Freitag, Oktober 4

Nach 15 Jahren tritt Wilhelm Natrup Ende Mai als Chef des kantonalen Amtes für Raumentwicklung in den Ruhestand, aber nicht ganz.

Herr Natrup, seit 2009 sind Sie der oberste Raumplaner im Kanton Zürich. Dessen Bevölkerung ist in dieser Zeit um etwa 250 000 Personen gewachsen. Wie hat sich das ausgewirkt?

Ein Wachstum war zwar zu erwarten, aber in diesem Mass nicht vorauszusehen. Das hatte mit den bilateralen Verträgen und der Personenfreizügigkeit mit der EU zu tun. Selbstverständlich bestimmte das unsere Arbeit stark – zusammen mit politischen Entscheidungen, die Zersiedelung zu stoppen.

War es nicht vorhersehbar? Die Prognosen im ersten Jahrzehnt gingen von einem deutlich geringeren Wachstum aus.

Man kann Wachstum nie genau vorhersehen. Die statistischen Ämter treffen Annahmen zu den Geburten- und Mortalitätsraten und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Nur schwer einzubeziehen sind politische Brüche, die sich auf die Zuwanderung auswirken.

Es könnte auch einmal in die andere Richtung gehen?

Das sage ich immer, und dann schauen mich die Leute gross an. Ich habe die neunziger Jahre erlebt, mit der Immobilienkrise. Die Stadt Zürich verlor Einwohner und war überaltert. Zehn Jahre Stagnation, das kann sich heute keiner mehr vorstellen.

Nun sind Sie über die Pensionierung hinaus für den Kanton tätig als Delegierter des Regierungsrats für das Projekt «Wachstum 2050». Warum ist das nötig? Vorkehrungen zu treffen, um die Anforderungen der Zukunft bewältigen zu können, ist doch das Kernthema der Raumplanung.

Dieses Projekt ist wesentlich breiter angelegt und umfasst alle Politikbereiche: Steuerpolitik, Wirtschaftsförderung, Unternehmensansiedlung, Migration, Soziallasten, Zentrumslasten. Es geht um mehr als räumlich verortbare Themen. Und es braucht eine andere Raumsicherung. Wir haben wenige Instrumente, um vorsorglich Standorte sichern zu können, wenn man 25 Jahre vorausblickt.

Der Wohnraum ist heute schon knapp und wird durch das Bevölkerungswachstum knapper. Die letzte Gesamtüberprüfung des kantonalen Richtplans 2014 hatte den Anspruch, die Entwicklung zu bewältigen, ohne das Siedlungsgebiet auszudehnen. War das im Rückblick ein Fehler?

Nein. Natürlich wäre es ein Beitrag zum Wohnungsbau, wenn man mehr Bauland auf den Markt werfen würde. Wir haben das mit einer im letzten Herbst veröffentlichten Studie untersuchen lassen. Das macht nur wenige Prozente aus, es spielen andere Faktoren mit. Vor allem hätte es aber Nebenwirkungen, das Gebot des haushälterischen Umgangs mit dem Boden aufzugeben.

Welche?

Die Landwirtschaft etwa macht nicht mehr mit. Der Druck auf das nicht überbaute Gebiet ist gross. Um jede Hektare Kulturland wird gekämpft, um jeden neuen Velo- und Wanderweg oder um Freizeiteinrichtungen wie den Surfpark Regensdorf. Dazu kommt oft die fehlende Akzeptanz in der Bevölkerung.

Ein Einschnitt war 2012 das Ja zur Kulturlandinitiative der Grünen, mit der wertvolles Ackerland weitgehend geschützt werden sollte. Damit brach in den Gemeinden der Ruf nach neuem Bauland in sich zusammen. War das eine nötige, am Ende sogar hilfreiche Zäsur?

Das überraschende Ergebnis war richtungsweisend. Es hat auch Fachleuten deutlich gemacht, dass die Bevölkerung die weitere Zersiedelung der Landschaft nicht mehr hinnehmen will. Das hat sich dann in der Abstimmung zum Raumplanungsgesetz des Bundes mit 71 Prozent Ja im Kanton Zürich bestätigt.

Dennoch: Hätte der Kanton im Rückblick nicht mehr machen können gegen die Wohnungsknappheit?

Es gibt etwa in der Stadt Zürich die Forderung, generell ein Geschoss mehr zuzulassen. Das bringt vielleicht etwas. Aber die Erwartungen sind grösser als der Effekt. Vieles würde nicht realisiert, wegen bautechnischer Anforderungen, und die zusätzlichen Wohnungen wären vergleichsweise teuer. Bauen wird nicht einfach billiger, wenn man das Bauland nicht mehr in die Kostenberechnung einsetzen muss. Und es ist konzeptlos: Man giesst über ein Gebiet einfach ein paar Prozent Ausnützung mehr und schaut mal, was passiert. Stadtplanung läuft anders.

