Mittwoch, Oktober 30

Der Westen sei nicht mehr in der Lage, einen richtigen Krieg zu führen, sagt der französische Historiker Emmanuel Todd. Im Gespräch prognostiziert er, dass Putin einen Regimewechsel in Kiew anstrebt. Er glaubt nicht, dass Russland weitere Länder angreifen wird.

Herr Todd, vor kurzem hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski einen Siegesplan vorgestellt. Was halten Sie davon?

Nichts. Der Name allein evoziert bereits die Orwellsche Methode, die Realität komplett umzudeuten. Denn die russische Armee ist auf dem Vormarsch. Man fragt sich also, wie viele Monate das Regime in Kiew sich noch halten kann. Die Russen werden diesen Krieg gewinnen. Und im Westen stellt man sich blind und redet über den Frieden.

Was macht Sie so sicher, dass die Russen siegen werden?

Die europäischen Politiker und Denker sind nicht mehr in der Lage, einen Krieg zu führen. Und wenn sie mit einem richtigen Krieg konfrontiert werden, beginnen sie sofort und ohne nachzudenken, jenen anzuklagen, der den Krieg begonnen hat, in der Annahme, dass derjenige, der den Krieg begonnen hat, auch zwingend der Schuldige ist.

Es gibt einen breiten Konsens darüber, wer in diesem Krieg der Aggressor ist. Sie scheinen zu glauben, Putin sei das Opfer?

Putin führt einen defensiven Angriffskrieg. Natürlich missbillige ich den Krieg. Nur waren es hier die Amerikaner, die sich der ukrainischen Armee angenommen haben. Die Ukraine wurde de facto in die Nato integriert. Ich bin Historiker, ich versuche einfach zu verstehen, was passiert ist.

Es stand nie ernsthaft zur Diskussion, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wird.

Das ist doch genau der Punkt. Man war auf dem besten Weg, die Ukrainer stillschweigend in die Nato zu integrieren. Konkret bedeutete das, dass die ukrainische Armee von den Amerikanern und Briten reorganisiert wurde. Mit einem offensiven Ziel, einem Projekt zur Rückeroberung des Donbass. Unglücklicherweise war die Ukraine nicht auch im juristischen Sinn Mitglied der Nato und war darum nicht geschützt durch die Beistandspflicht im sogenannten Bündnisfall. Man hatte also alle Risiken einer Mitgliedschaft in der Nato, ohne deren Schutzschild.

Sie sind nicht nur Historiker, Sie scheinen sich auch in der Zukunft auszukennen. 1976 sagten Sie das Ende der Sowjetunion voraus, jetzt prognostizieren Sie in Ihrem neuen Buch mit dem Sieg Russlands zugleich den Untergang des Westens. Die Rolle einer Kassandra scheint Ihnen zu gefallen?

Ja, ich schaue in die Zukunft. In meinen Methoden aber bin ich Konformist. Ich betrachte die Geschichte in der langen Dauer, ich interessiere mich für die ökonomischen Kräfte, für Religion und Bildung. Das ist produktiv, um die Gegenwart zu verstehen und ein winziges Stück der Zukunft zu erkennen. Als Historiker muss ich diesen Krieg betrachten, wie ich die Kriege Cäsars studiere. Es geht mir nicht in erster Linie um das moralische Urteil. Und wenn Sie mir nun sagen, ich sei zu sehr Futurologe, dann kann ich nur sagen: Ich will wissen, was jetzt passieren wird.

Sagen Sie es mir.

Die Ukrainer haben verloren, die Amerikaner haben verloren. Aber wie werden die Amerikaner und die Europäer ihre Niederlage akzeptieren?

Was ist Ihre Prognose?

Nie werden die Russen weitergehende Kriegsziele anstreben, weil sie weder die Mittel haben noch die Lust oder das Interesse. Und das ist dann der Frieden. Oder der Westen wird den Krieg fortsetzen, indem man Raketen mit grosser Reichweite nach Russland schiesst und eine nukleare Eskalation riskiert.

In Ihrem Buch zählen Sie die drei Kriegsziele der Russen auf, als hätten Sie eine direkte Verbindung in den Kreml.

Diese Ziele lassen sich herleiten aus den Sicherheitsbedürfnissen der Russen: Besetzung des östlichen Dnjepr-Ufers, Besetzung der Oblast Odessa zur Sicherung der Häfen am Schwarzen Meer und eine Russland-freundliche Regierung in Kiew.

Das wäre allerdings gleichbedeutend mit der totalen Unterwerfung der Ukraine.

Richtig, das ist die Zerstörung der Ukraine. Das zeigt, dass ich ein ehrlicher und ernsthafter Forscher bin. Ich werde beschuldigt, russophil zu sein, ich sei ein Putin-Versteher, heisst es. Wenn Sie einen Scherz in Ihrem Interview unterbringen möchten, dann können Sie schreiben, es sei endlich offenkundig, dass ich kein Agent des Kremls sei, aber dass ich Putin Ratschläge erteile.

