Dienstag, April 15

Der Militärexperte Markus Reisner sagt, dass der Westen entweder die Ukraine stärker unterstützen oder den Krieg so rasch als möglich beenden sollte. Er hält wenig von den jetzigen Verhandlungen und ist überzeugt, dass die Zeit für Putin arbeitet.

Herr Reisner, Russlands Offensive hat sich verlangsamt. Im März betrugen die russischen Geländegewinne nur 130 Quadratkilometer – die geringste Veränderung seit Juni 2024. Was bedeutet das?

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Es wäre voreilig, daraus eine Beurteilung über die Gesamtlage zu treffen. Eine wesentliche Rolle spielt die Witterung. Derzeit herrscht in der Ukraine wieder die Schlammperiode, die «Rasputiza». Man sieht das auch an den aktuellen Videos: Zwar gibt es noch motorisierte Bewegungen, aber der Frühjahrsschlamm schränkt solche Einsätze stark ein.

Die Russen haben den Kursker Raum fast vollständig zurückgewonnen. Das ermöglicht es ihnen jetzt, ihre Kräfte neu zu gruppieren und anderswo einzusetzen. Wenn die «Rasputiza» vorbei ist, werden die russischen Angriffe in der früheren Heftigkeit weitergehen.

Wo erwarten Sie solche Angriffe am ehesten?

Es bieten sich entlang der Front mehrere Räume an, die günstig sind für russische Operationen, von der Region Sumi im Norden über den Donbass bis zur Südprovinz Saporischja. Beispielsweise könnten die Russen versuchen, im Nordosten der Provinz Charkiw ein grosses Stück Ukraine herauszubrechen. Dieses Gebiet liegt für die Ukrainer sehr ungünstig, weil die Russen an den Flanken stehen. Im Falle einer grossen Offensive von Wowtschansk und zugleich aus dem Raum Kupjansk müssten die Ukrainer zurückweichen.

An diesen beiden Fronten beissen sich die Russen aber seit vielen Monaten die Zähne aus.

Der Osten der Ukraine wird von sehr vielen Flussläufen durchzogen. Im Zentrum steht deshalb der Kampf um Übergänge über diese Flüsse. Die Russen brauchten lange, aber haben es nun doch geschafft, nördlich von Kupjansk den Fluss Oskil zu überqueren und Brückenköpfe zu bilden. Wenn genügend Kräfte bereitgestellt werden, wird es den erwähnten doppelten Vorstoss möglicherweise geben.

Der grosse Denkfehler ist, militärische Erfolge an Gebietsgewinnen zu messen. Denn hier handelt es sich um einen Abnützungskrieg. Das bedeutet, dass der Erfolg sich nicht über Geländegewinne definiert, sondern über Ressourcenverbrauch. Wenn einer Seite die Ressourcen ausgehen, kann es plötzlich sehr schnell gehen.

Heisst das, dass die Zeit für die Russen arbeitet?

Genau. Die entscheidende Frage ist nicht, wie lange die Russen durchhalten, sondern wie lange die Ukraine durchhalten kann.

Hat der Denkfehler auch mit westlichen Militärdoktrinen zu tun, die von Operationen mit grossen Geschwindigkeiten ausgehen?

Wir sind geprägt von der angelsächsischen Militärdoktrin, die sich aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs entwickelt hat und darauf setzt, den Gegner durch schnelle Schläge in die Knie zu zwingen. Bei den Kriegen gegen den Irak eröffneten die USA die Konfrontation mit einem massiven Erstschlag und machten danach schnelle Vorstösse. Dasselbe erwartete man von der russischen Invasion in der Ukraine. Als den Russen der rasche Vorstoss nach Kiew nicht gelang, erklärte man Moskau vorschnell für gescheitert. Aber die russische wie auch ursprünglich die sowjetische Militärdoktrin sieht vor, im Fall einer misslungenen Offensive sofort auf einen Abnützungskrieg umzuschwenken.

Ein Offizier als Medienstar

A. R. · Der 47-jährige Österreicher Markus Reisner ist Militärhistoriker, Jurist und Offizier im Dienstgrad eines Obersts. Er leitet an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt das Institut für Offiziersausbildung. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Reisner nach der russischen Invasion vom Februar 2022, als er einen für militärische Streitkräfte neuartigen Weg der Informationsvermittlung beschritt: mit regelmässigen Youtube-Videos. Die nüchternen, faktenreichen Lageanalysen des «Kriegserklärers» fanden sofort ein grosses Publikum weit über Österreich hinaus. Oberst Reisner ist seither ein häufiger Gast in deutschen Fernsehsendungen. Wie jeder Militärexperte ist auch er nicht vor Irrtümern gefeit: Als grösste Überraschung des Krieges nennt er die Tatsache, dass Russlands Armee 2022 die ukrainische Hauptstadt nicht einnehmen konnte, sondern sich nach schweren Rückschlägen zurückziehen musste.

Wenn die Zeit für die Russen arbeitet, was bedeutet das dann für die jetzigen Waffenstillstandsverhandlungen?

