Dienstag, Oktober 8

Die Geschlechterfrage könnte beim Urnengang vom September über die Pensionskassenreform eine entscheidende Rolle spielen. Laut den Befürwortern profitieren vor allem die Frauen vom Ausbau des Versicherungsschutzes für tiefere Jahreseinkommen. Letztlich ist dies aber Ansichtssache.

«Rentenlücke». Das ist ein klassischer politischer Kampfbegriff, der mehr vernebelt als erhellt. Was der Begriff meint: Frauen haben im Mittel tiefere Renten als Männer. Immerhin erhalten Frauen dank höherer Lebenserwartung ihre Rente bei gleichem Pensionierungsalter im Mittel etwa drei Jahre länger als Männer, und bisher kam noch das tiefere Pensionierungsalter hinzu. Die Lebenserwartung ist indes nicht der Grund für die Geschlechterdifferenz bei den Jahresrenten.

Gemäss Bundesstatistik lag 2022 in der beruflichen Vorsorge (Zweite Säule via Pensionskassen) der Durchschnitt der Bezüge bei männlichen Neurentnern bei 2656 Franken pro Monat. Frauen bezogen im Mittel «nur» 1611 Franken, also fast 40 Prozent weniger. Auch bei den Kapitalbezügen sind die Durchschnittsbeträge bei Männern deutlich höher. Die Geschlechterdifferenz ist vor allem bei den Verheirateten gross; dort ist sie indes wenig bedeutend, weil Renten bei Verheirateten faktisch beiden Ehepartnern zugutekommen (sollten). Bei den Ledigen ist die Geschlechterdifferenz mit rund 7 Prozent viel kleiner.

Wer mehr zahlt, bekommt mehr

Aber solche Nuancen finden kaum den Weg in die Megafone der Bundespolitik. Vor allem die Linke stellt die «Rentenlücke» als so etwas wie einen Skandal dar. Doch Männer beziehen im Mittel schlicht darum höhere Renten, weil sie zuvor mehr einbezahlt hatten. In der Zweiten Säule spart man im Prinzip für sich selber: Wer mehr einzahlt, bekommt später entsprechend mehr Rente. So gibt es naturgemäss eine «Rentenlücke» zwischen Personen, die mehr einzahlten, und solchen, die weniger beitrugen.

Wer das als unfair empfindet, müsste auch fordern, dass man in einem Möbelgeschäft für 10 000 Franken kein besseres Möbelstück bekommt als für 2000 Franken. Und dass ein Generalabonnement der SBB nicht mehr kosten darf als ein regionales Verkehrsabonnement. Und dass man mit 2000 Franken keinen längeren Flug kaufen kann als mit 200 Franken. Und, und, und.

Die tieferen Einzahlungen der Frauen bei den Pensionskassen im Vergleich zu den Männern haben einen simplen Grund: Der versicherte Lohn liegt bei Frauen im Mittel deutlich tiefer. Der wichtigste Faktor ist die tiefere Erwerbsbeteiligung. Frauen sind im Durchschnitt weniger häufig erwerbstätig als Männer, und bei den Erwerbstätigen ist die Teilzeitquote der Frauen weit höher. Das hat stark mit der traditionellen Rollenverteilung der Geschlechter bei der Kinderbetreuung zu tun. Diese Rollenverteilung können Paare aber nach ihren Vorlieben frei gestalten.

Selbst bei allein lebenden und kinderlosen Personen ist die Erwerbsquote bei Männern leicht höher als bei Frauen, und die Teilzeitquote ist bei Männern weit tiefer.

Hinzu kommen Lohndifferenzen bei vergleichbarem Pensum. 2022 lag der mittlere Lohn (Median) bei den Frauen um 9,5 Prozent unter dem Niveau der Männer. Das hat unter anderem mit Unterschieden in Branche, Hierarchiestufe, Berufserfahrung und Anforderungsprofil zu tun. In welchem Umfang auch Geschlechterdiskriminierung hineinspielt, ist die alte ungelöste Streitfrage.

Die Lücke wird kleiner

Doch hier ist die gute Nachricht: Die Abstimmungsvorlage zur Pensionskassenreform dürfte die prozentuale «Rentenlücke» zwischen den Geschlechtern verkleinern. Die Reform hat zwei Kernziele: Erstens eine Senkung des gesetzlichen Rentenminimums zwecks Reduktion der versteckten Quersubventionierung von Erwerbstätigen zu Rentnern; dies wird relativiert durch Rentenzuschläge für 15 Übergangsjahrgänge als «Kompensation» für die Senkung.

