Dienstag, April 8

Der obligatorische Dienst am Vaterland machte Soldaten einst zu Staatsbürgern. Aber die Kosten waren immens – nicht nur finanziell. Viel Interesse weckt das schwedische Modell.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hält den europäischen Staaten den Spiegel vor: Schonungslos zeigt er ihnen, dass sie für einen Krieg nicht gewappnet sind. Dass sich die amerikanische Regierung unter Donald Trump nicht mehr voll zur Nato – dem Rückgrat der europäischen Verteidigungsfähigkeit – bekennt, macht die Lage noch ungemütlicher.

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Europa ist deshalb zum Aufrüsten gezwungen – die Lücken sind in gewissen Bereichen eklatant. Im Schatten davon läuft in verschiedenen Nato-Staaten aber auch eine Debatte über die Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht. Denn eine der Erkenntnisse des russischen Zermürbungskrieges ist: Menge und Qualität der Waffensysteme sind wichtig, aber entscheidend ist auch, über genügend Soldaten und Offiziere zu verfügen.

Das Vereinigte Königreich machte den Anfang

Im 19. Jahrhundert, mit den aufkommenden Nationalstaaten, begann das Zeitalter der Massenheere. Der Wehrdienst hatte – damals ausschliesslich für Männer – auch soziale und staatspolitische Komponenten: Gerade für unterprivilegierte Schichten war er eine Möglichkeit, die politische und wirtschaftliche Stellung in der Gesellschaft zu verbessern. Zwar rückten längst nicht alle Stellungspflichtigen in die Armee ein, aber ohne allgemeine Wehrpflicht wären die verlustreichen Feldzüge im 19. Jahrhundert und später auch die beiden Weltkriege nicht denkbar gewesen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging der Trend in die Gegenrichtung. Als erste der grossen westlichen Militärmächte schaffte das Vereinigte Königreich 1960 die Wehrpflicht ab, die USA taten es ihm 1973 gleich – eine Konsequenz des unpopulären Vietnamkriegs. Frankreich, Italien und Deutschland und viele weitere Staaten folgten vor oder nach der Jahrtausendwende.

Die Nato konzentrierte sich besonders nach den Terrorattacken von 2001 auf die Bekämpfung von Aufständen und die Bewältigung von Krisen – was nicht die gleiche Anzahl an Soldaten wie bei einem konventionellen Krieg bedingte.

Je näher an Russland, desto mobilisierter

Heute ist die Berufsarmee im Westen der Standard, wie ein Blick auf die Karte zeigt: Nur eine gute Handvoll Nato-Mitgliedländer haben eine Dienstpflicht – namentlich die nordischen und baltischen Staaten, Griechenland, die Türkei und seit neustem Kroatien. Dass sie fast alle in der Nähe von Russland liegen, das seine expansionistischen Absichten nicht verbirgt, ist kein Zufall.

Hinzu kommen die neutralitätsbedingten Spezialfälle Schweiz und Österreich: Wer auf militärische Allianzen verzichtet, braucht für die Verteidigung entsprechend mehr Personal. Ob die nach dem Kalten Krieg arg gestutzte Schweizer Armee überhaupt Abschreckungspotenzial hat, ist Gegenstand einer andauernden innenpolitischen Debatte. Auch wenn in einem Land eine Wehrpflicht besteht, bedeutet das nicht, dass alle Stellungspflichtigen tatsächlich Dienst leisten. Viele Länder kennen einen zivilen Ersatzdienst. Zudem ist ein erheblicher Anteil der Stellungspflichtigen dienstuntauglich – in gewissen Schweizer Kantonen über 40 Prozent.

Deutschland debattiert heftig

Der Think-Tank Bruegel und das Kieler Institut für Weltwirtschaft schätzten kürzlich, dass Europa 300 000 zusätzliche Soldaten mobilisieren müsste, um ohne die USA gegen Russland bestehen zu können. Ob dieser Effort nur durch Wehrpflicht zu erreichen ist, schreiben die Forscher nicht.

In mehreren Nato-Mitgliedländern haben die geopolitischen Realitäten jedenfalls Diskussionen ausgelöst, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Allen voran in Deutschland: Erst 2011 hat das bevölkerungsreichste Land der EU die Dienstpflicht abgeschafft, doch nun fordern die Unionsparteien – die den nächsten Kanzler stellen werden – deren Wiedereinführung. Der SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius befürwortet die Stossrichtung, gibt allerdings zu bedenken, dass die notwendige Infrastruktur nicht vorhanden sei.

