Montag, Februar 24

Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz will bis Ostern eine Koalition mutmasslich mit der SPD schmieden. Derweil nimmt die AfD die nächste Bundestagswahl in den Blick und die FDP verabschiedet sich von Christian Lindner. Eine Klage des BSW könnte noch für schwere Turbulenzen sorgen.

Die wohl wichtigste Reaktion am Wahlabend kam vom Gewinner selbst. Er wolle, sagte Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, bis Ostern eine Koalition gebildet haben. Das seien acht Wochen, innerhalb derer die neue Regierung unter Führung von CDU und CSU stehen soll.

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Nachdem die Liberalen von der FDP und die Linkspopulisten vom Wagenknecht-Bündnis den Einzug in den Bundestag verpasst haben, wird Merz aller Voraussicht nach mit den Sozialdemokraten über ein Bündnis verhandeln.

Demnach soll es in Deutschland zwei Monate lang eine politische Übergangsphase geben. Während der amerikanische Präsident Donald Trump und Kreml-Herrscher Wladimir Putin in den kommenden Wochen über die Ukraine und das sicherheitspolitische Schicksal Europas entscheiden könnten, bleibt Wahlsieger Merz aussenpolitisch mehr oder weniger handlungsunfähig.

Dabei erklärte er am Sonntag in der ARD, es sei absolute Priorität, Europa zu stärken, um Unabhängigkeit von den USA zu erreichen. «Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas in einer Fernsehsendung sagen muss.» Er sei gespannt auf den Nato-Gipfel im Sommer, «ob wir dann überhaupt noch über die Nato in ihrer gegenwärtigen Verfassung sprechen».

Trump gratuliert und lobt sich selbst

Dort wird er dann voraussichtlich auch auf den amerikanischen Präsidenten treffen. Trump gratulierte Merz am Sonntagabend aus den USA, allerdings nicht ohne sich selbst zu loben. «Dies ist ein grosser Tag für Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika unter der Führung eines Herren namens Donald J. Trump», schrieb er und ergänzte, viele weitere Siege würden folgen. Ähnlich wie in den USA hätten die Menschen genug gehabt von der Agenda ohne gesunden Menschenverstand, insbesondere in den Bereichen Energie und Einwanderung, die seit vielen Jahren vorgeherrscht habe.

Auf welche Siege in welchen Bereichen Trump anspielte, blieb offen. Einer, dessen Land gerade weit entfernt von einem Sieg steht, zählt jedenfalls weiter auf Deutschland. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski schrieb auf X in deutscher Sprache, er setze weiter auf die Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik, «um Leben zu schützen, echten Frieden in die Ukraine zu bringen und Europa zu stärken».

Auch aus anderen Ländern insbesondere Europas trafen am Sonntagabend Glückwünsche bei Merz ein. Der britische Premier Keir Starmer gehörte neben Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu den ersten Gratulanten. Neben den Staats- und Regierungschefs Polens und Italiens werden die beiden zu den wichtigsten Ansprechpartnern für Merz gehören, um schnellstmöglich einen europäischen Sicherheitsverbund zu schmieden. Auch hierfür hat der mutmasslich neue Bundeskanzler im Prinzip keine zwei Monate Zeit.

Kollektives Wundenlecken in Berlin

Zunächst aber waren der Wahlabend und der Morgen danach von einem kollektiven Wundenlecken geprägt. In der SPD, dem Wahlverlierer Nummer eins, zeichnet sich nach dem schlechtesten Ergebnis in der bundesdeutschen Parteigeschichte ein personeller und programmatischer Wandel ab. Parteichef Lars Klingbeil soll neuer Fraktionschef und damit neuer mächtiger Mann werden.

Er würde damit Rolf Mützenich ablösen, der offenbar ebenso zum «alten Establishment» gehört wie Bundeskanzler Olaf Scholz. Scholz hatte am Sonntagabend betont, für die Wiederwahl zum Kanzler angetreten zu sein und nicht für eine andere Tätigkeit. Im Vorfeld der Wahl hatte er gesagt, er wolle auch im Falle einer Abwahl als Kanzler als einfacher Abgeordneter im Parlament bleiben. Scholz hat seinen Wahlkreis Potsdam knapp gewonnen.

Wie es mit der SPD-Parteiführung weitergeht, blieb bisher offen. Die Doppelspitze aus Klingbeil und Saskia Esken steht nach dem historischen Absturz geschwächt da. Esken wich am Wahlabend Fragen zu ihrer Zukunft aus. Eine Doppelfunktion als Partei- und Fraktionsvorsitzender, wie sie Klingbeil mit der Übernahme des Fraktionsvorsitzes dann innehätte, war in der SPD zuletzt nicht mehr üblich.

SPD erwartet schwierige Verhandlungen mit der Union

Nachdem Unions-Kanzlerkandidat Merz am Sonntag mehrfach ausgeschlossen hat, mit der AfD als zweitstärkste Kraft auch nur Gespräche führen zu wollen, bleibt CDU und CSU nur die SPD, um mit einer Parlamentsmehrheit eine Regierung bilden zu können. Die Sozialdemokraten treiben den Preis dafür bereits hoch. Ihr Generalsekretär Matthias Miersch äusserte, er erwarte schwierige Verhandlungen mit der Union. Es gebe keinen Automatismus, sagte er. Die demokratische Mitte müsse jedoch versuchen, in diesen Zeiten zusammenzuarbeiten. Die SPD werde sehen, wie sich Merz in den Gesprächen verhalte.