Das zweite Kernelement ist der Ausbau des Versicherungsschutzes im Obligatorium der beruflichen Vorsorge (BVG) für tiefere Jahreseinkommen einschliesslich Teilzeitbeschäftigte. Zum einen wären künftig Jahreslöhne ab 19 845 Franken zwingend versichert statt wie bisher ab 22 050 Franken. Laut dem Bund kämen damit etwa 70 000 Personen zusätzlich ins Obligatorium.

Weit stärker ins Gewicht fällt, dass ein höherer Anteil des Jahreslohns versichert sein müsste. Neu wären 80 Prozent des Jahreslohns bis 88 200 Franken obligatorisch versichert – statt wie derzeit der Jahreslohn minus einen fixen Betrag («Koordinationsabzug» von 25 725 Franken). Je tiefer der Jahreslohn liegt, desto grösser ist der Ausbau. Bei einem Jahreslohn von zum Beispiel 30 000 Franken sind bisher 4275 Franken obligatorisch versichert, neu wären es 24 000 Franken. Bei einem Lohn von 80 000 Franken sind bisher 54 275 Franken versichert, neu wären es 64 000 Franken.

Ist ein grösserer Anteil des Lohns versichert, führt dies bei unveränderten Beitragssätzen zu höheren Lohnabzügen (Lohnbeiträgen) in absoluten Zahlen. Doch gleichzeitig ändert die Reform auch die prozentualen Beitragssätze. Bisher gab es je nach Alter vier unterschiedliche Sätze, neu gäbe es noch zwei: 9 Prozent für 25- bis 44-Jährige und 14 Prozent für 45- bis 64-Jährige. Dies erhöht die prozentualen Lohnbeiträge bis Alter 34 und senkt sie danach.

Umverteilung via Zuschläge

Hinzu kommen die Rentenzuschläge für die Übergangsjahrgänge. Diese Zuschläge bringen per saldo keine Rentenerhöhungen, sondern nur eine (weitere) Quersubventionierung von Jung zu Alt und von oben nach unten. Die Rentenzuschläge werden faktisch die Erwerbstätigen zahlen – etwa durch Reduktion der Verzinsung des Vorsorgekapitals und später entsprechend tiefere Renten. Weil aber tiefere Einkommen weit eher von Rentenzuschlägen profitieren als höhere Einkommen, bringen die Zuschläge per saldo auch eine Umverteilung von Männern zu Frauen.

Die Gesamtwirkung aller Reformelemente hängt stark von den Umständen des Einzelfalls ab. Da der Grossteil der Versicherten deutlich über das geltende Obligatorium hinaus versichert ist, würde die Reform für die meisten keine grossen direkten Wirkungen haben und nur relativ bescheidene indirekte Wirkungen. Stärker betroffen wären jene schätzungsweise 10 bis 30 Prozent der Versicherten, die nur im Obligatorium oder wenig darüber hinaus abgedeckt sind. Das dürften überproportional viele Frauen sein.

Eine Tendenz innerhalb dieser Gruppe ist deutlich: Je tiefer der Jahreslohn liegt, desto eher steigt die Rente. Die Renten werden bei Frauen eher steigen als bei Männern, weil Frauen bei den tieferen Jahreslöhnen stark überproportional vertreten sind. So waren zum Beispiel 2023 laut dem Bund gut 72 Prozent aller teilzeitbeschäftigten Frauen.

Viele Kassen machen mehr

Die meisten Pensionskassen versichern höhere Lohnanteile als das BVG-Minimum. Gemäss der jüngsten Branchenumfrage des Fondsanbieters Swisscanto verwendeten 2023 nur noch 11 Prozent der befragten Pensionskassen den Koordinationsabzug gemäss BVG-Minimum. Die anderen haben einen variablen Abzug je nach Lohn, gewichten ihren Abzug nach Beschäftigungsgrad oder haben gar keinen Koordinationsabzug (und versichern damit den vollen Lohn). Simon Tellenbach von der Beratungsfirma VZ Vermögenszentrum schätzt derweil, dass knapp 20 Prozent der Vorsorgepläne bisher keine Anpassungen zum Ausbau der Versicherung für Teilzeitbeschäftigte gemacht hätten.

Doch man kann auch für eine solche Minderheit die diskutierten Änderungen wollen. Eine Studie der Beratungsfirma BSS im Auftrag der Frauenorganisation Alliance F schätzt, dass etwa 15 Prozent der Versicherten von der Reform direkt betroffen wären. Laut den Schätzungen würden die Renten bei etwa 10 Prozent steigen und bei rund 5 Prozent sinken. Für Frauen wäre das Verhältnis laut den Schätzungen weit günstiger als für Männer: bei etwa 275 000 Frauen würden die Renten steigen und bei 67 000 sinken, während es bei den Männern mehr Rentensenkungen als -erhöhungen gäbe. Wegen dieser Ergebnisse kämpft die Alliance F für ein Ja zur BVG-Reform.

