Sonntag, September 8


Mephisto der Mode

Der Modedesigner John Galliano galt als «gecancelt», nachdem er antisemitische Äusserungen von sich gegeben hatte. Es wurde ruhig um ihn. Eine gefeierte neue Kollektion für Maison Margiela scheint alles vergessen zu machen. Und ein Film versucht, seine Geschichte neu zu erzählen.

So also sieht es in John Gallianos Gehirn aus. Schummriges Licht. Fast stolpert man in eine Vitrine mit prekär balancierten High Heels. An der Wand hängen 36 dicke Recherchebücher, mit Bildern von Bauchrednerpuppen, Make-up-Looks aus den zwanziger Jahren und den Werken des niederländischen Malers Kees van Dongen. Daneben ein Gestell mit Korsetts: Schmale Taillen gehen über in üppige Kurven. Wie Geister, die ihre Gewänder für etwas Ausgefeilteres abgelegt haben.

Es ist März 2024, und ich bin in Paris für die Fashion Week. Die Agenda der versammelten Modemenschen aus aller Welt ist prall gefüllt mit Schauen von grossen Namen wie Chanel, Dior und Louis Vuitton. Trotzdem sind viele von uns zum Hauptsitz des Modehauses Maison Margiela gepilgert. Denn falls es so etwas gibt wie einen Zentralstern im Sonnensystem der Mode, dann befindet er sich derzeit hier, an der Place des États-Unis. Hier werden in einem dunklen Raum das Recherchematerial und die Kleidungsstücke von dem ausgestellt, was in der Modewelt dieses Jahr schlicht als «die Show» bekannt wurde.

«Die Show» war Ende Januar das Couture-Defilee des Modedesigners John Galliano für Maison Margiela. «Die Show» werde in die Modegeschichte eingehen, schrieb die sonst eher für ihre vernichtenden Kritiken bekannte Journalistin Cathy Horyn auf «The Cut». Das Video auf dem Youtube-Kanal von Maison Margiela wurde über eine Million Mal angeklickt. An einer Modeschau frage ich eine Kollegin aus den Niederlanden, ob die Kollektion dort auch so eingeschlagen habe. «Ja», erwidert sie trocken, «wie überall, wo es eine Internetverbindung gibt.»

Perlenketten und Schaumstoffkleider

«Die Show» war eine Hommage an Figuren des Pariser Nachtlebens – Prostituierte, Vagabunden, verlorene Seelen –, die der ungarisch-französische Fotograf Brassaï in den dreissiger Jahren mit seiner Kamera einfing. «La Môme Bijou» zum Beispiel, eine elegante ältere Dame, die auf einer Eckbank in der Bar de la Lune sitzt. Erst beim näheren Hinschauen erkennt man, dass ihre Juwelen nicht echt sind und ihr Make-up verschmiert ist. Brassaïs in Mond- und Strassenlicht gebadete Bilder zeigen Kleidung als etwas, was uns gleichzeitig tarnen und entlarven kann.

Die Show wurde dem exklusiven Publikum unter einer Brücke neben der Seine gezeigt. Ihre Schönheit ging direkt ins Knochenmark: Präzise Korsette wanden sich um Frauen- und Männerkörper, die Haare der Models standen wie eingefroren zu Berge, zerrissene Strümpfe legten sich das Bein herab und über himmelhohe Tabi-Pumps mit ihrem berühmten Zehenschlitz.

Unter den Strümpfen blitzten Perlenketten hervor, in der Eile hineingestopft. Männer hüllten mit Tüll überzogene Trenchcoats schützend um ihre gebückten Schultern. Frauen stolzierten in mit Spitze bedeckten Schaumstoffkleidern durchs Halbdunkel. Manche von ihnen zogen ihre Füsse beim Gehen übertrieben weit hoch, andere streckten ihre Arme wie Skulpturen von sich.

