In der Schweiz gibt es keinen Overtourism. Zu diesem Schluss kommt Schweiz Tourismus aufgrund einer neuen Umfrage. Viele Betroffene sehen das allerdings anders.

Lauterbrunnen, Luzern, Iseltwald, Aescher – immer wieder flammt in der Schweiz das Thema Overtourism auf. Anlass für die Diskussionen sind jeweils Klagen von Einheimischen. Die Orte werden von Reisenden überrannt. Selten verhängen die Behörden darauf Massnahmen, um ihre Ruhe zu haben. Doch ist dies ein Problem, das innerhalb der Schweiz allgemein als schlimm empfunden wird? Die Antwort ist Nein. Zumindest wenn man der Vermarktungsorganisation Schweiz Tourismus und den Tourismusdirektoren glauben will.

«Es gibt in der Schweiz keinen flächendeckenden Übertourismus», erklärte Martin Nydegger, der Präsident von Schweiz Tourismus (ST), denn auch am Donnerstag an einer Medienkonferenz. «Verabschieden wir uns also von diesen Einzelfällen.» Basis für diese Aussage des obersten Touristikers ist eine repräsentative Umfrage, die ST zusammen mit der Konferenz der regionalen Tourismusdirektoren durchführen liess.

Mit der Studie will die Branche Fakten für fundierte künftige Diskussionen liefern. Die Umfrageergebnisse sollen zeigen, wie die Schweizer Bevölkerung über den Tourismus denkt. Allerdings warf die Präsentation der Studienergebnisse mehr Fragen auf, als sie zu beantworten vermochte.

Ein Viertel fühlt sich gestört

Angesichts des Auftraggebers ist es wenig überraschend, dass die Studie zu dem Schluss kommt, dass hierzulande das Verständnis für den Tourismus sehr gross ist. Auf dem Sorgenbarometer, das von den Verantwortlichen aus unerfindlichen Gründen als Massstab genommen wurde, kommt der Tourismus knapp noch vor. Nur gerade 5 Prozent der 2245 Befragten in allen Landesteilen bezeichnen den Tourismus als Sorge. Das ist kein Wunder angesichts «klassischer» Sorgen wie der Gesundheitskosten, des Anstiegs der Wohnkosten oder der Kriege in der Ukraine und in Gaza, die im Barometer ganz oben stehen.

Nydegger strich ausserdem heraus, dass 78 Prozent der Befragten stolz darauf seien, dass die Schweiz so attraktiv sei für Gäste aus dem In- und Ausland. Doch so uneingeschränkt, wie es die Tourismusverantwortlichen glauben machen wollen, ist die Akzeptanz keineswegs. So erklärten 25 Prozent der Befragten, dass sie sich in ihrem Alltag durch Touristinnen und Touristen gestört fühlten. 23 Prozent fühlen sich wegen des Tourismus an ihrem Wohnort nicht mehr richtig zu Hause.

Nydegger beteuerte denn auch, man kümmere sich um die Leute, die unter den Auswirkungen des Reisebooms litten. «Unseren Tourismus betreiben wir nicht neben, sondern mit der Bevölkerung», versicherte er. Tatsächlich gibt es in dieser Hinsicht einiges zu tun.

So beklagen sich 10,4 Prozent der Befragten über die durch den Tourismus verursachte Teuerung. Sie wird von vielen dafür verantwortlich gemacht, dass die Wohnungspreise in vielen Destinationen überdurchschnittlich stark gestiegen sind. Als problematisch wahrgenommen werden ausserdem Verschmutzung und Littering (9,7 Prozent), Verkehrsprobleme (9,6 Prozent) sowie Natur- und Umweltschäden (8,4 Prozent). Kritisiert wird insbesondere der «Instagram-Tourismus», der als oberflächlicher Konsum und nicht als wahres Interesse am Land der Gastgeber wahrgenommen wird.

«All diese genannten Probleme sind allgemein bekannte gesamtgesellschaftliche Herausforderungen, die jedoch gar nicht oder indirekt mit dem Tourismus begründet sind», erklärte Nydegger. Die Tourismusverantwortlichen könnten zwar ihren Beitrag dazu leisten, diese Herausforderungen anzugehen, doch Haupttreiber seien sie nicht.

In einem Fall können die Touristiker die Verantwortung aber nicht einfach von sich schieben, nämlich wenn es um das Verhalten der Reisenden geht. Hier liegt einiges im Argen. Vor allem in den beliebten Feriendestinationen nimmt die Bevölkerung Touristinnen und Touristen zunehmend als respektlos wahr. «Es wird nicht gegrüsst», ist eine typische Aussage in diesem Zusammenhang.

Interessant sind die Ergebnisse hinsichtlich der Beliebtheit der verschiedenen Gästegruppen. Personen aus der Schweiz (82 Prozent sehr attraktiv und eher attraktiv) liegen in dieser Rangliste fast gleich auf mit den Touristen aus Europa (83 Prozent). Gäste aus Nordamerika werden von 68 Prozent der Befragten als sehr attraktiv und eher attraktiv wahrgenommen. Reisende aus Asien schaffen es nur auf 60 Prozent. Am Schluss dieser Skala liegen Touristen aus den Golfstaaten mit 50 Prozent.

Die skeptischere Einstellung gegenüber Gästen aus Asien und den Golfstaaten begründen viele Befragte damit, dass es wegen der unterschiedlichen kulturellen Verhaltensweisen zu Problemen kommen kann. «Asiaten sind laut und drängeln» oder «Sie spucken auf den Boden», so lauten typische Aussagen.

Vage bleiben Schweiz Tourismus und die Konferenz der Tourismusdirektoren auch bei der Benennung der Massnahmen. Man wolle das Thema auf verschiedene Arten angehen, versicherte Damian Constantin, der Präsident der Konferenz der regionalen Tourismusdirektoren. So hätten in verschiedenen Tourismusdestinationen bereits Sensibilisierungsaktionen für die Bevölkerung stattgefunden. «Wir wollen insbesondere bei der Jugend Verständnis schaffen für den Tourismus. In verschiedenen Regionen finden daher Aktionen an den Schulen statt», sagte Constantin.

Kampagne mit Roger Federer im Herbst

Ausserdem wollen die Tourismusbranche und das Tourismusmarketing die Reisenden besser lenken und dafür sorgen, «dass die richtigen Gäste zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind», wie es Nydegger ausdrückte. Die Saisons werden ausgedehnt und deshalb der Herbst besonders gefördert. So startet die diesjährige Werbekampagne mit Roger Federer erst in den kommenden Wochen.

Als Beispiel für eine gelungene Lenkungsmassnahme nannte Constantin Iseltwald. Seit die Gemeinde am Brienzersee fünf Franken Eintritt für den durch eine Netflix-Serie bekannt gewordenen Steg verlange, habe sich die Situation positiv entwickelt. Die Lösung bewähre sich auch für die Selfie-knipsenden Touristen aus Asien, die nun nicht mehr um den besten Platz auf dem Steg kämpfen müssten.

Als Marketingorganisation ist Schweiz Tourismus darauf ausgerichtet, positive Nachrichten zu verbreiten und die Vorzüge der Schweiz herauszustreichen. Für die negativen Auswirkungen, die der Tourismus nun einmal hat, fühlt sie sich offenbar nicht zuständig. Die vom Bund finanziell kräftig geförderte Organisation wäre allerdings gut beraten, die Umfrage genauer zu analysieren. Ein intensiver Blick auf die Schattenseiten kann helfen, Fehlentwicklungen früh zu erkennen und zu vermeiden.

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