Statt sich für Ursachen und die Lebensgeschichte des Patienten zu interessieren, beschäftigt sich die heutige Psychiatrie nur noch mit Symptomen. Wir waren schon einmal deutlich weiter.

Würde man heute eine Umfrage zum Phänomen Schizophrenie durchführen, ist nicht schwer zu erraten, was die meisten Befragten antworteten: Es handle sich um eine Geistes- beziehungsweise Hirnkrankheit mit vielfältigen Wahnvorstellungen. Niemand würde sich mit der geistigen Welt eines Schizophrenen identifizieren wollen. Zur Frage der Herkunft solcher Zustände und zu Möglichkeiten der Therapie würden sicherlich insbesondere die genetische Disposition, der Einsatz von Psychopharmaka und die Klinikeinweisung angeführt werden.

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Wenn man dieselben Fragen an eine Fachperson richten würde, einen Psychiater oder Psychotherapeuten, wäre die Antwort differenzierter, im Gesamtbild aber mehrheitlich nicht wesentlich anders. Dieses Verständnis psychiatrischer Phänomene steht in grossem Kontrast zur Sichtweise des Psychiaters C. G. Jung. Am 16. Januar 1908 sagte Jung anlässlich eines Vortrags in Zürich:

«Sind wir auch noch lange nicht imstande, die Zusammenhänge jener dunklen Welt restlos zu erklären, so dürfen wir doch jetzt schon mit Sicherheit die Behauptung aufstellen, dass in der Dementia praecox (alter Begriff für Schizophrenie) kein Symptom existiert, das man als psychologisch grundlos und unsinnig bezeichnen könnte. Auch die absurdesten Dinge sind nichts als Symbole vom Gedanken, die nicht nur allgemein menschlich verständlich sind, sondern überhaupt in jeder Menschenbrust wohnen. So entdecken wir im Geisteskranken nicht etwas Neues und Unbekanntes, sondern den Untergrund unseres eigenen Wesens, die Mutter der Lebensprobleme, an denen wir alle arbeiten.»

Jung spricht hier dem Schizophrenen trotz seinen wirr erscheinenden Ideen keine grundsätzlich anderen Gefühle, Gedanken und Vorstellungen zu als diejenigen, welche auch psychisch gesunde Menschen haben.

Es macht für einen Menschen mit der Diagnose Schizophrenie einen Unterschied, ob ein Psychiater ihm mitteilt, er müsse sich als Schizophrener voraussichtlich auf ein Krankheitsschicksal als Geistesgestörter einstellen, oder ob der Psychiater Jungs Auffassung teilt. Letztere ist für den Patienten mit dem Erlebnis verbunden, dass der Arzt oder Psychotherapeut keine emotionale Distanz ihm gegenüber wahrt, sondern im Gegenteil sich ihm menschlich zur Seite stellt.

Dies ist eine sehr optimistische, humane Perspektive, weil sie die Möglichkeit auf Heilung beinhaltet und die Distanz zu den «Normalen» nicht so gross ist. Doch leider ist sie mehrheitlich verschwunden, stattdessen überwiegt die biologistische Sicht. Um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, dass wir heute in der Psychiatrie hinter den Stand von 1908 zurückgefallen sind, ist ein Blick in die Geschichte erforderlich.

Das Verdienst der Psychoanalyse

Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Sigmund Freud, Alfred Adler und C. G. Jung, sich als Ärzte mit der Behandlung von Krankheiten und Symptomen zu befassen, für die man keine somatischen Ursachen finden konnte. Mit der Entdeckung von unbewussten Gefühlen und deren Bedeutung für das psychische Befinden legten sie den Grundstein zum psychodynamischen Verständnis seelischer Vorgänge.

Der damaligen Psychiatrie war eine solche Perspektive fremd, zumal alle psychiatrischen Erscheinungen als Formen geistiger Krankheiten interpretiert wurden. Eugen Bleuler, Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich, öffnete Anfang 20. Jahrhundert als Erster seine Klinik für die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und einer lebensgeschichtlich bedingten Psychodynamik. Zu dieser «psychiatrischen Revolution» schrieb sein Sohn, Manfred Bleuler, 1951: «Es ist das weltweit anerkannte Verdienst des Burghölzli, als erste Universitätsklinik die Psychoanalyse aufgenommen und angewendet zu haben, um Erkenntnisse über die wahren psychischen Krankheiten zu gewinnen.» Dadurch sei ein tieferes Verständnis der Sprache, des asozialen Verhaltens und vieler Symptome des Geisteskranken gewachsen sowie eine engere Beziehung zwischen Arzt und Patient ermöglicht worden.

Zusammen mit seinem Oberarzt Carl Gustav Jung widmete sich Bleuler auch der psychologischen Erforschung schwerster psychischer Störungen. Das erwähnte Zitat Jungs verdeutlicht, dass beiden Forschern die Welt der zu betreuenden Psychotikern nicht so fremd erschien. Dies drückte sich auch in ihrem zuweilen sehr persönlichen, emotionalen Verhältnis zu ihren Patienten aus. Die Fähigkeit, eine Beziehung ohne Reserve und Distanz zu diesen «gestörten» Menschen aufzubauen, findet sich bei allen Therapeutenpersönlichkeiten. Sie konnten sich erfolgreich einen Zugang und ein Verständnis der Gedanken- und Gefühlswelt psychotischer Menschen verschaffen.

