Mittwoch, November 20

Die Ukrainer begegnen der menschenverachtenden Taktik der Russen mit Artillerie und Drohnen. Das reiche jedoch nicht, schreibt der Schriftsteller Sergei Gerasimow aus Charkiw. Die russischen Tentakel durchdringen die Front immer tiefer.

Eines Tages, im Frühjahr 1922, begann der oberste Führer der jungen Sowjetunion, Wladimir Lenin, mit Steinen nach einer Nachtigall zu werfen, die mit ihrem Gesang seinen Schlaf störte. Plötzlich aber spürte er eine Schwäche im rechten Arm. Von diesem Moment an verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapid. Bald erlitt er einen ersten Schlaganfall, dann einen zweiten, und schliesslich, 1924, starb er.

Interessanterweise ist die Nachtigall ein Symbol der Ukraine, und wir nennen die ukrainische Sprache sogar «die Sprache der Nachtigall». Ich wünschte, die Karriere des jüngsten russischen Diktators, der hundert Jahre später, im Jahr 2022, versucht, die ukrainische Nachtigall zu töten, würde im Jahr 2024 ein Ende finden – dann würde der Gang der Geschichte schön symmetrisch aussehen. Aber leider stehen die Chancen dafür nicht gut.

Tollkühne Torheit

Russische militärische Karten gleichen Röntgenbildern, und die roten Flecken darauf sehen aus wie ein wachsender Tumor.

Auf der Karte verläuft die Frontlinie nicht länger glatt. Es erscheinen schmale rote Auswüchse von etwa einem Kilometer Länge; nach und nach verdichten und vervielfältigen sie sich. Sie umschliessen die von den ukrainischen Truppen kontrollierten Gebiete, und nach und nach müssen sich die ukrainischen Verteidiger zurückziehen, um nicht eingekesselt zu werden. Diese Einschnürungstaktik ermöglicht es den Russen, ein Gebiet weit schneller zu besetzen als früher.

Nehmen wir etwa Kupjansk, eine Stadt in der Region Charkiw. Vor ein paar Tagen drangen ein feindlicher Panzer und mehrere gepanzerte Fahrzeuge voller Soldaten in die Aussenbezirke der Stadt ein. Material und Menschen wurden grösstenteils vernichtet, aber die Überlebenden versteckten sich in einem oder zwei Gebäuden. Danach versuchten die Russen, Verstärkung dahin zu schicken, und wenn dies gelungen wäre, hätte ein dünner roter Tentakel das Innere von Kupjansk erreicht. Glücklicherweise scheiterte auch die Verstärkung, was zur Folge hatte, dass die ausharrenden russischen Soldaten nicht überleben konnten. Das Ergebnis dieser tollkühnen Torheit war, dass die russische Armee jetzt drei Dutzend Soldaten weniger zählt.

Ein weiterer roter Tentakel erstreckt sich von Süden her in Richtung Kupjansk, durch Waldgürtel (oder «Lesopolkas», wie die Russen sie nennen) entlang dem Fluss Oskol. In einem dieser Waldgürtel, der 200 Meter lang ist, haben die ukrainischen Verteidiger mehr als 120 Leichen von Invasoren entdeckt. Noch steht die Gesamtzahl nicht fest, denn viele Körper sind zerfetzt, andere sind mit Pflanzen und Erde bedeckt. Wer es im letzten Moment geschafft hat, in die scheinbare Sicherheit eines Unterstands zu kriechen, der liegt in Schichten da.

Jede nachfolgende Welle der Angreifer geht praktisch über die Leichen ihrer Kameraden hinweg, da die ukrainische Artillerie das Gebiet wirksam abdeckt und Drohnen wie Bienenschwärme herumfliegen. Nur wenige überleben die erste Angriffswelle. Ein schwer verwundeter Soldat ist innerhalb von dreissig Sekunden völlig erschöpft. In den ersten zehn Sekunden begreift er wegen des Adrenalins noch nicht, was mit ihm geschehen ist, weitere zehn Sekunden lang überlegt er, was er tun soll, und in den nächsten zehn Sekunden muss er sich selbst einen Druckverband anlegen.

Die Explosionen wirbeln so viel Erde in die Luft, dass sich diese schwarz verfärbt. Die nackten, von Rinde und Ästen befreiten Baumstämme bieten so gut wie keinen Schutz mehr. Trotzdem spriessen aus dem Tumor immer neue rote Tentakel, die sich tief in das ukrainische Gebiet hineinziehen.

