Mittwoch, Oktober 2

Ein Schlepper steht vor einem Zürcher Gericht. Es ist die Geschichte eines skurril getarnten, aber skrupellosen Geschäfts mit Migranten.

Es ist ein kalter Tag im Januar, zwei Kameruner warten am Hauptbahnhof Zürich. Sie werden von Polizisten beobachtet, nach einiger Zeit kontrolliert. Die Männer behaupten, Spieler der kamerunischen Handball-Nationalmannschaft zu sein. Sie würden unter der «ordre de mission» via Addis Abeba und Genf nach Ägypten reisen, um dort an der Afrikameisterschaft teilzunehmen.

Doch etwas an ihrer Geschichte ist merkwürdig: Die Handball-Afrikameisterschaft in Ägypten ist zu diesem Zeitpunkt bereits im Gang – das erste Match hatten die Kameruner bereits gegen die Kongolesen gewonnen – und die Männer wirken nicht sehr sportlich.

Und tatsächlich zeigt sich bald: Die Geschichte mit der Handballmannschaft ist frei erfunden. Sie ist bloss ein Vorwand, um nach Europa reisen zu können. Die beiden Männer sind Teil einer 19-köpfigen Gruppe, die von Schleppern nach Europa geschleust wurden. Das Ziel ihrer Reise: Frankreich.

Nur wenige Stunden vor der Begegnung mit der Polizei sitzen die falschen Handballer im Flugzeug, das sie aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba nach Zürich bringt. Nach der Landung passieren sie problemlos die Einreisekontrolle – mit echten Dokumenten, die jedoch auf falschen Angaben beruhen und von Mittelsmännern in ihrem Heimatland ausgestellt wurden. Keiner aus der Reisegruppe hat jedoch ein Visum, das für reguläre kamerunische Staatsangehörige erforderlich gewesen wäre.

Der Fall der vermeintlichen kamerunischen Handballmannschaft ist nur die Spitze des Eisbergs eines weit verzweigten Systems von Menschenschmuggel. Die kamerunische Gruppe, die über eine vergleichsweise sichere Route in die Schweiz kam, steht stellvertretend für Millionen von Menschen. Menschen, die versuchen, nach Europa zu gelangen. Dabei zahlen sie erhebliche Summen an Schleusern, mit dem Ziel, in Europa unterzutauchen oder Asyl zu beantragen.

«Ein Moment der Verwirrung»

Bei der Befragung erzählen die beiden falschen Handballer den Ermittlern, wer ihr Schleuser ist: Claude Boubakari (Name geändert). Er soll der mutmassliche Mittelsmann bei der Aktion gewesen sein.

Boubakari arbeitet als stellvertretender Generalsekretär in der Kamerunischen Handball-Föderation. Laut den am Hauptbahnhof festgehaltenen Männern soll er im Januar als Leiter der angeblichen Nationalmannschaft agiert haben.

Die 19 Fake-Handballer reisen weiter nach Frankreich und tauchen dort unter, Boubakari bleibt vorerst in der Schweiz.

Neun Tage vergehen, dann geht er den Ermittlern ins Netz. Als er am Abend des 28. Januars wieder in seine Heimat zurückfliegen will, wird er am Flughafen Zürich verhaftet. In seinem Gepäck: die Pässe aller Mitglieder der angeblichen Handballmannschaft.

Nun, knapp ein halbes Jahr später, steht Claude Boubakari vor dem Bezirksgericht in Bülach. Pünktlich um 8 Uhr 30 erscheint der 45-jährige Kameruner im Gerichtssaal – an den Händen gefesselt und begleitet von zwei Polizisten. Er trägt einen beigen Kapuzenpullover, dunkelblaue Jeans und weisse Sneakers.

Die Richterin fragt Boubakari: «Warum haben Sie das gemacht?» Boubakari antwortet, er habe bloss seinem Bruder helfen wollen. Dieser habe Epilepsie und brauche eine Therapie in Frankreich. Der Bruder war ebenfalls Teil der Gruppe, die illegal durch die Schweiz und weiter nach Frankreich gereist ist. Boubakari sagt: «Mir wurde vorgeschlagen, die Delegation zu begleiten, um meinem Bruder zu helfen. Deshalb bin ich vom rechten Weg abgekommen.»

In der Untersuchung macht er Angaben zu seinem Auftraggeber. Es handle sich um den Vizepräsidenten des kamerunischen Handballverbands. Diesem muss Boubakari laut eigenen Angaben auch einen Grossteil des erhaltenen Geldes abgeben. Mindestens 10 000 Euro soll er von den 19 Personen aus der Gruppe erhalten haben, 2500 darf Boubakari behalten, 7500 gehen an seinen Chef.

