Bei den Lokalwahlen in England strafen die Wähler Labour und die Konservativen ab. Grosser Gewinner ist Nigel Farage, der für die Tories immer mehr zur existenziellen Bedrohung wird.

Nigel Farage ist alles andere als ein Neuling auf dem politischen Parkett Grossbritanniens. Seit er 1992 aus der Konservativen Partei austrat, gilt er als Stachel im Fleisch der Tories. Mit seiner EU-skeptischen United Kingdom Independence Party (Ukip) erzielte er Erfolge bei Lokal- und Europawahlen, und er gilt als Wegbereiter der Brexit-Abstimmung von 2016. Letzten Sommer gelang Farage unter dem Banner der 2021 gegründeten Partei Reform UK im achten Anlauf endlich der Einzug ins Unterhaus – zusammen mit vier Mitstreitern.

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Traditionsparteien verlieren

Seit Freitagmorgen nun ist der 61-jährige Farage aber definitiv ein Machtfaktor im Land: Bei einer Nachwahl ins Unterhaus und bei Lokalwahlen in zahlreichen englischen Kommunen vom Donnerstag etablierte sich Reform UK als dritte Kraft auf Augenhöhe mit Labour und den Konservativen, die herbe Verluste erlitten.

Damit bestätigte Reform UK ihre Führungsposition in den nationalen Umfragen, in denen die rechtsnationale Partei auf einen Wähleranteil von 25 Prozent kommt. Vor vier Jahren noch hatten Labour und die Konservativen gemeinsam rund 80 Prozent aller Stimmen auf sich vereint. Nun ist die Parteienlandschaft völlig zersplittert, zumal bei den Lokalwahlen auch die Liberaldemokraten und die Grünen gut abschnitten.

Mit dem Zufallsmehr von sechs Stimmen gewann die Kandidatin der Reform-Partei beispielsweise die Nachwahl um den Unterhaussitz von Runcorn and Helsby in der Nähe von Liverpool. Der Wahlkreis ist seit Jahren fest in der Hand von Labour, im letzten Juli hatte die Partei von Premierminister Keir Starmer den Sitz noch überaus deutlich gewonnen.

Am meisten Sitze luchsten die Rechtsnationalen aber den Konservativen ab, die vor vier Jahren auf dem Höhepunkt der Popularität von Boris Johnson noch besonders gut abgeschnitten hatten. So erzielte Reform UK bei den Lokalwahlen auf Anhieb Mehrheiten in etlichen Gemeinderäten. Im konservativ geprägten Lincolnshire an der englischen Ostküste gewann die Reform-Partei mit der Tory-Überläuferin Andrea Jenkyns ihr erstes Bürgermeisterrennen.

Früher hatte Farage die Konservativen bloss inhaltlich unter Druck gesetzt und ihnen etwa einen harten Brexit abgerungen. Nun aber macht er ihnen die Rolle als wichtigste Partei im rechten Lager streitig – ähnlich wie vor hundert Jahren, als Labour die Liberaldemokraten als stärkste Kraft im linken Lager ablöste. Farage bezeichnete diese Entwicklung am Freitag bereits als Tatsache: «Wir haben die Konservative Partei als wichtigste Oppositionskraft ersetzt.»

Auf den Spuren von Donald Trump?

Nun spekulieren viele britische Medien, ob die Welle des Erfolgs Farage ins Amt des Premierministers tragen könnte. Bis dahin ist es ein weiter Weg: Lokalwahlen gelten immer auch als Protestwahlen, und die nächste Unterhauswahl findet wohl erst 2029 statt. Farages Stern kann wieder sinken. Die Wahl in Kanada hat jüngst gezeigt, wie schnell sich politische Gewichte verschieben können. Doch schreibt der nicht für seinen Alarmismus bekannte «Economist», die Chancen, dass Farage nach der nächsten Unterhauswahl das Zepter übernehme, seien viel grösser, als den meisten Briten bewusst sei.

