Dienstag, Oktober 1

Attacken auf Personal, harte Arbeitsbedingungen: Lucas Orlik erzählt, warum er trotzdem Polizist geworden ist.

Die Aktion ist geplant. Und sie ist enorm gefährlich: An einem Abend im Mai attackiert eine Gruppe von Vermummten im Kreis 4 eine Patrouille der Stadtpolizei Zürich. Dabei bewerfen die Angreifer – mutmasslich aus dem linksextremen Milieu – die Einsatzkräfte mit Flaschen aus Glas und einer brennenden Fackel, die bis zu 2000 Grad heiss wird. Dass niemand zu Schaden kommt, ist allein dem Zufall zu verdanken.

Der Angriff steht exemplarisch für eine Entwicklung, die seit einigen Jahren anhält: Die Polizei wird zur Zielscheibe. Schon früher wurden Polizisten bei Demonstrationen, Sportanlässen oder in den Ausgehvierteln immer wieder tätlich angegangen. Neu ist, dass es vermehrt auch zu Attacken ohne ersichtlichen Grund kommt – wie an jenem Abend im Mai.

Unter anderem wegen dieser Gewalt tun sich die Polizeikorps in der Schweiz schwer damit, Personal zu finden. Offenbar wollen angesichts der aufgeheizten Stimmung immer weniger junge Frauen und Männer zur Polizei.

Lucas Orlik ist 34 Jahre alt und wurde im Frühling bei der Kantonspolizei Zürich vereidigt. Das heisst, dass er die zweijährige Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hat und offiziell in das Korps aufgenommen wurde. Nun hat er den Dienstgrad eines Polizeisoldaten inne und verbringt die ersten beiden Jahre seiner Laufbahn wie alle Kantonspolizisten am Flughafen Zürich.

Orlik sagt: «In einer Welt ohne Polizei gilt das Recht des Stärkeren. Ich glaube nicht, dass ich in so einer Welt leben möchte. Darum bin ich Polizist geworden.»

Mit Aggressionen gegen Einsatzkräfte hat Orlik schon als Polizeiaspirant seine ersten Erfahrungen gemacht. An Grossveranstaltungen wie der 1.-Mai-Demonstration gehörten sie einfach dazu, sagt er. «Was wir uns da gefallen lassen müssen, ist teilweise absolut unter der Gürtellinie.» Bis jetzt sei es bei ihm jedoch bei verbalen Auseinandersetzungen geblieben – zum Glück.

Schlechte Arbeit schadet dem ganzen Korps

Orlik ist der Meinung, dass viele Menschen die Polizei undifferenziert sähen und sie als Verkörperung einer monströsen Staatsgewalt hinstellten. «Einen grossen Teil unserer Zeit verbringen wir damit, Fragen von Passanten zu beantworten, ihnen in schwierigen Situationen zu helfen oder auf Patrouille Igel über die Strasse tragen. Ich finde es ungerecht, dass manche Leute diese Seite der Polizei konsequent ausblenden.»

Mit sachlicher Kritik an ihrer Arbeit müsse eine Polizistin oder ein Polizist aber umgehen können, findet Orlik. Jeder Bürger habe schliesslich ein Recht darauf, fair behandelt zu werden. «Wir dürfen keine Vorurteile haben. Und wir müssen auch dann professionell bleiben, wenn es brenzlig wird.» Das sei anspruchsvoll, gehöre aber zur Berufsverantwortung. Ein guter Polizist könne damit umgehen.

Nur gibt es aber nicht nur gute Polizisten.

Im Gegenteil sorgte die Arbeit mancher Korps jüngst für negative Schlagzeilen: Im Mai wurde publik, dass die Stadtpolizei Zürich rassistisch vorgegangen war, als sie 2023 einen Schwarzen kontrollierte, ohne dass es dafür einen konkreten Grund gegeben hätte. Dies ging aus dem Jahresbericht der städtischen Ombudsstelle hervor. Im Juni war zu lesen, dass das Arbeitsklima im Korps der Basler Kantonspolizei von Angst, Sexismus, Rassismus und autoritärem Führungsstil geprägt sei.

Leider gebe es vermutlich auch bei der Kantonspolizei Zürich vereinzelt Kollegen, die es mit den Vorschriften manchmal nicht ganz so genau nehmen, sagt Orlik. «Das ist nicht gut, weil es die Arbeit derer erschwert, die gewissenhaft sind.» Wenn Polizisten zu viel Angriffsfläche böten, verstärke sich die Ablehnung in gewissen Teilen der Bevölkerung. Darum müssten alle bei der Polizei ein Interesse daran haben, sich ständig zu verbessern.

Kapo Zürich als Arbeitgeberin beliebt

Wegen der Anfeindungen, der strapaziösen Arbeitsbedingungen, Nachtarbeit und strenger Aufnahmebedingungen entscheiden sich immer weniger Frauen und Männer für eine Laufbahn bei der Polizei. In verschiedenen Schweizer Korps herrscht akuter Personalmangel. So auch bei der Stadtpolizei Zürich. Weil die Bewerbungen zurückgehen, hat sie jüngst die Altersbegrenzung von 39 Jahren aufgehoben – und 10 von 13 Wachen geschlossen.

