Sie sind seit 2000 Jahren tot. Doch durch einen ungewöhnlichen Grabfund kommen Archäologen gleich drei Personen so nahe, wie es selten möglich ist.
Ob sie gerne Birnen ass, so wie die meisten Kinder? Immerhin ist sicher, dass sie das Obst kannte. Zehn Jahre war sie alt, als sie starb, die Sklavin Heuprosinis, vor 2000 Jahren im Aargau, als die Römer in der Schweiz waren.
Die Römer in der Schweiz – was dazu aus der Schule oder, vermutlich einprägsamer, den Asterix-Comics hängenbleibt, ist ja: Die Römer sind die, die sich in weisse Laken gehüllt und auf Betten liegend Trauben in den Mund fallen lassen, und die, die schwer bewaffnet in Sandalen, Lederröckchen und Helm mit rotem Puschel über staubige Strassen klirren. Aber wer lebte wirklich zur Zeit der Römer in der Schweiz – und wie?
Es ist eine neue Entwicklung, dass sich Archäologen verstärkt mit Individuen beschäftigen; dass sie differenzieren zwischen grossen historischen Ereignissen wie der Eroberung einer Region und der alltäglichen Lebenswelt der einzelnen Menschen, die von diesen Ereignissen betroffen waren – und zwar auf beiden Seiten, der römischen und der einheimischen: Sie stellen fest, dass am Hadrianswall stationierte Soldaten aus Nordafrika stammten, dass Besetzer und Besetzte zusammen Familien gründeten und dass lokale Religionen und Bräuche weiterbestanden. Selten aber kommen sie den Menschen so nahe, wie es ein einmaliger Fund aus Vindonissa, heute Windisch bei Brugg im Aargau, erlaubt.
Ein römisches Militärlager in Graubünden erzählt von der Eroberung
Das Gebiet der heutigen Schweiz war im 1. Jh. v. Chr. hauptsächlich von keltischen Stämmen besiedelt, vor allem den Raurikern und den Helvetiern, im Südosten auch von rätischen Stämmen. Um die Helvetier daran zu hindern, ins römisch besetzte Gallien zu gelangen, entstanden um 40 v. Chr. zwei Militärkolonien, heute die Orte Kaiseraugst und Nyon.
Dem Reich einverleibt wurde die einheimische Bevölkerung erst durch den Alpenfeldzug von Kaiser Augustus im Jahr 15 v. Chr., und freiwillig war dieser Beitritt nicht. Das zeigt auch einer der neusten Funde aus der römischen Schweiz: 2021 entdeckten Archäologen im Surses in Graubünden ein Schlachtfeld, auf dem römische Soldaten gegen einen der lokalen Stämme kämpften.
Oberhalb dieser Stelle, auf 2200 Metern Höhe, wurde im September dieses Jahres ein weiteres Puzzleteil der Geschichte der Eroberung gefunden: ein römisches Militärlager aus der gleichen Zeit. Es sollte offenbar helfen, die Täler und Pässe – und damit auch den Warenverkehr zwischen dem heutigen Italien und dem Norden – zu kontrollieren.
Es handelte sich um den Stützpunkt von kleineren Armee-Einheiten, nicht um ein Legionslager. Legionslager waren oft jahrzehntelang der Standort einer bestimmten, an diese Region gebundenen Legion, bestehend aus 6000 Soldaten. Im gesamten Römischen Reich gab es nur etwa 30 solcher Hauptquartiere und im Gebiet der heutigen Schweiz nur eines: das etwa 17 n. Chr. gegründete Lager in Vindonissa.
Das Narrativ der Romanisierung ist obsolet
Es breitete sich über eine Fläche von etwa 400 mal 500 Metern aus, und mit der Zeit entwickelte sich darum herum eine zivile Siedlung. Sie war ein attraktiver Standort für kommerzielle Tätigkeiten jeglicher Art und zog sowohl Einheimische als auch Zuwanderer aus anderen Teilen des Reiches an. Wie sich Archäologen das Verhältnis zwischen diesen Gruppen vorstellen, ändert sich in jüngster Zeit grundlegend.
«Das prägende Narrativ der provinzialrömischen Archäologie war lange die Romanisierung», sagt Ana Zora Maspoli, Archäologin von der Universität Basel. Es besagt: Die Römer erobern eine Region, und die Bevölkerung übernimmt dann eins zu eins die römischen Kultur- und Lebensformen.