Die Anziehungskraft des Burghölzli für junge Psychiater aus der ganzen Welt war gross. Es dauerte nicht lange, bis einige aufgeschlossene psychiatrische Institutionen das «Zürcher Modell» zu adaptieren begannen, vor allem in der Ostküste der USA. Die Rezeption der Freudschen Lehre war dabei nicht einheitlich-unkritisch. Freud selbst hielt Psychosen wie die Schizophrenie nicht für behandelbar, was unter den Psychoanalytikern kontrovers gesehen wurde.

Entscheidend war, wie sehr man sich an die Dogmen der orthodoxen Psychoanalyse Freuds gebunden fühlte, insbesondere an die Libidotheorie. Alfred Adler grenzte sich deshalb schon früh von Freud ab und gewichtete mit seiner Individualpsychologie soziale und kulturelle Einflussfaktoren wesentlich höher als alles Triebbedingte.

Die Rolle des Therapeuten

Jüngere Generationen von Psychoanalytikern entschieden sich ähnlich. Die eigenständigste Gruppe innovativer Psychoanalytiker in den USA, zu denen bekannte Namen wie Erich Fromm, Frieda Fromm-Reichmann, Harry Stack Sullivan und Clara Thompson gehörten, gründete 1943 das William Alanson White Institute of Psychiatry. Für das vertiefte analytische Verständnis bezogen die Neopsychoanalytiker – so ihre offizielle Bezeichnung – viele Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften und der Kulturanthropologie mit ein.

Zu den zentralen Elementen ihrer Auffassung von Psychoanalyse gehörte die besondere Gewichtung der interpersonalen Beziehungen zwischen Therapeut und Patient – und daraus folgend die Notwendigkeit für ihre Psychotherapeuten, hoch entwickelte zwischenmenschliche Fähigkeiten zu erwerben, um gerade auch bei schwer gestörten Menschen therapeutisch wirken zu können.

In der interpersonalen Theorie der Psychiatrie Sullivans wird die Genese psychischer Störungen in den frühen zwischenmenschlichen Beziehungen und Prozessen verortet. Frieda Fromm-Reichmann entwickelte und lehrte aus dem Fundus ihrer langjährigen erfolgreichen therapeutischen Arbeit mit psychotischen Menschen die «Intensive Psychotherapie». Fromm-Reichmann und Sullivan haben über viele Jahre Menschen mit schweren Psychosen geheilt. In ihrem bekannten Buch «Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen» beschrieb Joanne Greenberg, ehemalige Patientin und spätere Schriftstellerin, die Heilung einer Jugendschizophrenie.

Die entwicklungspsychologische Forschung, letztlich die Bindungsforschung haben im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die grundlegenden Einsichten der Neopsychoanalytiker bestätigt. Ebenso wissenschaftliche Erkenntnisse aus der evolutionären Anthropologie, also der vergleichenden Verhaltensforschung von Tier und Mensch.

In der Schweiz haben nach 1945 Gaetano Benedetti in Basel, Christian Müller in Lausanne und Luc Ciompi in Bern in ähnlicher Weise als Wissenschafter therapeutisch gewirkt. In den folgenden Jahren entstanden weltweit zahlreiche eigene Ansätze, die bewiesen, dass man psychotische Menschen erfolgreich behandeln kann.

Inflation psychiatrischer Diagnosen

Angesichts der geschilderten Psychiatrieentwicklung fragt man sich, wieso die heutige Psychiatrie in einen längst überwunden geglaubten Biologismus zurückgefallen ist. Das 2013 publizierte Buch «Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen» des renommierten amerikanischen Psychiaters Allen Frances gibt dazu eine Antwort. Als Insider des «Diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen» (DSM), umgangssprachlich auch «Bibel der Psychiatrie» genannt, weist Frances auf die vielen neuen Diagnosen bei jedem Überarbeitungsschritt des DSM hin. Auf diesen Prozess nehmen die grossen amerikanischen Pharmafirmen starken Einfluss.

Der Trend zur Aufblähung der Diagnosen begann laut Frances 1980 mit der Einführung des DSM-3. Damals fand ein Paradigmenwechsel in der Psychiatrie statt. Seither haben bei der Erstellung von Diagnosen nur noch Symptome Relevanz. Die Notwendigkeit, die lebensgeschichtlichen Erfahrungen eines Menschen mit einzubeziehen, die sogenannte Anamnese, wurde mit dem DSM-3 für obsolet erklärt. Nach Frances ging es den Promotoren des DSM-3 darum, «die Fachdisziplin von den bis dato dominanten psychoanalytischen und sozialtherapeutischen Modellen abzukoppeln und die Psychiatrie enger an die übrige Medizin anzuschliessen.»

Zu Ende gedacht, läuft dies auf eine Psychiatrie ohne Psychologie hinaus. Die Neurowissenschafter, welche die Biomarker oder charakteristischen Hirnstrukturen der einzelnen Diagnosen in der Folge aufdecken sollten, müssen heute – nach über dreissig Jahren Forschung – zugeben, dass nichts dergleichen nachzuweisen ist.

Für die heutige Psychiatrie ist dies ein Desaster. Aufgrund dieses Wissens müssten die Verantwortlichen längst über die Bücher gehen und sich mit der konstruktiven Tradition ihrer Fachdisziplin befassen. Die grossartige Entwicklung in der klinisch-therapeutischen Arbeit, welche das Burghölzli einst angestossen hatte, müsste wieder gewürdigt werden. So könnte man sich aus der heutigen Sackgasse einer mehrheitlich medizinischen Verwaltungspsychiatrie befreien und an die hoffnungsvolle Tradition Bleulers und seiner Mitstreiter anzuknüpfen.

Beat Kissling ist Erziehungswissenschafter und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Zürich.

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