Die Taktik des Vormarsches durch «Lesopolkas» ist die Taktik eines Landes, das über unendliche und unendlich duldsame menschliche Ressourcen verfügt. Da die Ukraine hier nicht mithalten kann, vermag sie der raffinierten russischen Strategie, «Lesopolkas» mit Leichen zu füllen, nichts entgegenzusetzen. So ist die Ukraine immer wieder gezwungen, den Rückzug anzutreten.

Die Negation der Negation

Es scheint, dass die marxistische Dialektik, die Lenin so sehr liebte, nach wie vor funktioniert. Insbesondere funktioniert das Gesetz der Negation der Negation, laut dem sich die historische Entwicklung in Zyklen vollzieht, von denen jeder Zyklus aus drei Stufen besteht: dem Ausgangszustand des Objekts, seiner Verwandlung ins Gegenteil (die Negation) und dann der Verwandlung dieses Gegenteils in sein Gegenteil (die zweite Negation und damit die Rückkehr zum Anfang, aber in neuer Qualität).

Die Entwicklung vollzieht sich also nicht in einer geraden Linie, sondern in einer Spirale. In den ersten Kriegstagen breitete sich der rote Tumor im Nordosten der Ukraine ebenfalls in einzelnen schmalen Streifen aus. Die Russen bewegten sich zumeist auf den Strassen in riesigen Kolonnen, legten Hunderte von Kilometern zurück, fast ohne menschliche Verluste, und es schien, als stünden sie kurz davor, Kiew in drei Tagen einzunehmen.

Doch dann geschah die erste Negation: Sie wurden zurückgeworfen und versuchten, in einer geschlossenen Front vorzurücken, wie eine Heuschreckenwolke, die alles zerstört, was sich ihr in den Weg stellt. Auf diese Weise gelang es ihnen, Bachmut zu vernichten. Aber dann kam es zur zweiten Negation, und sie begannen erneut, in einzelnen schmalen Abschnitten vorzurücken.

Jetzt rücken sie nur noch Hunderte von Metern entlang der «Lesopolkas» vor, erobern kleine Landstücke und haben tatsächlich eine Chance, Kiew wieder einzunehmen – allerdings nicht in drei Tagen, sondern dreihundert Jahren. Die Spirale der Entwicklung hat ihre Drehung vollendet.

Der wichtigste Effekt ist, dass die Russen in den ersten Kriegstagen täglich etwa zweihundert Soldaten verloren, heute nähern sich ihre täglichen Verluste zweitausend. Nach Angaben der Ukraine verloren sie beispielsweise am 11. November 1950 Männer.

Nach ihrer Rückkehr als Besiegte aus Afghanistan pflegten die Russen zu sagen: «So etwas Grausames haben wir noch nie erlebt.» Später kämpften sie in Tschetschenien und behaupteten, Afghanistan sei im Vergleich ein Kinderspiel gewesen. Jetzt versuchen sie sich an der Invasion der Ukraine und lassen uns wissen: «Tschetschenien ist nichts im Vergleich dazu.»

Die aus Afghanistan Heimkehrenden pflegten traurige Weisen voller Herzschmerz über die sinnlosen Schrecken des Krieges zu singen. Nach Tschetschenien gab es weit weniger Lieder, und ihre Bedeutung hatte sich bereits zu ändern begonnen: «O grosses Russland, wie viel Söhne du gabst, damit du Ruhm und Macht für immer habst . . .»

Jetzt aber, wo es verboten ist, den Krieg Krieg zu nennen, sind in Russland nur noch hurrapatriotische Feste erlaubt, was dann so tönt: «Ich bin Russe, um der ganzen Welt eins auszuwischen, oh, oh-oh, oh-oh, oh-oh, was für ein Glück ich doch habe!» Hier funktioniert die marxistische Dialektik aus irgendeinem Grund nicht mehr: Die Entwicklung verläuft nicht spiralförmig, sondern senkrecht nach unten, sie ist wie ein Stein, der in einen schwarzen Brunnen fällt.

Deckung zwischen Leichen

Wenn der Krieg vorbei ist, werden alle Invasoren, Überlebende wie Tote, zu Helden erklärt werden.

Wenn man verwundet ist, aber noch ein Schnellfeuergewehr halten kann, muss man vorwärtsrobben. Es sind keine Vorgesetzten in der Nähe, weil diese keine «Lesopolkas» zu stürmen pflegen. Ringsum ist alles mit Leichen und Verwundeten übersät. Man muss über sie hinwegkriechen oder -laufen. Zwischen den Leichen findet man irgendwie Deckung vor Explosionen.