Boubakari gesteht die Anschuldigung ein. Er sagt über sich selbst: «Ich hatte einen Moment der Verwirrung.»

Der Zürcher Staatsanwalt Daniel Aepli hat im Fall der angeblichen Handballer ermittelt. Er sagt: «Es handelt sich zwar um eine skurrile Tarnung. Aber letztlich ist dies einfach eine von vielen Varianten eines Systems, mit dem skrupellose Schlepperbanden Menschen quer durch Europa schleusen.»

Ein ausgeklügeltes System mit professionellen Strukturen

Der Fall reiht sich in eine Serie ähnlicher Vorfälle ein, bei denen der Sport als Tarnung für illegale Migration diente. Im Dezember des letzten Jahres verschwanden 2 kamerunische Handballspielerinnen kurz vor der Weltmeisterschaft in Skandinavien. Es wird angenommen, dass die Frauen das Team freiwillig verlassen haben und untergetaucht sind.

Bei der WM 2021 in Spanien tauchten 4 kamerunische Spielerinnen kurz nach der Vorrunde unter. Auch diese Frauen haben laut den spanischen Behörden all ihre Sachen mitgenommen, bevor sie das Hotel in Valencia verlassen hatten.

Auch 10 Spieler der U-19-Mannschaft aus Burundi verschwanden während einer WM in Kroatien. Sie tauchten einige Monate später in Belgien auf, wo sie Asyl beantragten.

Diese Fälle stellen die Behörden vor neue Herausforderungen. Die Schweiz, zentral in Europa gelegen, ist immer wieder von Menschenschmuggel betroffen – sei es als Transit- oder Zielland. Für das Jahr 2022 listet das Bundesamt für Statistik gut 1000 Fälle unter dem Straftatbestand «Förderung der rechtswidrigen Ein- oder Ausreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts» auf.

Für die Schlepper ist das Geschäft mit Flüchtlingen und Arbeitsmigranten lukrativ. Das zeigen Zahlen von Europol. Laut der europäischen Polizeibehörde müssen Flüchtlinge etwa für die Route von der Türkei nach Italien bis zu 12 000 Euro hinblättern – pro Person.

Je mehr ein Migrant bezahlen kann, desto besser und sicherer wird er ins Zielland geschleust. Doch wie vieles in diesem Geschäft ist auch das keine Gewissheit. Manchmal verlangen Banden laut Europol auch für eine Fahrt in einem überfüllten Transporter so viel, wie andere für eine Reise per Flugzeug bezahlen. Mitsamt gefälschtem Pass.

Die Motive für solche Aktionen sind oft in der wirtschaftlichen und politischen Situation der Herkunftsländer zu finden. Kamerun zum Beispiel gilt als das wirtschaftlich stärkste Land der Zentralafrikanischen Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, kämpft aber wie viele afrikanische Staaten mit hoher Jugendarbeitslosigkeit und zunehmender Instabilität.

Hochprofessioneller Bereich der «Migrationskriminalität»

Das Bezirksgericht in Bülach spricht Boubakari am Mittwoch wegen Verstosses gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz schuldig. Er soll 19 Personen die illegale Ein- und Durchreise in den Schengenstaat Schweiz ermöglicht und diese gefördert haben. Das Gericht verurteilt ihn deswegen zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 24 Monaten. Zudem darf Boubakari die Schweiz während sechs Jahren nicht mehr betreten.

Die Richterin sagt bei der Urteilseröffnung, Boubakari sei Teil einer gut geölten Maschinerie gewesen. Die Verantwortlichen hätten einen ziemlichen Aufwand betrieben, um die Reise zu tarnen. «Wir befinden uns in einem hochprofessionellen Bereich der Migrationskriminalität.»

Boubakari wird nun dem Zürcher Migrationsamt überstellt, das die Ausreise organisiert. Bis dann bleibt er wohl hinter Gittern.

Die beiden Kameruner, die am Hauptbahnhof kontrolliert wurden, erhielten einen Strafbefehl und wurden kurz darauf entlassen. Seitdem fehlt von ihnen und den 17 anderen Kamerunern jede Spur – nach Angaben der Staatsanwaltschaft sind sie vermutlich in Frankreich untergetaucht.

Urteil DH 240 034 vom 3. 7. 24, noch nicht rechtskräftig.

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