Maison Margiela Artisanal Collection 2024

Und die Texturen erst: Leder, das wie Keramik aussah, Haut wie Porzellan, Glasperlen wie Wassertropfen auf einem Wollmantel. Schicht für Schicht hatten John Galliano und sein Team Persönlichkeiten aufgebaut. Wie gern wäre ich vor Ort gewesen, leider habe ich die Show verpasst. Als ich sie dann zum ersten Mal sah – zu Hause auf dem Sofa, auf Youtube, unterlegt mit einem Remix von Adeles Hit «Hometown Glory» –, brach ich in Tränen aus. «Ich dachte nicht, dass es so etwas heute noch gibt», so versuchte ich, meinem Mitbewohner meinen etwas pathetischen Zustand zu erklären. Diese Art der Mode, dachte ich, gehöre der Vergangenheit an. Dann drückte ich nochmals auf «play».

Meister der (Selbst-)Inszenierung

Solche Shows kannte ich nur aus Geschichtsbüchern und von verpixelten Videos. John Galliano hatte seine grosse Zeit in den neunziger und nuller Jahren, als ich ein Kind war und mein Modeverständnis kaum über eine (nicht besonders originelle) Vorliebe für Pink hinausging. Damals war er Chefdesigner seines eigenen, gleichnamigen Labels sowie des französischen Modehauses Christian Dior und auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

Seine Shows mit ihren Hintergrundgeschichten von flüchtigen Prinzessinnen oder dämonischen Priestern, mit unzähligen historischen Verweisen und grosser Detailbesessenheit – all das wurde auch genutzt, um Parfums und Handtaschen zu verkaufen, klar. Doch vor allem dienten sie der Kunst, dem Verständnis des menschlichen Wesens und einem essenziellen Eskapismus.

Galliano war ein Star und liess sich nach jeder Show in einem eigens angefertigten Kostüm bejubeln, einmal in Piratenmontur, einmal als Matador. Doch auch dank Designern wie ihm, deren Shows auch Laien begeisterten, wuchs die Luxusmode-Industrie immer mehr zu einem globalen Riesen heran, der ständig mit neuen Ideen gefüttert werden musste. Unternehmer wie Bernard Arnault, damals schon der Besitzer von Christian Dior, kauften im grossen Stil Modehäuser auf und machten sie zu brummenden Maschinen.

Zeitweise war John Galliano für 32 Kollektionen pro Jahr verantwortlich. Um damit klarzukommen, griff er zu Alkohol, Schlaftabletten und Valium. 2007 starb sein langjähriger Assistent Steven Robinson an einem Herzinfarkt, der später auf eine Überdosis Kokain zurückgeführt wurde. 2010 nahm sich Lee Alexander McQueen mit vierzig Jahren das Leben. Das aussergewöhnliche Modetalent stammte wie Galliano aus einer Londoner Arbeiterfamilie.

Hasstiraden in einer Pariser Bar

Im Februar 2011 erlangte John Galliano dann auf andere Weise über die Modewelt hinaus Bekanntheit. Während mehrerer in Drogen und Alkohol getränkter Episoden hatte er in der Pariser Bar La Perle wildfremde Menschen mit hässlichen antisemitischen und rassistischen Beleidigungen beworfen. «Ich liebe Hitler. Leute wie ihr wären tot. Eure Mütter, eure Vorväter wären alle vergast worden», lallte er in einem Video zwei ungläubigen, kichernden Frauen zu. Einen Mann nannte er einen «fucking Asian bastard».

Galliano verlor daraufhin seinen Job bei Christian Dior und seinem eigenen Label, entschuldigte sich öffentlich und flüchtete in eine Entzugsklinik in Arizona. «Das sind keine Ansichten, die ich vertrete oder an die ich glaube», sagte er später, als er vor dem französischen Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. «Ich sehe jemanden, der Hilfe braucht, der verletzlich ist. Ich sehe jemanden, der an seine Grenzen gestossen wurde.»

Nun clean, traf er sich mit jüdischen Vertretern, um seine Läuterung zu betonen. Dank seiner treuen Freundin und langjährigen Wegbereiterin Anna Wintour designte er kurze Zeit für das Label Oscar de la Renta, bevor er 2014 zum Kreativdirektor des Modehauses Maison Margiela ernannt wurde. Das vom öffentlichkeitsscheuen Designer Martin Margiela gegründete Label stellte sich als perfekter Unterschlupf für Galliano dar, der nun nach seinen Schauen kaum mehr auf die Bühne kam. Er produzierte zwar noch immer hervorragende Kollektionen, aber man hatte sich damit abgefunden, dass er und sein Verständnis von Mode zu einer anderen Zeit gehörten.

