Serbiens Ministerpräsident Milos Vucevic ist am Dienstag zurückgetreten. Die Protestbewegung wird sich damit kaum zufriedengeben.
Die Proteste, die Serbien seit nunmehr drei Monaten in Atem halten, haben ihr bisher höchstrangiges politisches Opfer gefordert. Der Regierungschef Milos Vucevic trat am Dienstagvormittag von seinem Amt zurück. Als unmittelbaren Auslöser für den Entscheid nannte er die gewaltsamen Übergriffe, die Sympathisanten der regierenden Fortschrittspartei (SNS) in der Nacht auf Dienstag in Novi Sad auf Demonstranten verübten.
Brutaler Angriff auf Studenten
Zwei Studenten waren dabei, vor einem SNS-Parteibüro in der zweitgrössten Stadt des Landes Aufkleber anzubringen, als mit Baseballschläger bewaffnete Männer aus dem Gebäude stürmten und auf die beiden jungen Menschen einschlugen. Eines der Opfer, eine junge Frau, musste hospitalisiert werden. Später kam es zu einem weiteren Übergriff.
Vucevic erklärte, er und der Bürgermeister von Novi Sad, Milan Duric, der ebenfalls sein Amt niederlegte, übernähmen die politische Verantwortung für diesen Vorfall. Er tue dies, um die Spannungen zu entschärfen, sagte Vucevic. Nun seien alle Forderungen auch der radikalsten Demonstranten erfüllt.
Auslöser für die vor allem von Studenten getragenen Protestbewegung war der Einbruch eines Bahnhofsvordachs Anfang November in Novi Sad, der 15 Menschen das Leben gekostet hatte. Für viele Menschen in Serbien steht der tragische Unfall sinnbildlich für die Missstände in dem von Klientelismus, Korruption und fehlender Rechtsstaatlichkeit geprägten Land.
Proteste weiten sich aus
Die Proteste begannen mit der Blockade einzelner Fakultäten, der sich mittlerweile fast alle universitären Einrichtungen im Land angeschlossen haben. Seit mehreren Monaten findet an den serbischen Hochschulen kein regulärer Unterricht mehr statt. Die Studenten sind weiterhin das Gesicht der Bewegung. Doch die Unterstützung geht mittlerweile über das universitäre Milieu hinaus.
Landesweit haben sich Landwirte und Lehrer den Protesten angeschlossen. Viele Mittel- und auch einige Grundschulen sind geschlossen. Am Freitag, als die Demonstranten zu einem Generalstreik aufriefen, legten auch viele andere Berufsgruppen die Arbeit nieder. Im Geschäftsviertel Novi Beograd etwa traten mehrere tausend IT-Mitarbeiter in den Ausstand. Beobachter sprechen von den grössten Protesten seit den Demonstrationen im Jahr 2000 gegen Slobodan Milosevic.
Die bisher vermutlich spektakulärste Einzelaktion fand am Montag statt. Ab zehn Uhr morgens blockierten die Studenten die sogenannte Autokomanda, eine der wichtigsten Verkehrsachsen in Belgrad, für 24 Stunden. Auch am späten Abend waren noch mehrere zehntausend Menschen vor Ort. Begünstigt durch die milden Temperaturen blieben nicht wenige die ganze Nacht.
Obwohl die Aktion das Leben in der Hauptstadt nicht unwesentlich beeinträchtigte, schlug den Demonstranten viel Solidarität entgegen. Vorbeifahrende Autos hupten, Freiwillige brachten Lebensmittel. Es herrschte eine Atmosphäre zwischen politischem Happening und Jugendfest.
Das Misstrauen sitzt tief
Präsident Aleksandar Vucic, bei dem trotz seinen verfassungsmässig stark eingeschränkten Vollmachten im Staat alle Fäden zusammenlaufen, hat bereits mehrere Protestbewegungen ausgesessen. Dabei gab es jeweils Versuche, die Protagonisten mithilfe regierungsnaher Medien zu delegitimieren. Gleichzeitig ging die Regierung aber vordergründig auch auf Forderungen der Demonstranten ein. So wurden etwa die heftig kritisierten Pläne zur Förderung von Lithium im Westen des Landes sistiert – um sie einige Jahre später wieder zu reaktivieren.
Auch dieses Mal hat die Regierung durchaus Konzessionen gemacht. Bereits kurz nach dem Unfall mussten zwei Minister ihren Hut nehmen, mehrere Personen wurden verhaftet. Zudem veröffentlichte die Regierung etappenweise Dokumente über den Bau des eingestürzten Vordaches. Dies ist eine der vier Kernforderungen der Studenten. Und nun folgt als jüngster Befreiungsschlag Vucevics Amtsniederlegung, die aus technischen Gründen den Rücktritt der gesamten Regierung nach sich ziehen wird.
Die Demonstranten sind aber weiterhin nicht davon überzeugt, dass dies auch zu den geforderten tiefgreifenden strukturellen Veränderungen im Land führen wird. Das Misstrauen gegenüber Vucic sitzt zu tief. Eine Vertreterin der in der studentischen Protestbewegung wichtigen Fakultät für Theaterkunst erklärte gegenüber der NZZ, man fordere funktionierende staatliche Institutionen, die eine unbefangene Aufklärung einer Tragödie wie in Novi Sad gewährleisten könnten. Dies sei weder die Aufgabe der Regierung noch des Präsidenten. Die Blockade gehe deshalb weiter.