch geschrieben hat, das auch ins Deutsche übersetzt wurde.

Es hat viele Jahre gedauert, bis die sterblichen Überreste der Ermordeten entdeckt wurden und bestattet werden konnten. Die Suche ist noch nicht zu Ende. Als man 2003 den Friedhof für die Opfer des Völkermords gegenüber der heutigen Gedenkstätte anlegte, bestattete man dort auch den Vater von Hasan Hasanović. Daraus erwuchs ein weiteres Trauma für den Sohn. Als er aus dem Bus stieg, empfingen ihn Hunderte von protestierenden Serben. «Sie beschimpften und beleidigten uns, sie spuckten uns an. Und ich wollte meinen Vater würdevoll auf dem Friedhof begraben. Es war einer der schwierigsten Tage meines Lebens.»

Mit gutem Beispiel vorangehen

Zwischen 1995 und 2003 gab es in Srebrenica kaum Bosniaken, in ihren Häusern wohnten serbische Flüchtlinge aus anderen Landesteilen. Im Jahr 2003 kam der aus Nordbosnien stammende Bosniake Damir Peštalić mit seiner Ehefrau in die Stadt, um die vakante Stelle eines Haupt-Imams anzutreten. Srebrenica sei ihm damals wie ein Geisterort aus einem Horrorfilm erschienen.

Inzwischen lebt er zweiundzwanzig Jahre in der Stadt und ist zufrieden. Er hat das Gefühl, in dieser Zeit etwas für seine Gemeinde, aber auch für das Zusammenleben erreicht zu haben. Seine drei Kinder sind hier aufgewachsen. Eine Tochter ist seit Jahren Landesmeisterin in Karate. Als sie acht Jahre alt gewesen sei, habe er sie einer serbischen Karatetrainerin anvertraut, die sie zur Landesmeisterin gemacht habe.

«Das sind Dinge, die wir Geistliche im privaten Leben tun müssen», glaubt Peštalić. Man solle nicht nur reden, sondern mit gutem Beispiel vorangehen. «Ich erinnere mich daran, wie hier im Stadion auf der einen Hälfte des Feldes Serben unter sich Fussball spielten, auf der anderen Hälfte die Bosniaken. Es gab keinerlei Kommunikation.» Diese Zeiten seien vorbei. Gleichwohl habe man noch lange kein wirklich gutes Zusammenleben erreicht.

Ein Grundproblem: Die serbisch-orthodoxe Kirche wolle mit der islamischen Gemeinschaft gar nicht zusammenarbeiten. Gemeinsame Projekte gebe es nicht. Mit dem gegenwärtigen Priester Aleksandar Mladjenović tausche man gerade einmal einen Gruss aus. Mit seinem Vorgänger sei es schon einmal besser gewesen.

Es habe einfach keine wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegeben, sagt Hasan Hasanović von der Gedenkstätte. Die grossserbischen Ideen von Slobodan Milošević und Ratko Mladić steckten weiter in den Köpfen vieler Menschen.

Und die internationale Gemeinschaft? Sie hätte das geistige Erbe des Krieges bekämpfen können, wie man das nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland getan habe. Stattdessen habe man den Politikern Serbiens und der Republika Srpska zur Wahl gestellt, ob man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen wolle oder lieber nicht. Die internationale Gemeinschaft habe erwartet, dass sich die Völker in Bosnien von allein versöhnen würden. Doch als Zivilisten haben die Menschen kein Problem miteinander, weiss Hasan Hasanović. «Die Politiker lassen es nicht zu, dass sich die Völker versöhnen, verstehen Sie? Das ist doch allen klar!»

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