Kriege gehen immer dann zu Ende, wenn entweder eine Partei aufgrund militärischer Misserfolge kapitulieren muss oder beide Parteien aufgrund von Erschöpfung die Zwecklosigkeit einer Fortsetzung einsehen. Entscheidend ist, wer sich als Erster bewegt – wer sich dazu bekennen muss, dass er den Krieg möglicherweise nicht mehr weiterführen kann. Diesen Schritt haben nun die USA gewagt, die wichtigste Verbündete der Ukraine. Damit hat Putin eine hervorragende Position, denn er hat sich nicht als Erster bewegt, obwohl er möglicherweise selbst knapp vor dem Scheitern ist. Er kann nun zuschauen, wie ihn die Gegenseite an den Verhandlungstisch bringen will.

Kann den Amerikanern so ein Durchbruch gelingen?

Solange die Administration Trump nichts in der Hand hat, um Putin zu drohen, wird dies nicht gelingen. Die USA haben klargemacht, dass sie in Europa Ruhe haben wollen, um sich auf China konzentrieren zu können. Russland wartet in dieser Situation ab, welche Konzessionen die Amerikaner anbieten. Das Tragische daran ist, dass Europa dabei gar keine Rolle spielt, weil es von den Russen nicht ernst genommen wird.

So führen die Gespräche über Waffenstillstände ins Leere. Weshalb sollten die Russen mitmachen? Sie spielen auf Zeit. Sie sagen, sie seien grundsätzlich einverstanden, präsentieren aber eine «Einkaufsliste» mit Forderungen, die zu erfüllen wären. So vergeht Woche um Woche, während Russlands Bomben, Raketen und Drohnen weiter in der Ukraine einschlagen.

Schadet die amerikanische Verhandlungsstrategie der Ukraine?

Das zeigt sich nur schon am Auftreten Putins. Im Vergleich zu früher wirkt er viel selbstbewusster. Bemerkenswert ist auch die Ankündigung, beim Einrückungstermin von diesem Frühling die rekordhohe Zahl von 160 000 Mann einzuziehen. Drastisch ausgedrückt: Die Russen fühlen sich wie im April 1945 auf den Seelower Höhen mit dem Blick in Richtung Berlin: Sie glauben, den Sieg in Griffnähe zu haben.

Obwohl sich die russischen Arsenale leeren, kann Russland noch zwei bis drei Jahre durchhalten. Moskau führt diesen Krieg ja auch nicht allein. China liefert rüstungstechnisch wichtige Bauteile, Iran Drohnen und Nordkorea Millionen von Artilleriegranaten. Dazu spielt Indien durch Rohstoffkäufe Geld in die russischen Taschen. Gerade China hat kein Interesse an einer Befriedung, denn dann würde sich Trump, wie angekündigt, stärker Ostasien zuwenden.

Wäre die Ukraine fähig, ohne amerikanische Hilfe weiterzukämpfen?

Aus strategischer Sicht stellt sich die Frage, ob ihre Rüstungsindustrie und die Bevölkerung auf lange Zeit durchhalten können. Entsprechend zielen Russlands Luftangriffe besonders auf die Industrie und die Infrastruktur. Das Wichtigste, das man der Ukraine liefern muss, sind somit Flugabwehrsysteme mittlerer und hoher Reichweite. Ohne die USA und ihre Lieferungen besteht die Gefahr, dass die Ukraine unter die Räder kommt. Ihr tapferer Abwehrkampf an den Fronten ist nicht entscheidend, wenn es nicht gelingt, die eigene Bevölkerung zu schützen und eine funktionierende Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten. Die EU versucht ihr Bestes, und doch ist es zu wenig.

Trotzdem erzielt die ukrainische Industrie Erfolge, beispielsweise mit der Herstellung von Kurz- und Langstreckendrohnen, nun sogar von einem Marschflugkörper. Reicht das nicht?

Da tut sich sehr viel, aber es kommt auf die Ebene an. Auch wenn die Ukraine bis zu einer Million «First-person view»-Drohnen pro Jahr produziert, ist das kein Waffensystem, das auf der strategischen Ebene den Sieg bringen wird. Auch die Angriffe mit weitreichenden Drohnen im russischen Hinterland sind spektakulär, aber jedes Waffensystem muss einen messbaren Effekt erzielen können. Nach mehr als einem Jahr ukrainischer Angriffe auf russische Erdölraffinerien lässt sich sagen, dass der erzielte Schaden viel geringer ist, als was Russland weiterhin mit dem Erdölgeschäft einnimmt.

Sie haben die ukrainischen Lücken bei der Luftverteidigung erwähnt. Inwieweit ist das auch ein Kernproblem der Europäer?

Als Russland im November erstmals seine Mittelstreckenrakete vom Typ Oreschnik einsetzte, hatte das über die Ukraine hinaus eine hohe Symbolik: Die Oreschnik kam aus einer Scheitelhöhe von etwa 1500 Kilometern in einem sehr steilen Winkel herunter. Gegen eine solche Rakete haben wir keinerlei Abwehr in Europa. Dazu würden spezielle Luftverteidigungssysteme benötigt, wie sie nur die USA und Israel mit den Systemen Thaad beziehungsweise Arrow haben. Wir sind da völlig blank.

