Samstag, Januar 18

Vor knapp sechzig Jahren schrieb Gilles Deleuze «Anti-Ödipus». Zusammen mit Félix Guattari landete er damit einen Bestseller des postmodernen Denkens. Am 18. Januar wäre Deleuze hundert Jahre alt geworden.

Am Schluss blieb ihm nur der Sprung aus dem Fenster seiner Pariser Wohnung. Die Atemnot, unter der er seit der Entfernung eines Lungenflügels litt, war so unerträglich geworden, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah als den Suizid. Das war am 4. November 1995, an einem Samstag, als seine Frau auf dem Markt einkaufen war. Wie so oft war Gilles Deleuze «wie ein Hund angekettet an meine Sauerstoffflasche» und den immer häufiger werdenden Erstickungsanfällen ausgeliefert.

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Damit endete ein äusserst produktives Leben als Intellektueller. Gilles Deleuze, am 18. Januar 1925 in Paris geboren, studierte Philosophie an der Sorbonne und unterrichtete dann an einem Gymnasium in Amiens. Nach seiner Habilitation folgte Deleuze einem Ruf an die Universität Lyon, wo er von 1964 bis 1969 Philosophie lehrte. Mit Porträts europäischer Denker von David Hume über Nietzsche bis zu Henri Bergson und Spinoza machte er sich in akademischen Kreisen einen Namen.

Der Wechsel an die Reformuniversität Vincennes bedeutete eine Zäsur. An der im Nachgang zu den 1968er Unruhen eingerichteten Institution, die zu einer Hochburg linker Intellektueller wurde, traf Deleuze den umtriebigen Psychoanalytiker Félix Guattari. Deleuze, von Natur aus neugierig und bereit, aus der Tradition philosophischer Reflexion auszubrechen, interessierte sich für Guattaris Tätigkeit in einer psychiatrischen Klinik südlich von Paris.

Zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine enge Freundschaft: auf der einen Seite der analytisch-ordnende Geist, auf der anderen der kreativ-sprudelnde Aktivist. Deleuze & Guattari waren eine Art Simon & Garfunkel der Philosophie: Mit dem «Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1» landeten die beiden, die sich ein Leben lang siezten, 1972 einen Hit, der den Nerv der Zeit traf. Der zweite, acht Jahre später veröffentlichte Teil, «Tausend Plateaus», wurde kein Verkaufsschlager mehr. Die Zeiten hatten sich geändert.

Um die eigene Kindheit kreisen

Schon die ersten Sätze des «Anti-Ödipus» machen deutlich, dass es sich nicht um ein klassisches philosophisches oder psychologisches Buch handelt: «Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, isst. Es scheisst, es fickt.» Das Es meint das «elternlose Unbewusste», das unablässig Wünsche produziert. Um diese – vielmehr um deren Befreiung – geht es Deleuze und Guattari. Denn die Psychoanalyse hat mit ihrer Theorie des Ödipuskomplexes, so die Hauptthese, den Produktionsprozess ins Stocken gebracht. «Ödipus setzt eine ungeheure Repression der Wunschmaschinen voraus.»

Die Polemik richtet sich gegen Sigmund Freud, der die Wunsch- und Triebproduktion nach Ansicht der Autoren auf das ödipale Dreieck von Mutter – Vater – Kind reduziert: Im bürgerlichen Mief der Kleinfamilie droht das Individuum zu ersticken. Anstatt zu neuen Ufern aufzubrechen, kreist es ein Leben lang um seine Kindheit. So entwickeln sich Neurosen, zu deren Heilung es der psychoanalytischen Behandlung bedarf. Sollte Karl Kraus recht bekommen mit seinem Diktum, dass die Psychoanalyse jene Geisteskrankheit ist, für deren Therapie sie sich hält?

Der in «Anti-Ödipus» beschriebene Maschinenraum befindet sich nicht an der Oberfläche, wo die von Freud beschriebenen Neurosen entstehen, sondern auf der tieferliegenden Ebene der Psychosen. Um die wahren Probleme zu erkennen, müsse man in den Abgrund schauen und Schizoanalyse, nicht Psychoanalyse, betreiben. Im Wahnsinn erkennen Deleuze und Guattari sogar eine revolutionäre Kraft im Kampf gegen den Kapitalismus – ganz im Sinne ihres politischen Bekenntnisses, wonach ihr Buch eine «Folgeerscheinung des Mai 68» sei.