Wie bleiben die USA an Bord?

Polen, das militärische Musterkind Europas, erwägt ebenfalls eine Rückkehr zur Wehrpflicht. Ministerpräsident Donald Tusk kündigte kürzlich im Parlament an, den Bestand der polnischen Armee (inklusive Reservisten) von derzeit rund 200 000 auf eine halbe Million Soldaten zu steigern. Auch die Niederlande wollen ihre Streitkräfte mehr als verdoppeln, vorderhand aber auf Freiwilligkeit setzen.

Dänemark kennt die Wehrpflicht für Männer. De facto hat sie bislang aber wenig Bedeutung, denn der Soll-Bestand kann mit Freiwilligen gedeckt werden. Weil die Länge des Dienstes nun fast verdreifacht wird und darum Personal fehlen könnte, wird die Wehrpflicht nun aber auch auf Frauen ausgedehnt.

Bei diesem Flickenteppich von Rekrutierungsvarianten stellt sich aus Sicht der Nato die Frage, ob es nicht effizienter wäre, ein einheitliches System zu haben. Im Brüsseler Hauptquartier will man nichts vorschreiben. Mehr militärische Kräfte seien «im aktuellen Umfeld» notwendig – wie diese erzeugt würden, sei eine souveräne nationale Entscheidung, sagt eine Mediensprecherin. Klar ist: Eine deutliche Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit ist das erfolgversprechendste Mittel, um die USA in der Allianz zu halten.

Vorteilhafte Nähe zur Wirtschaft

In erster Linie sollen die verschiedenen Aufrüstungspläne die Armeebestände vergrössern. Stärkere Streitkräfte haben eine höhere Abschreckungswirkung. Kommt es dennoch zum offenen Konflikt, ist gerade nach der ersten Kriegsphase die Anzahl an leistungsfähigen Reservisten von zentraler Bedeutung, wie der Blick in die Ukraine lehrt.

In der Diskussion um die Dienstpflicht spielen aber auch «weichere» Faktoren eine Rolle. Dänemark rechtfertigt die Ausweitung auf Frauen mit der Gleichstellung der Geschlechter. Wie das Schweizer Modell zeigt, profitiert eine «Volksarmee» von den Fähigkeiten, welche die Soldaten in der Privatwirtschaft erlangen. Und je enger die Bindungen zwischen Zivilgesellschaft und Militär sind, desto grösser ist die Widerstandsfähigkeit einer Bevölkerung – ein nicht zu unterschätzender Faktor in einer Krise.

Gleichzeitig verursacht eine Wehrpflichtarmee Kosten, die über den höheren Aufwand für Ausbildung, Unterkunft, Ausrüstung und Verwaltung hinausgehen. Der Wirtschaft werden Arbeitskräfte für eine gewisse Dauer entzogen, die sie nicht einfach so ersetzen kann. Zudem sind junge Männer und Frauen, die zum «Dienst am Vaterland» gezwungen werden, möglicherweise weniger motiviert als diejenigen, die sich freiwillig dafür entscheiden. Allerdings zeigt die Realität, dass die westeuropäischen Berufsarmeen trotz einer Vielzahl von Privilegien, die sie ihren Angehörigen bieten, oftmals Mühe haben, ihre Rekrutierungsziele zu erreichen.

«Selektive Wehrpflicht» im Norden

Einen möglichen Mittelweg haben Schweden und Norwegen skizziert, auf deren «selektive Wehrpflicht» in der deutschen Debatte oft verwiesen wird. Sie verschicken einen Fragebogen an sämtliche Frauen und Männer, welche die Volljährigkeit erreicht haben. Dabei geht es um den Bildungsstand, die Gesundheit, vor allem aber um die eigene Haltung zum Militär.

Bis anhin haben die beiden skandinavischen Armeen damit stets genügend Motivierte gefunden, so dass sie nicht zur Zwangsrekrutierung greifen mussten. Aber das gilt mutmasslich nicht für alle Staaten Europas, erst recht nicht für jene, in denen die Kriegsgefahr weit entfernt scheint. Hinweise darauf gibt eine Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2024: Auf die Frage, ob sie zu kämpfen bereit wären, wenn das eigene Land in einen Krieg involviert wäre, antworteten im EU-Durchschnitt nur 32 Prozent der Befragten mit Ja. 47 Prozent hingegen wollten davon nichts wissen. In Italien waren es gar 78 Prozent.

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