Ich habe den Eindruck, es befriedigt Sie, die Niederlage des Westens und die Unterwerfung der Ukraine vorauszusagen.

Ich glaube, Sie verwechseln meine intellektuelle Befriedigung als Historiker mit einem vermeintlichen Vergnügen an den tragischen Ereignissen. Es ist nicht das Vergnügen an den historischen Tatsachen, sondern jenes des Historikers, der sein Chef d’Œuvre schreibt.

Gehört dazu auch die Genugtuung, dass sich Ihre historischen Untersuchungen und die daraus abgeleiteten Prognosen vom Mainstream abheben?

Tatsächlich glauben viele Leute in Frankreich, es bereite mir Spass, allen zu widersprechen.

Jedenfalls scheint es Ihnen offenkundig nicht zu missfallen.

Im Gegenteil. Es macht mich physisch krank. Widerspruch an sich bereitet mir keine Freude. Indessen glaube ich, dass ich ein Aussenseiter bin. Ich habe ein historisches Modell entwickelt, das in regelmässigen Abständen im Widerspruch steht zu den Auffassungen anderer Forscher. Das Interessante ist: Es sind immer wieder andere, die mich angreifen und beschimpfen. Trotzdem glaube ich, dass ich ein sympathischer Typ bin.

Ist es Ihnen wichtig, sympathisch zu sein?

Extrem, ich bin nicht streitsüchtig. Aber ich halte Debatten aus. Hingegen leide ich, wenn man mich verachtet.

Wie kommt es, dass Sie immer wieder von ganz unterschiedlichen Seiten so heftig angegriffen werden?

Ich bin Historiker bis auf die Knochen. In einer Gesellschaft, die kein historisches Bewusstsein mehr hat, muss ich zwangsläufig in Konflikt geraten mit den Intellektuellen der Gegenwart.

Sie werden verachtet. Aber verachten Sie nicht auch ihrerseits die Medien?

Absolut, ich habe mir diese Geringschätzung in langer Erfahrung angeeignet. Ich komme aus einer journalistischen Tradition. Mein Grossvater Paul Nizan war Schriftsteller, Kommunist und Journalist, er starb 1940 an der Front. Mein Vater wiederum, er ist mittlerweile 95 Jahre alt, ist ein bedeutender Journalist des «Nouvel Obs». Das hat meine eigene intellektuelle Bildung geprägt.

Können Sie es etwas genauer beschreiben?

Ich sah, wie mein Vater durch die Welt reiste, auch an gefährliche Orte wie Vietnam oder Biafra. Er schrieb grossartige Reportagen, aber verstand die historischen Hintergründe kaum. Meine Obsession mit Büchern hat – abgesehen davon, dass ich wenig reise und Angst vor dem Fliegen habe – mit meinem Vater zu tun, der viel reiste und vieles nicht verstand. Ich habe meine eigene Theorie über den Untergang des Journalismus.

Und die lautet?

Es gab in den Anfängen ein pluralistisches System mit vielfältigen Positionen, was wiederum die Pluralität der Information garantierte. Dann verschwanden alle Ideologien, und der Journalismus mit Kleinbuchstaben verwandelte sich in einen JOURNALISMUS mit Grossbuchstaben, der sich selber wichtiger nahm als die politischen Positionen. Die Zeitungen wurden austauschbar. Der Journalismus trägt sehr stark zu der Unfähigkeit im Westen bei, den Ukraine-Krieg nüchtern zu betrachten.

Journalisten nehmen für sich in Anspruch, was Sie als Historiker behaupten: Man trägt Fakten zusammen und deutet sie.

Journalisten ohne Geschichtsbewusstsein wie mein Vater haben keine Vorstellungen mehr, wie die Geschichte gedeutet werden soll, darum sind sich alle Journalisten ähnlich geworden mit ihren wenigen schlichten Ideen. Es überrascht nicht, dass der Journalismus mit Grossbuchstaben im Westen zum Krieg aufruft. Der Journalismus ist eine kriegstreibende Kraft geworden. Eine kriegstreibende Kraft bedeutet für die Menschheit nichts Gutes.

Es gibt ein paar Dinge in Ihrem Buch, die ich sehr bizarr finde.

Nur ein paar?

Sie schreiben in Ihrem Buch mehrmals, dass Putin aus Rücksicht auf seine Soldaten eine langsame Strategie verfolge. Nach allem, was wir wissen, ist ihm das Leben seiner Soldaten nicht viel wert.

Dass er sie schützen wolle, ist zu stark ausgedrückt. So ist es nicht gemeint. Ich gehe vom westlichen Diskurs aus. Im Westen will man nicht nüchtern über Putin und Russland nachdenken. Sie denken alles unter der Formel Putin gleich Stalin. Deswegen denken sie, Putin führe den Krieg wie Stalin. Stalin führte Krieg unter Rückgriff auf die demografischen Ressourcen der Sowjetunion, die unerschöpflich waren. Putins Vorgehen ist ganz anders. Die menschlichen Verluste fallen ins Gewicht. Er will nicht zu viele Tote riskieren und führt darum einen sehr langsamen Feldzug.