Doch was ist zu tun?

Wichtig ist die quartierweise Betrachtung. Wenn man der Bevölkerung aufzeigen kann, dass man nicht nur von Grundstück zu Grundstück schaut, sondern flankiert mit der Freiraumplanung, dann besteht die Chance, dass eine höhere Ausnützung auch angenommen wird. Innenentwicklung ist weit anspruchsvoller als Bauen auf der grünen Wiese.

Derzeit geht die Wohnbautätigkeit zurück.

Das liegt eher an der Finanzierung und am Rückzug der institutionellen Anleger. Es spielen viele Faktoren mit. Kurzfristig mit raumplanerischen Vorgaben die Wohnungsknappheit beheben zu wollen, funktioniert nicht. Das zeigte der runde Tisch mit Bundesrat Parmelin zur Wohnungsknappheit. Die meisten Vorschläge brauchen fünf bis zehn Jahre, ehe sie greifen.

Zu reden gab die 80/20-Regel im Richtplan, wonach die Siedlungsentwicklung zu 80 Prozent in städtischen Gebieten stattfinden soll.

Wir haben in den zehn Jahren seither ein- oder zweimal das Ziel 80 Prozent des Bevölkerungswachstums in städtischen Gebieten erreicht. Die Entwicklung geht immer noch in die Fläche, in die suburbanen Gebiete und nicht in die engere Agglomeration. Doch ohne diese Formel wäre das noch ausgeprägter geschehen. Mit der 80/20-Regel machten wir klar, dass wir Nutzungsplanungen für dichtere Überbauung in urbanen Räumen unterstützen.

Zuerst klagten die Landgemeinden, ihre Entwicklung werde abgewürgt, dann jammerten die Städte, es werde ihnen zu viel aufgebürdet.

Das gehört dazu. In der Sache war das ein wichtiger Richtungsentscheid. Er vermittelte, dass eine starke Kurskorrektur nötig ist. Das haben wir erreicht, aber nicht so deutlich wie erhofft. Das Limmat- und das Glatttal sind stärker gewachsen als andere Regionen, die Stadt Zürich unterdurchschnittlich. Dort hiess es, der Kanton fordere ein Wachstum auf 500 000 Einwohner. Eine solche Vorgabe haben wir nie gemacht. Aber Zürich muss nachweisen, dass ein Wachstum in dieser Grössenordnung möglich ist.

Sie haben die Bedeutung der quartierweisen Innenentwicklung hervorgehoben. Haben Sie überhaupt darauf Einfluss?

Jein. Ich habe in den letzten Jahren etwa 120 Ortsplanungsgespräche geführt. Vorgaben können wir nur machen, damit etwas gesetzeskonform ist. Wir nehmen Einfluss über Beratung und Unterstützung. Da geht es darum, herauszufinden, was sinnvoll ist, wo die Akzeptanz für Innenentwicklung gross ist, und die Beteiligung der Bevölkerung auszuloten. Ich empfehle meistens, Einfamilienhausquartiere nicht aufzuzonen. Dort entsteht der grösste Widerstand.

Warum?

Dazu muss man weit zurückblicken: 1994 hat der Kanton Zürich eine andere Berechnungsziffer für die Ausnützung eingeführt. In der Rezession der neunziger Jahre wollte man so Anreize schaffen, damit mehr gebaut wird. In einigen Gebieten hat sich die Ausnutzung mehr als verdoppelt. Sie ist aber oft nicht konsumiert worden. Heute wundern sich die Leute, wenn Häuser abgerissen werden und dann grosse Volumen darauf entstehen. Dann heisst es: Wie ist das möglich, darüber haben wir doch nie abgestimmt?

Und das gilt immer noch?

Ja. Einige Gemeinden realisierten, dass dies Spannungen auslöst, und haben das seinerzeit wieder zurückgenommen. Es gibt auch Gemeinden, die möchten jetzt wieder die Ausnützung reduzieren.

Sie waren sehr viel in den Gemeinden unterwegs. Wie hat sich das Verhältnis zwischen Kanton und Kommunen verändert?

Ich denke, es ist viel passiert, was nicht heisst, das Verhältnis wäre super. Wir haben nun einmal unterschiedliche Aufgaben. Die Gemeinden schauen für ihre Entwicklungsperspektiven. Ich denke, die Akzeptanz über die grundsätzliche Ausrichtung der Raumplanung ist da. Manchmal wünsche ich mir engagiertere Gemeindeexekutiven, wenn es darum geht, Innenentwicklung durchzusetzen und Überzeugungsarbeit zu leisten.

Ein Problem ist auch, die nötige Infrastruktur zu schaffen. Trifft der Eindruck zu, dass heute die Opposition nur schon gegen erste planerische Abklärungen zu Deponien, Kiesabbau oder Windkraft heftiger ausfällt?

