Samstag, September 28

Vor vierzehn Jahren hat sich die weltbekannte Autorin zu einer naiven Sympathiebekundung für die Separatisten in Kaschmir hinreissen lassen. Nun soll sie dafür büssen.

Nächste Woche wird die Polizei von Delhi in einem seit vierzehn Jahren anhängigen Verfahren formell Anklage gegen die Schriftstellerin Arundhati Roy erheben. Es geht dabei um Äusserungen, die sie im Oktober 2010 an einer Konferenz über Kaschmir in Delhi gemacht hat.

An der Seite eines bunten Haufens islamistischer Radikaler, linker Intellektueller und Sympathisanten der Separatisten hatte Arundhati Roy – vielleicht etwas naiv – erklärt, dass «Kaschmir kein integraler Bestandteil Indiens ist und es nie war». Sie hatte damit die Befürworter einer Abspaltung des Teilstaates vom Rest des Landes unterstützt, die ihr damals begeistert applaudierten.

Im Jahr 2010 hatte ein Bezirksgericht die Äusserungen der Schriftstellerin zur Kenntnis genommen und ein Verfahren eingeleitet, das jedoch nicht weiterverfolgt wurde. Die Logik war, dass die blosse juristische Registrierung des Vorfalles ausreichen würde, um die Missbilligung des Staates kundzutun und die Schriftstellerin davor zu warnen, solche Äusserungen zu wiederholen.

Politisches Manöver

In den meisten Ländern ist es illegal, die Abspaltung eines Landesteils zu propagieren. Indien ist da keine Ausnahme. Die Wunden der früheren Teilung aus religiösen Gründen durch die abziehenden Briten im Jahr 1947 sind noch immer nicht verheilt. An Indiens Westgrenze wiederum droht Pakistan mit Terroranschlägen auf indisches Territorium (und verübt sie auch gelegentlich) und hält damit einen Konflikt am Gären, um die Abspaltung Kaschmirs von Indien und den Zusammenschluss mit Pakistan zu fördern. Das alles macht Äusserungen wie jene von Arundhati Roy im indischen Kontext besonders heikel.

Es wäre etwa so, wie wenn in der Schweiz ein Sprecher von Separatisten aus der Romandie die Vereinigung von Genf mit Frankreich fordern würde. Wobei der indische Fall insofern gravierender ist, als es keine gewalttätige Genfer Sezessionsbewegung gibt, die von Frankreich bewaffnet, finanziert und gelenkt wird. Vor dem Hintergrund der Militanz, mit der Indien bedrängt wird, war die Aussage von Arundhati Roy in der Tat aufrührerisch und darum unklug. Aber heute, vierzehn Jahre später, Anklage zu erheben, erscheint unverhältnismässig. Es ist offenkundig ein politisches Manöver.

Auch wenn ich Arundhati Roy als Menschen und Schriftstellerin bewundere, schätze ich ihre politischen Ansichten und Urteile nicht sehr. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Kaschmir schon immer ein integraler Bestandteil Indiens war. Etwas anderes zu behaupten, lässt entweder auf Unwissenheit oder Naivität schliessen, was beides keine Tugenden sind, wenn man sich zu solch heiklen Themen äussert.

Opportunistische Anklage

Bereits Arundhati Roys frühere Schriften, in denen sie die maoistischen Dschungelkrieger als «Gandhianer mit Gewehren» romantisierte, hatten bei vielen Freunden und Bewunderern ein erschüttertes und verzweifeltes Kopfschütteln hervorgerufen. Wenn man so bereitwillig auf jeden Radikalen hereinfällt, der gegen den indischen Staat kämpft und es vorzieht zu töten, um seine Sache voranzubringen, warum sollte der indische Staat dann nicht mit Argwohn reagieren?

Dennoch hielt es die damalige von der Kongresspartei geführte Regierung in Delhi im Jahr 2010 nicht für nötig, die Schriftstellerin wegen ihrer Äusserungen strafrechtlich zu verfolgen. Narendra Modis derzeit regierende Bharatiya Janata Party (BJP), die damals in der Opposition war, forderte dies zwar lautstark, aber die Polizei von Delhi vertrat die Auffassung, dass die Worte von Arundhati Roy, so fehlgeleitet sie auch gewesen sein mögen, für eine Anklageerhebung nicht ausreichten.

Damals führte die Zentralregierung einen Friedens- und Versöhnungsdialog in Kaschmir, um die Normalität wiederherzustellen, und war vermutlich der Ansicht, dass eine strafrechtliche Verfolgung von Arundhati Roy eine unnötige Ablenkung von ihrem Hauptziel darstellen würde. Obwohl sich der vorsitzende Magistrat über die Polizei hinwegsetzte und anordnete, den Fall zu registrieren, wurde dieser nicht weiterverfolgt.