Bei Dior wurde er durch den Belgier Raf Simons ersetzt, dessen erste Couture-Kollektion auf Schösschen-Tops, Zigarettenhosen und Reduziertheit setzte. Sie wurde positiv aufgenommen, als «modern» und «tragbar» beschrieben. «Die Zeiten der verwöhnten Designer, die sich mit Federn und ihrer Laune austoben konnten, sind wohl längst vorbei», schrieb der «Guardian». Die Zeiten der Künstler.

Central Saint Martins, die Wiege

John Galliano wurde im November 1960 als Juan Carlos Antonio Galliano-Guillén in Gibraltar geboren. Als er sechs Jahre alt war, zogen seine streng katholischen Eltern mit ihm und seinen Schwestern in den Süden Londons. Er wusste früh, dass er schwul war. Von Mitschülern wurde der scheue, auf makelloses Aussehen bedachte Junge gehänselt, sein homophober Vater schlug ihn. Erst als Galliano sein Studium an der renommierten Kunst- und Modeschule St. Martin’s School of Art – heute Central Saint Martins – antrat, fühlte er sich unter Gleichgesinnten. Nebenbei arbeitete er als Ankleider am Nationaltheater und stürzte sich ins Nachtleben.

1984 zeigte er seine Abschlusskollektion, inspiriert von der royalistischen Gruppierung «Les Incroyables», die Ende des 18. Jahrhunderts Paris mit ihrem extravaganten Kleidungsstil vor den Kopf stiess. Die einflussreiche Londoner Boutique Browns kauft die ganze Kollektion und stellt sie ins Schaufenster. Die Sängerin Diana Ross holt sich eine Jacke. Elf Jahre später wurde Galliano von Bernard Arnault, dem CEO des heute weltweit grössten Luxuskonzerns LVMH, zum Chefdesigner von Givenchy in Paris ernannt. 1996 folgte der Job beim noch prestigeträchtigeren Dior. Ein neuer Modestar war geboren.

Die Welt von John Galliano, Teil I: Aufstieg eines Goldjungen in London und Paris

1980-1984: aUSBiLDUNg aN DER St. maRtiN’S SCHooL oF aRt

John Galliano will Mode-Illustrator werden, bevor sein Schneidertalent erkannt wird. Seine Abschlusskollektion «Les Incroyables» macht ihn schlagartig bekannt. (Bild: Alamy Stock Photo)

aB 1984: JoHN gaLLiaNo, DaS LaBEL

Mithilfe wechselnder Geldgeber sowie treuer Freunde wie Anna Wintour, André Leon Talley und Kate Moss hält der Designer sein junges Label über Wasser. (Bild: Getty Images)

1995–1996: KREatiVDiREKtoR VoN giVENCHY

Galliano mischt das ehrwürdige Pariser Modehaus auf. Die Musen für die Couture-Show im Juli 1996 (im Bild) sind Kaiserin Joséphine und die Sängerin Madonna. (Bild: Getty Images)

1997: ERStE KoLLEKtioN FÜR DioR

Fünfzig Jahre nach Christian Diors «New Look» zeigt John Galliano seine erste Couture-Kollektion für Dior. Nicole Kidman trägt eines der Kleider zu den Oscars. (Bild: Getty Images)

Ich kam 2017 an die Central Saint Martins, um Mode­journalismus zu studieren. Fast vierzig Jahre nach John Galliano. In dieser Zeit war die Universität eine andere geworden: grösser, teurer und nicht länger in einem alten Gebäude in Soho daheim. Stattdessen thronte sie über einem mit Wasserfontänen ausgestatteten Platz im Quartier King’s Cross. Dank Sparmassnahmen der britischen Regierung glich sie wie viele andere Kunstschulen zunehmend einem Unternehmen.

Ein «Shoppingcenter» nannte meine Professorin, die Autorin und Kleidungshistorikerin Judith Watt, das von Geschäften umsäumte Schulgebäude abschätzig. Ein Raum wurde wegen eines Sponsorings nach dem Luxuskonzern LVMH getauft. Unser grösster Nachbar hiess Google. Aber der fiebrige Spirit der alten, legendären Central Saint Martins, der war noch da.