Unter Merz ist die CDU wieder konservativer und marktliberaler geworden, während die SPD vor allem bei der Migrations-, Wirtschafts- und Sozialpolitik auch unter dem Druck der erstarkten Linkspartei nach links gerückt ist. Sollten sich Union und SPD auf eine Koalition verständigen, heisst das noch nicht, dass sie auch kommt. Noch-Kanzler Scholz sagte am Sonntag, die SPD halte trotz der schwierigen sicherheitspolitischen Lage daran fest, ihre Mitglieder in einem Entscheid über den Vertrag mit der Union abstimmen zu lassen. Auch das wird noch einmal Zeit kosten.

Personeller Umbruch in der FDP

In der FDP, dem Wahlverlierer Nummer zwei, wird es einen noch stärkeren Umbruch geben als in der SPD. Die Liberalen verpassten den Wiedereinzug ins Parlament, der Parteivorsitzende Christian Lindner erklärte noch am Sonntag seinen Rückzug. «Nun scheide ich aus der aktiven Politik aus», schrieb er bei X. Damit zog der 46-jährige nach 25 Jahren in der Politik die Konsequenzen aus dem Abschneiden seiner Partei. Auch Partei-Vize Wolfgang Kubicki erklärte am Sonntagabend zunächst, sich ebenfalls aus der Politik zurückziehen zu wollen.

Am Montag vollzog er dann eine Kehrtwende. Kubicki erklärte überraschend, auf dem Parteitag im Mai möglicherweise für den Vorsitz kandidieren zu wollen. Auch die Europaabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann liess durch Äusserungen den Schluss zu, ihren Hut für den Parteivorsitz in den Ring zu werfen.

AfD will 2029 stärkste Kraft werden

Derweil gibt sich die AfD betont triumphal. Die Co-Vorsitzende Alice Weidel kündigte am Sonntagabend an: «Wir werden zwei Gänge hochschalten». Ziel sei es, bei der nächsten Wahl in voraussichtlich vier Jahren CDU und CSU zu überholen und stärkste Kraft zu werden. Doch trotz einer Verdoppelung der Stimmen auf knapp 21 Prozent herrscht in der Partei selbst eher verhaltene Stimmung.

Sie resultiert offenbar aus der enttäuschten Annahme, die AfD könne mit ihrem Wahlergebnis ein Viertel der Sitze im Bundestag einnehmen. Zwar konnte die Partei in Ostdeutschland nahezu alle Wahlkreise gewinnen und in den dortigen fünf Bundesländern Ergebnisse von mehr als 30 Prozent der Stimmen einfahren. In den bevölkerungsreichen westdeutschen Ländern aber tut sich die AfD vielerorts nach wie vor schwer.

Der Co-Vorsitzende Tino Chrupalla kündigte am Montag an, seine Partei werde sich programmatisch weiterentwickeln und professionalisieren. Dann würde sie bei der nächsten Wahl noch einmal fünf bis sechs Prozent mehr bekommen. Zuvor erwarte er allerdings eine Regierungsbeteiligung der AfD in einem der ostdeutschen Bundesländer. Da müsse sich die CDU überlegen, ob eine «Brandmauer» noch den Erfolg bringe, sagte Chrupalla. Im kommenden Jahr sind unter anderem in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern Landtagswahlen.

Wagenknecht fehlen 14 000 Stimmen

Nachdem am Montagvormittag die AfD in Berlin ihr Wahlergebnis analysiert hatte, war das Wagenknecht-Bündnis, der Wahlverlierer Nummer drei, an der Reihe. Was ihre Parteigründerin dort sagte, könnte noch Zündstoff bergen. Sie wolle juristisch prüfen lassen, ob die Wahl angefochten werden könne, kündigte Sahra Wagenknecht an. Dem amtlichen Endergebnis zufolge fehlten dem BSW lediglich gut 14 000 Stimmen für den Einzug in den Bundestag.

Wagenknecht beklagte, dass «in relevanter Zahl» Menschen nicht an der Wahl hätten teilnehmen können. Damit hebt sie auf viele im Ausland lebende Deutsche ab, deren Briefwahlunterlagen aufgrund der kurzfristig angesetzten Wahl nicht rechtzeitig eintrafen und daher nicht berücksichtigt wurden. Aus ihrer Sicht stelle sich daher schon die Frage nach dem rechtlichen Bestand des Ergebnisses.

Wahlverlierer Nummer vier sind die Grünen. Auch bei ihnen hat es am Montag erste personelle Veränderungen gegeben. Spitzenkandidat Robert Habeck kündigte an, sich aus der Parteispitze zurückzuziehen. Er zieht damit die Konsequenz aus dem Wahlergebnis, das nicht seinen Erwartungen entsprochen habe. Bei der Neuaufstellung der Partei wolle er nun keine führende Rolle mehr beanspruchen oder anstreben, sagte Habeck.

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