Das ist so. Die Raumkonkurrenz, ich nenne es einmal so, hat zugenommen. Die Landwirtschaft ist verstärkt auf den Erhalt der ertragreichen Böden aus. Es gibt Interessen des Naturschutzes, und wir haben Bedürfnisse der Infrastruktur. Wir haben gesicherte Standorte für Deponien im Richtplan und legen jetzt neue fest, weil wir wissen, wie schwierig die Realisierung ist.

Kann sich der Kanton in Zukunft noch durchsetzen?

Es gibt eine kantonale Nutzungsplanung. Wir legen Standorte fest, die raumplanerisch und technisch sinnvoll und machbar sind. Danach ist es eine privatwirtschaftliche Angelegenheit und Sache der Unternehmen, mit den Grundeigentümern in Verhandlung zu treten und Verträge abzuschliessen. Wenn Eigentümer eines Deponiestandorts sagen, sie wollten auf dem Land weiter Landwirtschaft betreiben, dann sollen sie das tun.

Aber die Baudirektion wird in nächster Zeit Mindestabstände für Windräder aus kommunalen Bauordnungen streichen.

Wir streichen nicht, aber wir genehmigen sie nicht. Ich gehe unverändert davon aus, dass solche Abstandsvorschriften nach dem Zürcher Gesetz nicht rechtskonform sind. Auch für die Nutzung der Windkraft gilt: Gegen den Willen der Grundeigentümer solche Projekte zu realisieren, ist schwierig.

Man nennt Sie der Einfachheit halber Kantonsplaner. Das tönt ein wenig nach kantonalem Gesamtplaner. Ist der Begriff noch zeitgemäss?

Es gibt etwa ein Dutzend solche Titel in der Verwaltung. Aber es stimmt: Die Bezeichnung ist etwas anachronistisch und erhält in der Wahrnehmung etwas Hoheitliches: Der zeigt den Gemeinden, wo es langgeht, und beschränkt ihre Autonomie. Raumplanung ist nicht etwas, das eine Person macht. Das wäre die falsche Botschaft. Raumplanung macht man im Team zusammen mit den Gemeinden und nicht nur in diesem Amt. Sie wird von ganz vielen Entscheidungen beeinflusst. Wir sind Sachwalter und Themenhüter. Aber wir machen das gemeinsam. Mit diesem Verständnis bin ich seinerzeit an die Aufgabe herangegangen. Ich bin keine Einpersonenbehörde. Es wäre sinnlos, sich ein Programm zu geben, und die anderen ziehen dann nicht mit.

Mussten Sie manchmal Druck aufsetzen?

Wir mussten Überzeugungsarbeit leisten. In vielen Fällen sind unsere Spielräume aber eingeschränkt: Zum Beispiel müssen wir bundesrechtliche Vorgaben durchsetzen.

Sie bleiben als Wachstums-Delegierter für den Kanton tätig. Besteht da keine Gefahr, dass Sie Ihrer Nachfolgerin ins Gehege kommen?

Ich unterstütze und bin nicht der Leiter des Projekts «Wachstum 2050». Ich habe mit einem 20-Prozent-Pensum die Aufgabe, zu schauen, dass die anderen Direktionen mitmachen. Meine Aufgabe ist, die Akteure zusammenzubringen und die Ziele des Projekts zu erreichen. Meine Nachfolgerin bringt hier die Themen des Amtes ein.

Sie waren lange unter SVP-Regierungsrat Markus Kägi Kantonsplaner, seit fünf Jahren unter dem Grünen Martin Neukom. Hat sich das ausgewirkt?

Die Werthaltung zur Raumplanung im engeren Sinn war nicht sehr unterschiedlich. Aber die Akzente liegen bei Martin Neukom stark auf Themen der erneuerbaren Energie und des Klimas. Aber grundsätzlich gab es keinen vollständigen Bruch.

Zweifache Nachfolge

sho. Der gebürtige Westfale Wilhelm Natrup ist seit 15 Jahren das Gesicht der kantonalen Raumplanung. Als Chef des Amtes für Raumentwicklung (ARE) war er aber noch für weitere Bereiche zuständig, nämlich Denkmalpflege, Archäologie und die Geoinformation, die stark ausgebaut wurde. Er tritt auf Ende Mai zurück und wird dann mit einem externen Mandat Delegierter des Regierungsrats für das Projekt «Wachstum 2050».

Im Zug einer Neuausrichtung wird seine Funktion auf zwei Personen aufgeteilt. Neue Amtschefin ist ab Anfang Juni die Juristin, Anwältin und Raumplanerin Sara Künzli, die seit 2021 im ARE die Abteilung Recht und Verfahren leitet. Sie ist neben Katrin Leuenberger vom Immobilienamt die zweite Amtschefin in der sonst eher männerlastigen Baudirektion. Benjamin Meyer, schon heute Leiter der Abteilung Raumplanung, übernimmt neu die Funktion und den Titel des Kantonsplaners.

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