Zumindest redete man sich das ein. Und wer verkörperte die gute alte Zeit besser als John Galliano? Sein Geist schwebte über den Studios der Modestudierenden, spukte in den hintersten Ecken der Bibliothek und steckte hinter den dramatischen Kollektionspräsentationen, die in den Gängen der Schule stattfanden. Professoren schwärmten von Techniken Gallianos wie dem Bias-Cut, mit dem er Seide schräg zum Verlauf der Stofffasern zuschnitt und so die natürliche Elastizität des Materials nutzte.

Vor Shows reibe das Team des Designers die glänzenden Slipkleider, um sie mit Wärme und Statik aufzuladen, damit sie sich noch enger an die Körper der Models schmiegten. Wie schmelzende Butter oder, wie Galliano zu sagen pflegt, wie Quecksilber. Modemagie, es gibt sie!

Das Genie in den Händen

Natürlich war die Geschichte des Designers auch abschreckend: der Crash nach dem Fertigstellen einer Kollektion, die Abhängigkeit von Drogen und Alkohol. Eine Kommilitonin aus Peru kritisierte, wie er vom Kulturerbe der indigenen Völker ihrer Heimat gestohlen hatte. Doch als Judith Watt uns von der exzentrischen Italienerin Marchesa Luisa Casati erzählte, der Galliano eine Show auf den Marmortreppen der Opéra Garnier gewidmet hatte, sassen wir mit offenem Mund da.

Einmal schrieb ein Student sogar «I love John Galliano» auf die Wand einer Toilette. Das war 2011, nachdem er, wie man heute sagen würde, gecancelt worden war. Doch nicht nur den Schülerinnen und Schülern bedeutet sein Name trotz diesem Vorfall viel: «Er ist ein wichtiges Aushängeschild für die Schule. Wenn Namen einflussreicher Absolventen veröffentlicht werden, steht er unweigerlich an der Spitze», sagt meine ehemalige Professorin Judith Watt, die zwischen 1998 und 2021 an der Central Saint Martins unterrichtete, am Telefon.

Für sie gehört Galliano zu den ganz Grossen in den letzten hundert Jahren Modegeschichte. «Sein Talent liegt darin, neue Ideen durch Drapieren und Schneiden in die Tat umzusetzen. Sein Genie liegt in seinen Händen. So ist es ihm gelungen, Männern und Frauen eine Möglichkeit zu bieten, ihre innersten Gedanken und Sehnsüchte durch Mode auszudrücken, so wie es einst Paul Poiret, Charles James und Yves Saint Laurent taten», so Watt.

Die Welt von John Galliano, Teil II: Sein tiefer Fall und die Suche nach Vergebung

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John Galliano ist ganz oben angekommen, doch 2007 stirbt sein langjähriger Assistent und Freund Steven Robinson. Gleichzeitig steigt der Erfolgsdruck. (Bild: Getty Images)

2011: aNtiSEmitiSmUS-SkaNDaL

Bei drei Vorfällen in der Pariser Bar La Perle beschimpft John Galliano andere Gäste antisemitisch und rassistisch. Er wird entlassen und vor Gericht verurteilt. (Bild: Thibault Camus / AP / Keystone)

2024: aRtiSaNal-ShoW FÜR maiSoN maRgiEla

Die Couture-Kollektion «Take a walk with me, offline» wird Ende Januar 2024 in Paris gezeigt und fast einstimmig als kreativer Triumph gefeiert. (Bild: Maison Margiela)

2024: DoK-Film «high & loW: JohN galliaNo»

Der schottische Regisseur Kevin Macdonald schafft ein eindrückliches Porträt über das Leben des Designers. Schweizer Filmstart ist der 16. Mai 2024. (Bild: Pathé)

Ein Film erzählt die Geschichte neu

Der Regisseur Kevin Macdonald wusste nichts über Mode, als er sich den Protagonisten seines neuen Dokumentarfilms «High & Low: John Galliano» (Schweizer Startdatum: 16. Mai 2024) aussuchte. Wie zum Beweis zeigt er auf sein einfaches Outfit aus Jeans und Hemd, als ich ihn im Oktober 2023 in einem Hotel im Zürcher Niederdorf treffe. «Ich war daran interessiert, einen Film über das zu machen, was man Cancel-Culture nennt», erklärt der Schotte. Kevin Spacey, James Franco, Armie Hammer – die Liste der möglichen Subjekte wäre lang. Doch jemand habe ihm den Namen John Galliano genannt.