Als Chef der Ukip konnte Farage Gewinne bei Lokal- und Europawahlen nie in einen Erfolg bei Unterhauswahlen ummünzen. Nun aber hat sich die Ausgangslage verändert. So ist Reform UK professioneller aufgestellt. Die Rechtspartei hat in den letzten Monaten nicht nur Tausende von Mitgliedern, sondern auch viele Geldgeber rekrutiert. Dank solider Basisarbeit gelang es Farage, für alle Lokalwahlen Kandidaten aufzustellen.

Da Donald Trump in Grossbritannien unbeliebt ist, vermeidet Farage neuerdings allzu grosse Nähe zu seinem Freund und Vorbild. Doch setzt der charismatische Redner ähnlich wie Trump auf Massenkundgebungen, um die Wähler zu mobilisieren. In Birmingham kam vor einigen Wochen die Rekordzahl von zehntausend Personen zusammen. Von Licht- und Soundeffekten begleitet, liess sich Farage von einem Bagger ins Stadion fahren, wo er Keir Starmer und Boris Johnson als zwei Clowns aus dem Zirkus der «Einheitspartei» des Establishments verspottete.

Vor allem aber zeigen die Lokalwahlen, dass die Wähler der Konservativen Partei, die während vierzehn Jahren an der Macht war, noch immer überdrüssig sind. Gleichzeitig hat auch Keir Starmer mit unpopulären Massnahmen wie der Kürzung von Heizzuschüssen für Rentner sehr früh sehr viel Goodwill verspielt. Daher präsentiert sich Farage als letzte Hoffnung für die Briten, die seit der Brexit-Abstimmung immer wieder für Veränderung stimmen, ohne dass sich im Land viel zum Guten verändert hätte.

Der Unmut über die Traditionsparteien scheint wichtiger zu sein als Farages unausgegorenes Programm. Einen Nerv trifft seine Forderung nach einer drastischen Reduktion der Einwanderung, die seit dem Brexit stark gestiegen statt wie versprochen gesunken ist. Zudem gibt sich der einstige Banker und Wirtschaftsliberale als Held der Arbeiterklasse: Er fordert die Verstaatlichung des maroden Stahlwerks von Scunthorpe, verspricht den Rentnern die Rückkehr der staatlichen Heizzuschüsse und will Geringverdiener von der Steuerpflicht befreien.

Rechter Schulterschluss?

Kann Farage sein Popularitätsniveau halten, wird die nächste Unterhauswahl zum Vabanquespiel. Nimmt man die heutigen Resultate und Umfragen als Basis, könnte Reform UK statt der heutigen 5 etwa 230 der 650 Unterhaussitze erringen. Doch das Majorzwahlrecht ist auf ein Duell der zwei grössten Parteien und nicht auf ein Mehrparteiensystem ausgerichtet. Wenn die Reform-Partei und die Konservativen die rechten Wähler spalten, könnte sich am Ende auch Labour als grosse Nutzniesserin erweisen.

Daher dürften jene Stimmen Auftrieb erhalten, die auf eine Allianz zwischen den Tories und Reform UK drängen. Die glücklose Tory-Chefin Kemi Badenoch lehnt einen solchen Pakt ab, während ihr Rivale Robert Jenrick, der Schattenjustizminister, jüngst den rechten Schulterschluss propagierte. Allerdings drohen die Konservativen mit einem Rechtsruck Wähler an die Liberaldemokraten zu verlieren, die den Tories im Zentrum das Wasser abgraben.

Farage wähnt sich in der Position der Stärke und lehnt einen Pakt mit den Tories vorderhand ebenfalls ab. Er hofft, die Konservativen in den nächsten Jahren definitiv als stärkste rechte Oppositionskraft zu verdrängen. Aus Sicht von Labour stellt Farage daher eine strategische Herausforderung dar – vor allem in den historischen Stammlanden im postindustriellen Nordengland. Doch aus Sicht der Konservativen Partei wirken Farage und seine Reform-Partei zunehmend wie eine existenzielle Bedrohung.

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