Bei der Kantonspolizei Zürich ist die personelle Lage entspannt, wie ein Sprecher auf Anfrage gegenüber der NZZ sagt. Die vielfältigen Einsatzgebiete im Kanton Zürich und die guten Aufstiegschancen verschafften der Kapo Zürich hinsichtlich ihrer Attraktivität weiterhin einen Vorteil, so der Sprecher.

Auch Lucas Orlik, der im Kanton Graubünden aufgewachsen ist, gibt an, sich für die Zürcher Kantonspolizei entschieden zu haben, weil das Korps hier am grössten sei und viele interessante Möglichkeiten zur Weiterentwicklung biete.

Statt Schwinger wurde er Schweizergardist

Aber ein Traumjob ist Polizist auch in Zürich nicht mehr. Lucas Orlik war sich lange nicht sicher, ob er sich auf einen Ausbildungsplatz in der Polizeischule bewerben solle. Dabei hört sich seine bisherige Karriere so an, als wäre eine Laufbahn bei der Polizei nur der logische nächste Schritt gewesen.

Der Sohn eines Polizisten absolviert eine Lehre zum Zimmermann, wird Offizier in der Armee. Eine wichtige Rolle spielt in der Familie Orlik zudem der Sport. Schon der Vater war Schwinger, auch die vier Söhne versuchten sich im Sägemehl. Zwei entschieden sich für den Schwingsport, der dritte verfolgte eine Karriere als Judoka.

Doch im Unterschied zu seinen Brüdern Armon und Curdin sei eine Karriere als Schwinger auf höchstem Niveau für ihn nicht infrage gekommen, sagt Lucas Orlik: «Ich wollte nie Sportler werden. Es gibt Dinge, die ich besser kann.» Er hängt die Zwilchhose an den Nagel, geht stattdessen nach Rom und leistet während zweier Jahre Dienst in der Päpstlichen Schweizergarde.

Danach ist er an verschiedenen Friedensmissionen auf der ganzen Welt beteiligt: Anderthalb Jahre verbringt er bei der Swisscoy in Kosovo. 15 Monate weilt er mit der Uno-Friedenssicherung auf den Golanhöhen im syrisch-israelischen Grenzgebiet, unter anderen in den Minenfeldern des Golans. Weitere 15 Monate ist er mit dem United Nations Mine Action Service, einer Einheit für Minenräumung, in der Demokratischen Republik Kongo stationiert. Zwischen diesen Einsätzen führte er für drei Jahre als Hauptmann eine Panzersappeurkompanie.

Erst dann habe er mit Sicherheit gewusst, dass er bereit sei für den Polizeidienst, sagt Orlik. Dann bewirbt er sich schliesslich um einen Platz in der Polizeischule.

Warum muss ein Mann mit diesem Lebenslauf 32 Jahre alt werden, um zu wissen, dass er Polizist werden will? Gerade weil schon sein Vater bei der Polizei gewesen sei, habe er immer auch die «weniger erfreulichen» Seiten der polizeilichen Arbeit gekannt. Diese habe er genau gegen die positiven abwägen wollen.

Sicherheit muss pausenlos hergestellt werden

Unterdessen ist Orlik in seinem Berufsalltag angekommen. Er arbeitet am frühen Morgen, am Nachmittag oder während der Nacht, patrouilliert am Flughafen oder ist in den umliegenden Gemeinden unterwegs.

«Es gefällt mir, dass ich weiterhin viel mit internationaler Klientel arbeiten darf», sagt Orlik. Und vor allem sei es schön, nach den Abschlusstests der Polizeischule keine weiteren Prüfungen mehr vor sich zu haben.

Zwar seien die Tage am Flughafen im Vergleich zu den Konfliktgebiete im Nahen Osten «eher ruhig». Auf den Golanhöhen zum Beispiel erforderte jeder von Lucas Orliks Schritten seine volle Aufmerksamkeit. Weite Teile des syrisch-israelischen Grenzgebiets gelten als vermint, der kleinste Fehltritt kann eine tödliche Explosion verursachen.

Orlik empfindet die Ruhe der Schweiz aber nicht als Langeweile, sondern als Bestätigung dafür, dass die Polizei ihre Sache gut mache. «Sicherheit ist kein Zufall. Sie muss hergestellt werden wie jedes andere Gut auch.» Das hätten ihn Auslandeinsätze wie jener auf den Golanhöhen gelehrt. Mit seiner Arbeit wolle er einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Sicherheit an Orten wie dem Flughafen gewährleistet bleibe.

«Vielleicht bin ich ein Idealist»

Daneben hat es sich Lucas Orlik zur Aufgabe gemacht, die Polizei beliebter zu machen. Ein respektvoller Umgangston könne schon einen grossen Unterschied machen. In der Regel wüssten die Betroffenen ja, weshalb sie mit der Polizei zu tun haben. Es brauche nicht immer mahnende Worte.

Orlik findet: «Wir haben es selbst in der Hand, wie die Leute die Polizei wahrnehmen.»

Wann immer er gerufen werde, versuche er deshalb, einen guten Eindruck zu hinterlassen und möglichst gute Werbung für die Polizei, seine Arbeitgeberin, zu machen. Orlik sagt: «Vielleicht bin ich ein Idealist. Aber ich denke, dass wir gut auskommen, wenn alle ihren Teil dafür tun.»

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