«Was tatsächlich passiert, lässt sich am besten mit dem soziologischen Begriff ‹third culture kid› beschreiben», erklärt Maspoli ihren moderneren Zugang: «Am Anfang ist da vielleicht noch die klare Trennung der Kultur der Besatzungsmacht und der Einheimischen, aber ab der zweiten Generation löst sich diese scharfe Grenze auf. Da entsteht aus der Mischung von Römischem und Lokalem etwas Neues, ein Lebensstil, den es vorher so nicht gab.»
Maspoli leitet das Forschungsprojekt zu einem Gräberfeld in Vindonissa, das 2012 im Rahmen einer Notgrabung dokumentiert wurde. Um 50 n. Chr. wurden hier etwa 140 Tote bestattet. Seit 2021 und bis Ende 2025 läuft die Untersuchung der Grabsteine, der Urnen, der Skelettreste und der 12 000 Liter Erde, die im Labor auf Kleinstfunde durchkämmt wurden. Es ist eine Kooperation der Vindonissa-Professur der Universität Basel mit der Kantonsarchäologie Aargau, finanziert auch durch den Swisslos-Fonds Aargau. Erst die Zusammenarbeit vieler verschiedener Spezialisten ermöglicht es, alle vorhandenen Quellen auszuschöpfen.
Der Grabstein von Maxsimila und Heuprosinis ist ein Zeugnis komplexer Familienverhältnisse
Wer im Vindonissa-Museum in Brugg sehen will, was sich in der grossen Holzkiste im Ausstellungsraum im Erdgeschoss verbirgt, muss normalerweise erst ein Rätsel lösen. Die Kiste ist eine der Stationen des als Schatzsuche gestalteten Rundgangs, und nur mit dem richtigen Code geht das Licht an. Doch Maspoli und ein Museumsangestellter pfropfen Griffe mit Saugnäpfen auf die Glasplatte – sie sehen aus wie Werkzeug der Meisterdiebe aus «Ocean’s Eleven» – und heben sie von der Kiste. Darin liegt, wegen der laufenden Untersuchung bis jetzt nur provisorisch ausgestellt, einer der Grabsteine aus dem erwähnten Gräberfeld.
Im einst bunt bemalten Relief in der oberen Hälfte sind eine sitzende Frau und ein stehendes Kind dargestellt, die untere Hälfte trägt eine lateinische Inschrift: «Maxsimila Cassia, Tochter des Lucius, aus Bononia, 40 Jahre alt, (und) Heuprosinis, 10 Jahre alt, Sklavin des Lucius Atilius, sind hier bestattet. Lucius Atilius setzte (den Grabstein) für seine Lebensgefährtin.»
Gleich mehrere Dinge seien auffällig, erläutert Maspoli: Da ist die Schreibweise der Namen, das zusätzliche «s» in Maxsimila und das eigentlich überflüssige «H» am Anfang des griechischen Namens des Mädchens. Beides sind eigenwillige Spielarten der klassisch lateinischen Orthographie.
Implikationsreicher sei aber das Wort «contubernalis», Lebensgefährtin. Hier würde man eigentlich «coniunx» oder «uxor» erwarten, die rechtmässigen Bezeichnungen für Ehefrau. «Auf dem Bild wird Maxsimila als Matrone und gute ehrbare Hausfrau dargestellt, mit dem Spinnrocken in der Hand. Aber in der Inschrift sagt Lucius: Sie ist nicht meine Frau. Er ist ehrlicher, als er sein müsste», urteilt Maspoli. Das zeige: Die wilde Ehe wurde gesellschaftlich nicht als Makel angesehen.
Im Gegenteil: Sie war, zumindest in bestimmten Bevölkerungsgruppen, völlig normal. Armeeangehörige der unteren Ränge durften nicht heiraten. Mit 18 oder 19 Jahren traten die jungen Männer in die Truppe ein, und erst nach 20 oder 25 Jahren Dienst durften sie sie wieder verlassen – sofern sie überlebten. «Natürlich haben diese Männer Beziehungen und Kinder, das ist nun einmal das, was man in diesem Alter tut», sagt Maspoli; und es sei sowohl aus schriftlichen wie aus archäologischen Quellen eindeutig nachweisbar. Ob Maxsimila und Lucius nicht verheiratet waren, weil er beim Militär war, lässt sich nicht belegen, es ist aber für Maspoli die wahrscheinlichste Erklärung.