Die Nato kann nach eigener Einschätzung nur 5 Prozent ihres Luftraums in Osteuropa schützen. Beispielsweise ist keine einzige der Patriot-Batterien, die Deutschland und andere europäische Länder an die Ukraine geliefert haben, ersetzt worden. Vergleicht man die geringe Zahl dieser Systeme in Europa und die Dimensionen des Kontinents, so sieht man, wie dünn der Schutzschild ist.

Ist es somit zu riskant, europäische Truppen zur Absicherung eines Waffenstillstands in die Ukraine zu entsenden? Ein solches Kontingent wäre doch der Gefahr russischer Luftangriffe ausgesetzt.

Genau deshalb sind die europäischen Regierungen hin- und hergerissen. Auf der einen Seite will man Moskau die Stirn bieten und hält entsprechende Gipfeltreffen ab. Auf der anderen Seite ersucht man die Amerikaner um Rückhalt für die geplante Schutztruppe. «Koalitionen der Willigen» ohne Rückendeckung des Uno-Sicherheitsrates gab es zwar schon früher, aber stets waren die USA dabei und garantierten die nötige militärische Stärke. Jetzt betrachtet Washington die Frage einer Ukraine-Schutztruppe als Angelegenheit der Europäer. Wer also garantiert, dass Russland die europäischen Truppen nicht angreift? Und vor allem: Wie würden die Europäer auf einen solchen Angriff reagieren?

Dass sich die Europäer gegen eine Oreschnik-Rakete nicht verteidigen können, haben Sie bereits erwähnt. Aber damit würde Russland einen offenen Krieg mit Westeuropa riskieren.

Das Kernproblem besteht darin, dass der Kreml für seine Ziele in der Ukraine bis zum Äussersten geht, während der Westen dazu nicht bereit ist. Wenn Europa und Amerika der Ukraine nicht geben wollen, was sie zum Siegen braucht, dann muss der Krieg so rasch als möglich beendet werden. Alles andere wäre unmoralisch. Entweder akzeptiert man, von Russland in Geiselhaft genommen zu werden – dann muss man das den Ukrainern aber auch offen sagen. Oder man sagt Russland «Jetzt reicht’s» und geht aufs Ganze. Aber dann stellt sich die Frage, wie das endet. Gibt Putin nach, oder kommt es zu einer Eskalation, weil auch die Russen aufs Ganze gehen? Die Antwort weiss niemand, weil wir nur historische Eintagsfliegen sind. Wir betreten gerade Neuland.

Was bedeutet diese Ungewissheit für Europa, auch für die Schweiz?

Wir alle müssen die Fähigkeit zur Abschreckung wieder herstellen. Sonst nimmt uns Russland nicht ernst und kann alles mit uns machen, was es will. Europa handelte in den vergangenen Jahren sicherheitspolitisch viel zu naiv. Dass die Europäer nun versuchen, Einigkeit herzustellen, ist gut. Aber hier kommt die hybride Kriegsführung der Russen ins Spiel: Sie versuchen alle jene Kräfte zu stärken, die diesem Denken widersprechen. Sie stellen die militärische Aufrüstung als Verschwörung der Rüstungskonzerne dar, die den Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen wollen. So wie der sowjetische Geheimdienst in den siebziger Jahren die Friedensbewegung im Westen instrumentalisierte, findet Putin auch heute in Europa genügend nützliche Idioten.

Selbst im besten Fall erzeugt Europa die nötige Abschreckung nicht vor dem nächsten Jahrzehnt. Greift Russland noch vorher an?

Ich glaube nicht, dass die russische 1. Garde-Panzerarmee nach Zentraleuropa marschiert. Russland ist mit der hybriden Kriegführung, mit der Spaltung der öffentlichen Meinung in Europa, viel erfolgreicher. Mit einem massiven Angriff auf Zentraleuropa würde der Kreml vielleicht genau die Einigkeit bewirken, die er verhindern will. Aber es kann sehr wohl sein, dass es an der Peripherie im Osten zu russischen Angriffen kommen wird. Die bittere Realität ist deshalb: Kurzfristig müssen die Europäer mit den USA eine Verständigung finden, weil die Amerikaner die einzigen sind, die uns vor einer Aggression schützen können.

Braucht es zur Abschreckung auch eine atomare Aufrüstung Europas?

Das ist genau eine der Diskussionen, die man führen muss. Atomwaffen sind das schrecklichste Waffensystem, das je entwickelt wurde. Aber wenn wir offensichtlich wieder im 19. Jahrhundert sind und einzelne Länder knallhart aufgrund ihrer Atomarsenale andere erpressen, dann muss man dem entgegenwirken. Entweder löst man das in Verhandlungen, oder man muss ein Abschreckungspotenzial dagegen aufbauen.

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