Der deutsche Verfassungsrechtler Volker Boehme-Nessler kritisiert, dass das Oberverwaltungsgericht in Münster seine Entscheidung nicht ausführlicher begründet hat. Einen Automatismus auf dem Weg zu einem Verbotsverfahren sieht er nicht.
Herr Boehme-Nessler, zwei Gerichte haben jetzt nacheinander bestätigt, dass die AfD vom Verfassungsschutz als extremistischer Verdachtsfall beobachtet werden darf. Der deutsche Rechtsstaat scheint sich seiner Sache sicher zu sein. Zu Recht?
Das Oberverwaltungsgericht in Münster jedenfalls ist sich seiner Sache sehr sicher. Ob zu Recht, kann man derzeit noch nicht sagen. Denn bislang hat das Gericht die ausführliche Begründung des Urteils noch nicht veröffentlicht. Das finde ich unglücklich. Die Begründung von Urteilen ist im Rechtsstaat aber genauso wichtig wie das Urteil selbst, gerade bei einem so heiklen Verfahren. Eine Pressemitteilung allein genügt für eine Bewertung nicht.
Das ist aber so üblich. Auch in anderen Verfahren werden zunächst nur Zusammenfassungen publiziert.
Ja, das ist tatsächlich der Normalfall. Allerdings ist dieser Fall ungewöhnlich. Es geht schliesslich um eine relevante, im politischen Wettbewerb stehende Partei. Ich halte es deshalb für einen Fehler, dass die Richter vom üblichen Vorgehen nicht abgewichen sind. Sie hätten schon jetzt ausführlicher begründen müssen, warum sie das Material überzeugt, das der Verfassungsschutz vorgelegt hat.
In allgemeiner Form ist das geschehen. So sieht das Gericht begründete Anhaltspunkte dafür, dass Teile der AfD rechtlich einen Unterschied machen wollen zwischen deutschen Staatsbürgern mit und solchen ohne Migrationshintergrund.
Das wären Staatsbürger erster und zweiter Klasse – das ist verfassungsfeindlich. Aber hier macht es einen Unterschied, ob das ein Spitzenfunktionär der Partei sagt oder ein einfaches Mitglied am Stammtisch. Nicht jede Äusserung eines Mitglieds kann der gesamten Partei zugerechnet werden.
Die Partei weist den Vorwurf zurück, sie unterscheide zwischen Deutschen erster und zweiter Klasse.
Ob das stimmt, werden wir erst sehen können, wenn wir die Würdigung des vom Verfassungsschutz vorgebrachten Materials kennen. Bis dahin muss man dem Gericht glauben. Das ist im Rechtsstaat kein befriedigender Zustand.
Die AfD wirft dem Gericht «Arbeitsverweigerung» vor, weil die vielen Beweisanträge, die im Verfahren eingebracht wurden, nicht ausreichend gewürdigt worden seien.
Grundsätzlich ist es rechtlich zulässig, dass das Gericht darüber entscheidet, welche Anträge es zulässt und welche nicht. Es muss diesen nicht automatisch nachgehen – vor allem dann nicht, wenn es wie im gegenwärtigen Fall eine Flut an Anträgen gegeben hat.
Die Anwälte der AfD haben argumentiert, dass ihnen nichts anderes übrig geblieben sei. Schliesslich habe die erste Instanz, das Verwaltungsgericht Köln, nicht sauber gearbeitet. Und das angerufene Oberverwaltungsgericht sei die letzte Ebene, auf der in der Sache ermittelt werden könne. Danach gehe es nur noch um Formfehler.
Das stimmt. Ich hoffe, dass das Oberverwaltungsgericht akribisch ermittelt und sauber gearbeitet hat. Das ist es dem Rechtsstaat schuldig. Um das zu sehen, brauchen wir eine ausführliche Begründung des Urteils.
Nun hat das Oberverwaltungsgericht keine Revision zugelassen. War das klug?
