Mittwoch, Oktober 2

Der Abstimmungskampf über die Zukunft der beruflichen Vorsorge war geprägt durch bewusste Irreführungen. Zum Abschluss hier ein Versuch, das Gesamtbild zu sehen.

Wer im Abstimmungskampf zur Pensionskassenreform nicht den Durchblick gewonnen hat, ist entschuldigt. Das Vorsorgesystem ist kompliziert, die Umverteilungskanäle sind versteckt, zentrale Begriffe wie «Umwandlungssatz» und «Koordinationsabzug» sind schwer verdaulich, und die Gewerkschaften haben das Publikum in ihrer Referendumskampagne gezielt in die Irre geführt.

Doch es ist möglich, einen Schritt zurück zu machen für einen besseren Blick auf das Gesamtbild. Hier ein Versuch auf der Basis von vier zentralen Kriterien zur Beurteilung dieser Abstimmungsvorlage:

1. Was bringt mir das Ganze?

Man hat alles gehört: Die Renten steigen, die Renten sinken, die Lohnabzüge steigen, die Lohnabzüge sinken. Klar ist: Die Kernbehauptung des Referendumskomitees («mehr bezahlen für weniger Rente») ist irreführend. Sie suggeriert, dass die Versicherten gleich doppelt Reformverlierer seien. Richtig ist stattdessen: Die Reform vernichtet und schafft per saldo keinen Wohlstand. Sie erhöht den obligatorischen Versicherungsschutz für Jahreseinkommen bis etwa 70 000 Franken einschliesslich Teilzeitbeschäftigter zum Preis höherer Lohnabzüge, und sie verändert die Verteilung.

Die meisten Erwerbstätigen in der zweiten Säule sind weit über das gesetzliche Minimum hinaus versichert. Für diese hat die Reform deshalb kaum einen direkten Einfluss auf die Höhe der Renten und der Lohnabzüge (Lohnbeiträge). Laufende Renten sind ohnehin nicht betroffen. Direkt betroffen sind vor allem jene etwa 10 bis 20 Prozent der Versicherten, die kaum eine überobligatorische Abdeckung haben.

Innerhalb dieser Gruppe dürfte es deutlich mehr Rentenerhöhungen als Rentensenkungen geben. Im Einzelfall hängen die Folgen unter anderem von Alter, Jahreslohn, Karriereentwicklung und der Pensionskasse ab. Höhere Renten gibt es vor allem bei Jahreslöhnen bis 50 000 Franken und in gewissen Altersgruppen bis 70 000 Franken.

Letztlich zählt der Saldo der Änderungen von Renten und Lohnbeiträgen. Die Tendenz hier: Tiefere Lohnklassen (bis vielleicht etwa 50 000 Franken pro Jahr) sind eher Nettogewinner, höhere Lohnklassen sind eher Nettoverlierer. Damit zählen auch Teilzeitbeschäftigte eher zu den Nettogewinnern. Zu dieser Gruppe zählen weit überdurchschnittlich viele Frauen.

2. Alt contra Jung

Längst nicht alle Bürger schauen nur auf das eigene Portemonnaie. Der ursprüngliche Treiber der Reform war die Reduktion der versteckten Umverteilung von Erwerbstätigen zu Rentnern. Das gesetzliche Rentenminimum ist zurzeit rechnerisch zu hoch. Die Pensionskassen finanzierten die überhöhten Renten durch Zusatzbelastungen für die Erwerbstätigen. Das hiess bisher: Wegen überhöhter Renten heute werden die späteren Renten für die Jüngeren tiefer sein, als es sonst möglich wäre.

Die Reform senkt das gesetzliche Rentenminimum für Neurentner. Für sich allein hiesse das tiefere Renten für heute ältere Erwerbstätige – und entsprechend höhere Renten später für Jüngere, weil diese die Älteren weniger subventionieren müssten. Doch die Reform enthält auch Rentenzuschläge als «Kompensation» für 15 Übergangsjahrgänge (50- bis 64-Jährige) zulasten der Jüngeren.

Per saldo sind deshalb die Älteren zunächst eher Nettogewinner der Reform und die Jüngeren eher Nettoverlierer. Das Bild kehrt sich erst langfristig um – je nach Sichtweise nach etwa 15 Jahren oder sogar noch später. Deshalb ist die schweizerische Kammer der Pensionskassenexperten gegen die Reform. Dies ironischerweise aus einer Haltung, die dem Gegenteil der Haltung der Gewerkschaften entspricht.

3. Kosten für die KMU

Die bisherigen Aussagen zu Gewinnern und Verlierern unterstellten, dass die Arbeitnehmer die Lohnbeiträge voll selber schultern. Formal zahlen aber die Arbeitgeber mindestens die Hälfte der Lohnbeiträge. Damit sähe die Reform für die Angestellten viel besser aus als oben angedeutet, weil sie den Ausbau des Versicherungsobligatoriums nur zur Hälfte selbst finanzieren müssten.

Doch in der Praxis wird die Erhöhung der Lohnnebenkosten von Arbeitgebern mittel- bis längerfristig wahrscheinlich grossenteils auf die Angestellten überwälzt: Die Bruttolöhne steigen weniger, als sie sonst steigen würden, Nebenleistungen werden reduziert, der Produktionsdruck steigt, die Zahl der Stellen sinkt. Zum Teil mögen Firmen Zusatzkosten auch auf die Preise überwälzen – was wiederum auch die Arbeitnehmer als Konsumenten trifft.

Mindestens theoretisch könnten die Arbeitgeber auch eine Reduktion ihrer Gewinnmargen akzeptieren. Bei der Pensionskassenreform sind aber vor allem Branchen mit relativ tiefen Löhnen und tiefen Gewinnmargen wie zum Beispiel das Gastgewerbe besonders stark betroffen. Der Spielraum für Margensenkungen dürfte daher bestenfalls bescheiden sein.

Die Reform bringt eine Erhöhung von Lohnbeiträgen bei vielen Tiefverdienern. Teile des Gewerbes sind wegen dieses Anstiegs der Lohnnebenkosten sehr kritisch. Die Versuche der Firmen zur Überwälzung dieser Zusatzkosten werden kommen, aber für die Arbeitgeber ist das ein mühsamer Prozess.

4. BVG contra AHV

Die Reform baut das Obligatorium in der beruflichen Vorsorge (BVG) bei tieferen Einkommen aus. Die Grundidee: höhere Einzahlungen heute für höhere Renten später. Das kann man wollen – oder auch nicht. Die Linke will das nicht, weil sie die Vorsorge via Pensionskassen grundsätzlich so klein wie möglich halten möchte. Denn im BVG gilt das Prinzip «man spart für seine eigene Rente».

In der AHV gehören dagegen versteckte Quersubventionierungen von Jung zu Alt und von oben nach unten zum Kern des Systems. Die Linke kämpft darum stetig für einen Ausbau der AHV und will das traditionelle Pensionskassensystem möglichst blockieren. Für den einzelnen Stimmbürger mag die Grundhaltung in dieser Frage ein zentrales Entscheidungskriterium sein.

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