Um die eigene Bevölkerung zu schonen, holt Putin nun Soldaten aus Nordkorea. Sie können nicht behaupten, dass Putin besondere Rücksicht nimmt auf Menschenleben.

Das behaupte ich auch nicht. Das sind nicht die Massstäbe, die man an einen Staatschef anlegen kann. Putin will eine generelle Mobilisierung vermeiden, die im Volk schlecht aufgenommen würde. Sie würde die Wirtschaft und die Gesellschaft Russlands vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen. Hat etwa Biden Respekt für das Menschenleben?

Gerade sagten Sie, dies seien nicht die Massstäbe, nach denen man Staatschefs beurteilt. Mich verwundert, dass Sie in Ihrem Buch geradezu obsessiv Putins angebliche Schonung der Soldaten betonen.

Ich versuche nur eine Tatsache zu erwähnen, die westliche Beobachter konsequent ausblenden. Denn es ist die Voraussetzung für die Stabilität des russischen Regimes. Ich weise nicht eigens auf die Gewaltexzesse der russischen Regierung hin, weil das allgemein bekannt ist.

Ist es nicht intellektuell unredlich, die Verhältnisse so einseitig darzustellen?

Ich wollte nicht wiederholen, was ohnehin evident ist. Sie können mir nicht vorwerfen, dass ich etwas verschweigen will. Konkret weise ich auf den Unterschied zwischen einer oligarchischen Demokratie im Westen und der autoritären Demokratie im Osten hin.

Damit stellen Sie die Realität selber nach der Orwellschen Methode auf den Kopf. Sie nennen Putins Regime eine Demokratie, während die Opposition entweder ermordet, inhaftiert oder ins Exil gezwungen wird. Das ist zynisch.

Aber nein, das ist sehr ernsthaft. Wir orientieren uns im Westen an der liberalen Demokratie. Es ist eine Demokratie, in der sich eine Mehrheit der Bevölkerung ausspricht und die Minderheit geschützt wird. Und darum nenne ich die russische Demokratie autoritär, weil sich in ihr zwar die Bevölkerungsmehrheit ausdrückt, während die Minderheiten jedoch nicht geschützt sind.

Was hat es mit der oligarchischen Demokratie im Westen auf sich?

Zwar existieren die demokratischen Institutionen weiterhin, man wählt, es gibt die Pressefreiheit, aber der Geist ging verloren, weil die Bevölkerung fragmentiert worden ist und die Oberschicht die Arbeiter verachtet. Ich nenne sie darum eine liberale Oligarchie. Die Kontroversen, die ich damit ausgelöst habe, zeigen doch, dass die Gegenüberstellung fruchtbar sein muss.

Wer sind die Oligarchen in den USA?

Trump, Musk, Bezos, Gates, da gibt es sehr viele Leute, die extrem reich sind und deren Vermögen ihnen erlaubt, direkten Einfluss auf das politische System ihres Landes auszuüben. Aber die Mehrheit der amerikanischen Milliardäre steht auf der Seite der Demokraten. Man hat immerhin einen Pluralismus der Oligarchen in den USA.

Ihr Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, auch ins Russische, nur in den USA ist es bisher nicht erschienen. Verwundert Sie das?

Ich war sogar sehr überrascht, weil meine früheren Bücher in den USA eine sehr gute Aufnahme gefunden haben. Es erfüllt mich mit Stolz. Ich dachte, dass ich ein richtig gutes Buch geschrieben haben muss, wenn man es für so gefährlich hält und alle amerikanischen Verleger Angst haben, es zu veröffentlichen.

Könnte es nicht genau umgekehrt sein? Man hält Ihre Einschätzungen für unzutreffend.

Eher frage ich mich, ob es in den USA eine zentrale Instanz zum Verbot des Buches gegeben hat.

Ein Komplott gegen Sie?

Es ist ja nur eine Frage.

Gegen den Mainstream

rbl. · Der streitbare französische Historiker Emmanuel Todd, geboren 1951, hat 1976 mit seinem Buch «La Chute finale» den Zusammenbruch der Sowjetunion vorhergesagt und damit für grosses Aufsehen gesorgt. Seit der Jahrtausendwende macht er sich einen Namen als unkonventioneller Denker und Historiker, der mit Vorliebe gegen den Mainstream argumentiert. 2002 schrieb er einen Nachruf auf die USA. Und vor wenigen Wochen ist unter dem Titel «Der Westen im Niedergang» sein neustes Werk erschienen. Darin verteidigt er Russlands Überfall auf die Ukraine, den der Westen provoziert habe, ohne ihm etwas entgegensetzen zu können und zu wollen.

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