Das knapp zweistündige Werk des Oscar-prämierten Regisseurs basiert auf Gesprächen mit dem erzählerisch begabten Galliano, der Wörter wie «obsessed» und «escape» mit seiner nasalen Stimme genüsslich wiederholt. «Ich begann zu verstehen, dass John ein echter Künstler ist, der seine Triebe und Gefühle durch seine Arbeit zum Ausdruck bringt», erzählt mir Macdonald über das Kennenlernen des Designers.

Dazwischen eingeflochten sind eindrückliche Archivaufnahmen und Interviews mit wichtigen Modemenschen wie Anna Wintour, Naomi Campbell, Kate Moss, Edward Enninful und Sidney Toledano, dem ehemaligen CEO von Dior. Ausserdem kommt Philippe Virgiti, ein Opfer von Gallianos Tiraden, zur Sprache. Er hat dem Designer nicht verziehen. «Es fiel mir sehr schwer, mir selbst zu verzeihen», sagt Galliano im Film. Er sei entsetzt und beschämt gewesen. Die Journalistin Robin Givhan sagt, sie sei von dessen Wiederaufstieg nicht überrascht: Er habe langjährige, mächtige Unterstützer, «und er ist ein weisser Mann».

Macdonalds Diagnose über die Modewelt ist ernüchternd. «Es herrscht ein gewisser Anti-Intellektualismus und das Begehren, Ästhetik losgelöst von allem anderen in der Welt zu sehen. Doch John war ein extremes Beispiel eines düsteren Untertons, über den man in der Modewelt nicht wirklich spricht, aber den man nicht leugnen kann», so Macdonald.

Das bestätigt mir auch Jess Cartner-Morley, die langjährige Moderedaktorin des «Guardian»: «In der Mode hatten die Menschen schon immer eine selektive Weltsicht, als ob man nur an die Schönheit glauben könnte und sich nicht um den Rest kümmern müsste. Der Film wird es den Menschen hoffentlich ermöglichen, einen Weg zu finden, über Gallianos Fehltritte zu sprechen», sagt Cartner-Morley.

Phantasie statt bürgerliche Werte

John Gallianos Geschichte ist auch die Geschichte des Konflikts zwischen Kommerz und Kunst in der Mode. Auch deswegen traf die Show im Januar einen solchen Nerv. Sie wurde als leuchtender Beweis dafür gesehen, dass Kreativität trotz den Renditevorgaben von CFO blühen kann. «Wenn man sich unsere gegenwärtige Situation ansieht, brauchen wir Phantasie.

Wir brauchen Eskapismus», sagt Judith Watt, «und ein Grossteil der Mode gibt uns das zurzeit nicht. Sie gibt uns Ironie. Sie gibt uns Humor. Sie vermittelt uns bürgerliche Werte der Markenidentität, des Tragens der richtigen Kleidung. Doch mit Phantasie hat das in vielen Fällen nichts zu tun.» Watt zieht von der Show eine Parallele zu Christian Diors «Ligne Corolle» von 1947: Phantasie, Volumen und Weiblichkeit nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs.

Ich denke an den Abend zurück, als ich die Ausstellung im Hauptsitz von Maison Margiela besucht habe. Am Ausgang lag auf einem wackligen Metallgestell ein Buch mit zerfransten Seiten, ein Stift steckte zwischen den Seiten: Dort konnte man Nachrichten für John Galliano notieren. «John . . . C’hai fatto volare», stand da in geschwungenen Lettern. Quer über eine Seite hatte jemand notiert: «Thank you for creating the dream I always wanted to be part of. I am who I am now because of you.» Ich entferne den Deckel vom schwarzen Stift. «Thank you», kritzle ich hin, zweimal, dreimal.

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