Sklaven trugen oft griechische Namen, egal, wo sie herkamen
Der Name des Sklavenmädchens habe nichts mit ethnischer Zugehörigkeit zu tun: Griechische Namen für Sklaven und Freigelassene waren überaus verbreitet, egal, wo sie herstammten. Auch Kinder als Sklaven waren nichts Ungewöhnliches, meist nicht aus Menschenraub oder Kriegsgefangenschaft resultierend, sondern weil die Mutter Sklavin war. Auch wurden Kinder aus ungewollten Schwangerschaften auf Schutthalden ausgesetzt; wer sie fand, durfte sie als Sklaven behalten. So gab es auch in Friedenszeiten einen stetigen Nachschub.
Das Grab von Maxsimila und Heuprosinis erzählt viel darüber, was das im Einzelfall bedeuten konnte. Auf dem Relief geben die beiden sich die Hand. Das sei eine extrem ungewöhnliche Geste, die man als Körperkontakt zwischen Erwachsenen und Kindern kaum kenne, sagt Maspoli. «Ohne die Inschrift würden wir sagen: Das sind Mutter und Kind, wie süss. Aber das Kind ist ja eine Sklavin!»
Das zeige: Unser Bild von Sklaverei sei zu wenig differenziert. Der rechtliche Status als Sklave konnte im Römischen Reich ganz unterschiedliche Lebensschicksale bedeuten, von fast ausnahmslos tödlicher Arbeit im Bergwerk bis zur Annahme an Kindes Statt, wenn die Besitzer keine leiblichen Nachkommen hatten. «Das nehme ich hier wahr», sagt Maspoli. Denn das Motiv sei mit Sicherheit bewusst so gewählt worden, und wenn Maxsimila und Lucius eigene Kinder gehabt hätten, wären sie vielleicht in der Inschrift erwähnt worden.
Maxsimila und Heuprosinis sollten sich auch im Tod ganz nah sein
Das Besondere an dem Fund ist nicht nur der ungewöhnliche Grabstein, sondern auch, dass die Archäologen hier auch die dazugehörigen Begräbnisse gefunden haben. So gibt es noch einen Beleg für das enge Verhältnis zwischen Maxsimila und Heuprosinis; «ich bekomme Gänsehaut, wenn ich davon erzähle», sagt Maspoli im Museum: Die Urnen von Heuprosinis und Maxsimila waren im Grab so aufgestellt, dass sie sich berührten. Das sei ganz sicher kein Zufall; offensichtlich sollten die beiden sich auch im Tod ganz nah sein.
Aus den verbrannten Knochen der beiden Toten liess sich keine DNA gewinnen. Aber eine Isotopen-Analyse war möglich: Isotope, also Varianten eines chemischen Elements, reichern sich über die Nahrung im Laufe des Lebens in Knochen und Zähnen an. Weil die Isotopen-Verhältnisse überall unterschiedlich sind, lässt sich so herausfinden, wo jemand aufgewachsen ist. «In der Inschrift steht, Maxsimila oder ihre Herkunftsfamilie stamme aus Bononia, also Bologna», erklärt Maspoli und deutet auf die einst rot gefassten Buchstaben. «Aber die Isotope zeigen, dass Maxsimila und auch Heuprosinis sehr wahrscheinlich hier, in Vindonissa oder Umgebung, geboren wurden.»
Wahrscheinlich seien schon Maxsimilas Eltern hier gewesen, in der Zeit vor der Gründung des Legionslagers. Sie wäre damit eine Migrantin der zweiten Generation. «Einheimisch oder nicht ist dann keine sinnvolle Kategorie mehr. Sie ist ‹und›, sie ist beides.» Ihr Grabstein zeige das gleich mehrfach: «Eine Ganzfigur sitzend darzustellen, das gab es bei den Römern vorher nur für Gottheiten. Und die muschelförmige Nische hinter dem Kopf ist normalerweise andersherum gestaltet. Aber in der Provinz befolgen sie diese Regeln nicht, und sie bestellen beim Steinmetz das, was ihre Botschaft am besten ausdrückt.»
Ob Maxsimila und Heuprosinis gemeinsam starben, durch einen Unfall oder eine Seuche, lässt sich nicht rekonstruieren. Sie wurden jedenfalls mehr oder weniger gleichzeitig bestattet, und Lucius Atilius ging zum Steinmetz und beauftragte ihn, einen Grabstein für seine «contubernalis» anzufertigen, mit einer Muschelnische, die wie ein Strahlenkranz um ihr Gesicht steht. Neben die toten Körper auf den Scheiterhaufen legte er Ackerbohnen, Linsen und Erbsen, vielleicht als Eintopf, ausserdem Fleisch von Schweinen und Hühnern. Und dazu Birnen, süss wie die Erinnerung an die geliebte Frau und das Kind, die er verloren hatte.
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