Im Unterschied zu Félix Guattari, der – bei Jacques Lacan zum Psychoanalytiker ausgebildet – in der Psychiatrischen Klinik La Borde bei Blois jahrzehntelang mit Psychotikern arbeitet, hat Gilles Deleuze keine praktische Erfahrung mit Psychischkranken. Mehr noch: Er scheut den Kontakt mit den «Verrückten», weil er fürchtet, die Situation könnte ausser Kontrolle geraten. «Er hätte nicht eine Stunde in La Borde ausgehalten», zitiert der Biograf François Dosse einen Freund des Philosophen. Deleuze bleibt angewiesen auf Guattaris Schilderungen, die ihm manchmal selbst vorkommen wie ein «Schizo-Fluss».

Unter dem Joch von Papa und Mama

Während einige Ethnopsychoanalytiker nach Afrika reisen, um die universelle Gültigkeit des Ödipuskomplexes nachzuweisen, gehen Deleuze/Guattari den umgekehrten Weg: Sie wollen zeigen, dass und wie die «Psychoanalyse die europäische Menschheit unter dem Joch von Papa-Mama» versklavt. Auch wenn der «Anti-Ödipus» ein langanhaltendes Echo auslöst, bleibt ein bitterer Beigeschmack. Die Zertrümmerung eines Dogmas geht einher mit der Errichtung eines neuen: Gilles Deleuze und Félix Guattari romantisieren die Psychotiker und verklären die Schizoanalyse.

Der glühende Trotzkist Guattari vertrat nicht nur in politischen Fragen ideologische Positionen. Auch in sexueller Hinsicht hielt er Entfesselung für das Gebot der Stunde. Als Verfechter der freien Liebe sah er in der Familie, aber auch in der Paarbeziehung einen Käfig, aus dem es auszubrechen gelte. Während Guattari für die Befreiung von politischen und sexuellen Normen und Zwängen auf die Barrikaden stieg, ging es Deleuze eher um die Erweiterung des intellektuellen Horizonts durch Grenzüberschreitung.

Deleuze war ein breit interessierter Mensch. Wie kaum ein anderer Philosoph pflegte er Beziehungen zu den bildenden und darstellenden Künsten: Neben philosophischen Werken wie «Logik des Sinns» oder «Differenz und Wiederholung» schrieb er originelle Bücher über Kafka und Proust. Und als regelmässiger Kinogänger liess er sich vom aktuellen Filmschaffen anregen zu seinen Reflexionen über das Bewegungsbild.

Auch die Musik, von Mozart bis Édith Piaf, und die moderne Malerei faszinierten ihn. Dabei wollte er die Künste nicht, wie Hegel, in seine Philosophie integrieren, sondern fragte, was diese selbst zu sagen haben. «Was kann die Philosophie von der Malerei, der Musik erwarten? Was die Philosophie von der Malerei erwartet, ist etwas, das die Malerei allein ihr geben kann», sagte Deleuze in einer der Vorlesungen, die nun erstmals auf Deutsch vorliegen. Die Vortragsreihe mit dem Titel «Über die Malerei», die zwischen März und Juni 1981 stattfand, handelte von Cézanne und Francis Bacon, von Turner und Paul Klee.

Bleibt etwas? Und wenn ja: Was?

Wer den Faden wieder aufnimmt, sollte an den Philosophen der Vielfalt anknüpfen, der das Sein als «Differenz und nicht als Unwandelbares» definiert. Diese Offenheit findet ihren Ausdruck auch in einem Kafka-Essay, den Deleuze und Guattari drei Jahre nach dem «Anti-Ödipus» publizieren. Auf die Frage, wie man Zugang zu Kafkas Werk finde, lautet ihre Antwort: «Es ist ein Rhizom, ein Bau. Das Schloss hat vielerlei Eingänge» – genauso wie das Denken.

Das heute herrschende Identitätsdenken lässt ganz vergessen, dass sich individuelle Freiräume nicht in der Zuschreibung zu neuen sozialen Formationen auftun, sondern in den Nischen und Lücken, die sich dem Zugriff des Systems entziehen. Gerade weil das Denken dazu neigt, der Ordnung halber alles und jedes auf den Begriff zu bringen, ist es Aufgabe der Kritik, die Abweichung in den Blick zu nehmen. In dieser Hinsicht ist das «nomadische Denken» des Künstlerphilosophen Gilles Deleuze noch heute wichtig, auch hundert Jahre nach seiner Geburt.

Gilles Deleuze: Über die Malerei. Vorlesungen März–Juni 1981. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von David Lapoujade. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 432 S., Fr. 50.90.

Gilles Deleuze: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974. Herausgegeben von David Lapoujade. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 435 S., Fr. 41.90.

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