Das ist üblich. Das sieht die vom Gesetzgeber erlassene Prozessordnung so vor. Gerichte sollen vor Überlastung geschützt werden. Aber nun ist dieser Fall wie gesagt kein normaler. Hat ein Fall grundsätzliche Bedeutung, muss die Revision zugelassen werden. Eine grundsätzliche Bedeutung sehe ich in diesem Fall schon. Deshalb hätte man sich gewünscht, dass das Gericht politisch und juristisch klüger wäre und der AfD erlaubt hätte, den Instanzenweg bis zum Ende zu gehen.
Die AfD will gegen die Nichtzulassung einer Revision beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig Beschwerde einlegen. Wie gut stehen die Chancen dafür?
Das hängt davon ab, wie die Bundesverwaltungsrichter den Fall einschätzen. Wenn sie glauben, dass er eine grundsätzliche Bedeutung hat, dann werden sie die Revision zulassen. Sehen sie eine über den Einzelfall hinausgehende Relevanz nicht, dann ist der Instanzenzug für die AfD in Münster zu Ende.
Aber das Bundesverfassungsgericht kann die Partei immer noch anrufen, oder?
Ja, und zwar dann, wenn die Revision vom Bundesverwaltungsgericht nicht zugelassen wird oder die AfD in der Revision unterliegt. Sie könnte in Karlsruhe argumentieren, dass der besondere grundgesetzliche Schutz für Parteien durch die Beobachtung verletzt wird. Denn es handelt sich natürlich um einen harten Eingriff in den Parteienwettbewerb, wenn der Verfassungsschutz eine Partei beobachten und darüber auch noch öffentlich reden darf. Das könnte auf Wähler abschreckend wirken. Und Beamte werden es sich überlegen, ob eine Mitgliedschaft mit ihrer Treuepflicht vereinbar ist oder nicht.
Wird die Gesamtpartei jetzt im nächsten Schritt automatisch zum gesichert extremistischen Beobachtungsfall? Das wäre ja die höchste Beobachtungsstufe durch den Verfassungsschutz.
Nein, rechtlich gesehen gibt es keinen Automatismus. Es könnte ja sein, dass sich der vom Verfassungsschutz gehegte Verdacht bei der jetzt erlaubten Beobachtung nicht erhärtet. Es kann aber auch sein, dass die intensivere nachrichtendienstliche Überwachung zu dem Ergebnis kommt, dass die Partei aus der Sicht der Behörde gesichert rechtsextremistisch ist. Dann hätte sich der Verdacht schon so weit verfestigt, dass aus Sicht der Behörde keine Zweifel mehr am Vorliegen extremistischer Bestrebungen bestehen. Der Verfassungsschutz muss dann hinreichend beweisen können, dass die Partei gegen die Verfassung gerichtete Bestrebungen verfolgt. Das folgt aus dem jetzigen Urteil ja gerade noch nicht. Die Richter haben nicht gesagt, dass die AfD extremistisch sei. Da wurde nur festgestellt, dass es offenbar genügend Anhaltspunkte für den Verdacht gibt, dass Teile der Partei verfassungswidrige Ziele verfolgen und sie deshalb beobachtet werden darf.
Politisch wird immer wieder ein Verbot der AfD gefordert. Ist man einem Verbotsverfahren jetzt nähergekommen?
Juristisch nicht. Allerdings darf jetzt intensiver beobachtet werden. Findet sich da belastendes Material, würde das in einem Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht natürlich eine Rolle spielen. Aber selbst dann, wenn der Verfassungsschutz zu dem Schluss kommt, dass die AfD als ganze Partei extremistisch ist, müsste keines der antragsberechtigten Verfassungsorgane einen Verbotsantrag stellen. Auch hier gibt es keinen Automatismus. Ob man einen Verbotsantrag stellt, ist eine politische, keine juristische Entscheidung.