Solange sich in der «Lesopolka» irgendetwas bewegt, erledigen ukrainische Artillerie und Drohnen ihre Arbeit. Am besten, man tut so, als sei man tot, und wartet auf den Einbruch der Nacht. Dann klettert man, nachdem man die übereinanderliegenden Leichen herausgezogen hat, in den «Opornik» (einen kleineren Graben). Wobei Erde, Schlamm und Körper kaum noch zu unterscheiden sind. Die unteren Schichten der Leichen zersetzen sich und stinken. Es gibt nichts zu essen und nichts zu trinken. Wobei Durst schlimmer ist als Hunger. Darum ist es gut, wenn es schneit, dann kann man den Schnee essen.

Je mehr Tote es gibt, desto heiliger ist den Russen der Krieg. Die Russen haben noch niemals Verluste bedauert. Sie sind sogar stolz auf ihre wahnsinnigen Opferzahlen im Zweiten Weltkrieg.

Hier ist ein russischer Soldat, der durch eine «Lesopolka» schreitet und ein Video dreht, das er seiner Frau zu schicken vorhat. Er beschwert sich, dass die Ukrainer alles verwüstet haben und es keinen Ort gibt, an dem man sich verstecken kann.

«So eine Obszönität . . . Wie sehr ich dich vermisse, mein Glück. Und wie sehr meine liebste Tochter . . . So was von obszön», sagt er.

Von der «Lesopolka» stehen nur noch Überreste von Baumstämmen. Überall liegen Leichen – ohne Arme, ohne Beine oder ganz zerstückelt.

Die ganze Nachtigall

Russische Truppen sind in ein Waldgebiet in der Nähe des Dorfes Martinowka in der russischen Region Kursk vorgerückt. Dieses Waldgebiet ist nicht besonders gross: Als ich vor fünfzig Jahren dort Pilze sammelte, umrundete ich es in einem halben Tag und kam mit zwei Säcken voll Steinpilzen heim. Ich vermute, dass dort nur noch zerfetzte Überreste von Bäumen übrig sind, die in den Himmel ragen. 50 000 russische und nordkoreanische Soldaten versuchen jetzt, die Ukraine von dort zu vertreiben.

Heute haben die Invasoren die ukrainische Grenze an einem neuen Punkt nordwestlich von Charkiw überschritten. Hier, in der Region Charkiw, stossen sie mit aller Kraft von Osten her vor.

Aus irgendeinem Grund hat Putin es nicht besonders eilig, die Region Donezk, die er am liebsten hat, «von den Ukro-Nazis zu befreien». Er ist auch nicht sehr erpicht darauf, die Bezirke Cherson und Saporischja zu «säubern», die er bereits per Verfassung in das Staatsgebiet von Russland eingegliedert hat. Das kann auch warten. Stattdessen zappelt er in der Region Kursk herum, bedrängt den Norden der Region Charkiw so stark, wie er nur kann, und rückt ausschliesslich im südlichsten Teil der Region Donezk vor.

So weit die Lage, und was kommt als Nächstes?

Die Taktik, in kleinen Gruppen entlang der «Lesopolkas» anzugreifen, könnte am Ende dazu führen, dass der Tumor den östlich des Flusses Oskol gelegenen Teil der Region Charkiw zersetzt. Das Westufer des Oskol indes besteht aus hohen Kreidefelsen, sie bilden eine natürliche Art Befestigung. Hier ist ein Zusammenbruch der Front unwahrscheinlich. Weiter südlich fliesst der Fluss Sewerski Donez, der nicht so leicht zu überqueren ist, und noch weiter südlich werden hundert Kilometer solide Verteidigungsbefestigungen es den Russen nicht erlauben, weiter nach Westen vorzudringen.

Also rücken die Russen jetzt ganz im Süden der Region Donezk vor. Von da aus kann Putin nächstes Jahr eine neue Offensive starten, nun in die ukrainische Region Dnipropetrowsk. Wenn Putin auch nur einen Teil davon erobert, kann er ein Referendum abhalten und das Gebiet annektieren. Ebenso kann er die Oblast Charkiw für russisch erklären, wenn es ihm gelingt, sich ein ausreichend grosses Stück davon unter den Nagel zu reissen. Genau das versucht er jetzt.

Es sieht nicht danach aus, als ob Putin nur jene Regionen der Ukraine gewinnen wird, deren Besitz er bereits in der Verfassung verankert hat. Er plant, die ukrainische Nachtigall ganz zu verspeisen und jeden Knochen einzeln abzunagen. Er weiss, dass dem Sieger alles zusteht. Er hat seine ganze Macht und sein ganzes Leben auf diesen Krieg gesetzt, und er hat offensichtlich nicht vor, aufzuhören. Zumindest jetzt noch nicht.

Sergei Gerasimow ist Schriftsteller und lebt in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.

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