Die Studie legt indes auch die Kehrseite offen: Bei fast allen direkt betroffenen Frauen würden die Lohnbeiträge steigen. Das muss fast so sein – wenn man den Versicherungsschutz für Frauen ausbauen und nicht neue Quersubventionierungen einführen will.

Im Prinzip müssen die Arbeitgeber mindestens die Hälfte der Lohnbeiträge zahlen. Doch die Forschungsliteratur lässt mutmassen, dass Arbeitgeber eine Erhöhung der Lohnnebenkosten früher oder später zu einem erheblichen Teil auf die Arbeitnehmer überwälzen – etwa via Reduktion des Bruttolohnanstiegs und Abbau der Beschäftigung. Ein Grossteil des Rests wird auf die Preise überwälzt – was die Arbeitnehmer auch als Konsumenten belastet.

Doch weil solche Überwälzungen oft diffus sind, zeitverzögert kommen und nicht für jeden einzelnen Arbeitnehmer voll zutreffen, können manche hoffen, per saldo vielleicht doch irgendwie zulasten von anderen zu profitieren.

In der Tendenz dürften die tiefen Lohngruppen vor allem wegen der Ausgestaltung und Finanzierung der Übergangsrenten eher Nettogewinner sein. Zu diesen Gruppen gehören die Frauen weit überproportional.

Heuchlerische Kritik

Dennoch lehnt die Linke, die sich angeblich für das Wohl der Frauen besonders interessiert, die Reform ab. Zu den linken Kritikpunkten im Kontext der Frauenfrage gehört, dass die Reform den Frauen wenig bringe. Stattdessen müssten die Frauen «noch mehr bezahlen für noch weniger Rente». Das ist typische Irreführung. In der Gesamtbetrachtung müssten die Frauen mehr bezahlen für mehr Rente, und der Saldo ist wahrscheinlich positiv.

Wer ständig die «Rentenlücke» kritisiert, aber eine Reform ablehnt, welche die Lücke verkleinert (wenn auch längst nicht ganz beseitigt), für den gilt vor allem eines: Die Kritik an der «Rentenlücke» ist nicht ernst gemeint. Die Kritiker monieren, dass die Frauen die Kosten für höhere Renten selber bezahlen müssten – ohne zu erwähnen, dass die Männer für ihre höhere Renten auch entsprechend mehr bezahlt haben.

Jenseits der Nebelpetarden ist der linke Widerstand gegen die Reform als Fundamentalkritik gegen die berufliche Vorsorge zu verstehen – gegen den Grundsatz des «Sparens für sich selber». Versteckte Quersubventionierungen von oben nach unten und von Erwerbstätigen zu Rentnern gibt es auch bei den Pensionskassen, doch in der AHV ist dies viel leichter und in weit stärkerem Ausmass möglich.

Das EL-Problem

Zur linken Kritik zählt auch das Argument, dass manche Frauen von einer höheren Rente nicht profitieren könnten, da im Gegenzug die Ergänzungsleistungen sinken würden. Solche Fälle dürfte es geben. Über das Ausmass gibt es mangels Daten keine Schätzung.

Die Quote der Ergänzungsleistungen (EL) zur Altersrente betrug 2023 knapp 10 Prozent für Männer und 14 Prozent für Frauen. Die Kritik ist aber durchtränkt mit Heuchelei. Im Kontext der Diskussionen um den AHV-Ausbau hatten die gleichen Kreise Verweise auf die zielgerichteten EL weggewischt mit dem Hinweis, dass manche aus Schamgefühl nicht als Bittsteller für Ergänzungsleistungen zum Staat gehen wollten. Doch jetzt soll eine Reduktion der Abhängigkeit der Frauen von staatlichen EL plötzlich ein Ärgernis sein. Wer die Frauen ernst nimmt, wird nicht so argumentieren wollen. In der Logik der Kritiker müsste man zudem eine Politik für eine höhere Erwerbsbeschäftigung ablehnen, weil dies die Auszahlungen von Arbeitslosengeldern reduzieren würde.

Für jene Stimmbürger, welche die Zweite Säule nicht abschaffen wollen, sollte für die Beurteilung der BVG-Reform aus Optik der Geschlechterdiskussion eine andere Frage im Vordergrund stehen: Will man einen Ausbau des Versicherungsobligatoriums, der einigen hunderttausend Frauen höhere Renten zum Preis höherer Lohnbeiträge bringen dürfte?

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