Heute haben sich die Verhältnisse jedoch geändert. Die BJP ist an der Macht und hat 2019 einige weitreichende Änderungen in Kaschmir durchgesetzt, darunter die Aufteilung des Staates und die Herabsetzung des Status von Kaschmir zu einem direkt von Delhi aus regierten Unionsterritorium. Abschnitt 13 des Gesetzes zur Verhinderung rechtswidriger Handlungen (Unlawful Activities Prevention Act), bekannt als UAPA, nach dem Arundhati Roy strafrechtlich verfolgt werden soll, umfasst Straftaten, darunter «Befürwortung, Beihilfe oder Anstiftung zur Begehung einer rechtswidrigen Handlung», die mit bis zu sieben Jahren Haft und einer Geldstrafe geahndet werden können.

Die meisten von uns würden eine solche Bestrafung für eine unbedachte Wortwahl als übertrieben empfinden. Die freie Meinungsäusserung zu kriminalisieren, so provozierend diese Meinung auf die Behörden auch wirken mag, ist kaum eine Massnahme, die einer Demokratie würdig ist.

Die Anklageerhebung im Fall Roy soll eindeutig ein breiteres Signal aussenden. Die BJP ist bei den jüngsten Wahlen mit einer geringeren Anzahl von Sitzen an die Macht zurückgekehrt. Sie sah sich für die Regierungsbildung gezwungen, eine Koalition mit mehreren kleineren Parteien zu bilden. Umso entschlossener scheint sie gegen Widerspruch und Kritik vorgehen zu wollen, wie es die Opposition im Wahlkampf vorausgesagt hat.

Dies ist eine Regierung, die abweichende Meinungen als staatsfeindlich delegitimiert und ihre Kritiker auffordert, «nach Pakistan zu gehen», als ob in Indien kein Platz für ihre abweichenden Ansichten wäre. Und dennoch liebt es dieselbe BJP-Regierung, der Welt von der vorbildlichen Demokratie zu predigen, die sie in einem Land führt, das sie ständig (und unverschämt) als «Mutter der Demokratie» bezeichnet – ohne sich für diese Anmassung bei den Griechen zu entschuldigen.

Hartes Signal an Oppositionelle

Wenn die Regierung den Fall Roy so weiterverfolgt, wie sie es offenbar will, besteht die Gefahr, dass die unappetitlichsten Seiten des derzeitigen Modi-Regimes offenkundig werden. Ein paar schlecht gewählte Worte vor vierzehn Jahren stellen keinerlei Sicherheitsbedrohung für den Staat dar, und der Versuch, sie zu bestrafen, manifestiert ein Mass an Kleinlichkeit, das einer Regierung schlecht ansteht.

Der von Mahatma Gandhi formulierte Grundsatz, dass es den Indern unbenommen sei, gegen die Regierung zu sagen, was sie wollten, solange sie nicht zur Gewalt aufriefen, wird heute geringgeschätzt. Stattdessen will die BJP Andersdenkenden innerhalb Indiens ein hartes Signal senden, dass Konformität erwartet wird, andernfalls wird es Konsequenzen geben. Damit wird die Latte für die Meinungsfreiheit noch niedriger gelegt.

Nach aussen hin wird sich die strafrechtliche Verfolgung und wahrscheinliche Verurteilung einer angesehenen, beliebten und charismatischen, im Westen hochgeschätzten Schriftstellerin jedoch als Eigentor erweisen. Es wird die Ansicht derjenigen bestätigen, die Indien bereits von einer Demokratie zu einer «Wahl-Autokratie» herabgestuft und seinen Rang in der Weltrangliste der Pressefreiheit herabgesetzt haben.

Arundhati Roy wird vielleicht für kurze Zeit ins Gefängnis gehen, vielleicht aber auch nicht. Sollte sie tatsächlich in eine Haftanstalt geführt werden, würden sich die Bilder in die globale Vorstellung von Indien einbrennen und das Ansehen Narendra Modis noch weiter beschädigen. Die Schriftstellerin mag dann in einer Zelle sitzen, er aber wird sich dem globalen Spott ausliefern. Es ist noch nicht zu spät, ein solch schmachvolles Schicksal zu vermeiden, indem man die Anklage einfach zurückzieht.

Shashi Tharoor ist Schriftsteller und Jurist. Er ist seit 2009 Mitglied des indischen Unterhauses und wurde bei den jüngsten Wahlen als Mitglied der Opposition wiedergewählt. – Aus dem Englischen von rbl.

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