Donnerstag, November 13

Die amerikanische Videoplattform spielt im russischen Alltag eine wichtige Rolle. Dem Regime ist sie schon lange ein Dorn im Auge. Jetzt könnte der letzte Ort des Pluralismus auch noch verschwinden.

Es war ein Offenbarungseid, obwohl es als Protest gedacht war. Jaroslaw Dronow, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Shaman, liess vor zehn Tagen vor der amerikanischen Botschaft in Moskau eine Konzertbühne aufbauen und lud seine Anhänger spontan dazu ein, an dem Freitagabend seinem Auftritt beizuwohnen. Shaman, der sich auch im russischen Kontext mit lateinischen Buchstaben schreibt, ist der Pop-Sänger des Russland, das sich im Krieg befindet. Er trägt blondiertes Haar, er liebt martialische Auftritte, die an Leni-Riefenstahl-Filme erinnern, und er singt von dem Stolz, Russe zu sein: «Ja russki» («Ich bin Russe») ist sein bekanntestes Lied.

Zweimal sang er es an dem improvisierten Konzert vor der Botschaft des Feindes. Vom «Sieg» sprach er; unter diesem Motto wird sein nächster grosser Auftritt auf dem Roten Platz am «Tag der Flagge» stehen. Gemeint ist der Sieg über den Westen, dessen Videoplattform Youtube jetzt auch ihn, wie viele kriegslüsterne russische Künstler und Propagandisten lange vorher schon, gesperrt hat. Der Aufmarsch sollte den Unmut gegenüber dieser Sperre zeigen. Aber er offenbarte vor allem, dass es auch den grössten angeblichen Patrioten nicht egal ist, ob sie bei Youtube sind oder nicht.

Google soll selbst schuld sein

Youtube, Googles Videoplattform, ist der beliebteste Videoservice in Russland, mit mehr als 95 Millionen Benutzern im Monat. Zugleich ist es die letzte der grossen westlichen Internetplattformen, die noch ohne Einschränkung in Russland genutzt werden kann. Seit der Invasion in der Ukraine im Februar 2022 war immer wieder darüber spekuliert worden, dass die russischen Behörden auch Youtube im Land blockieren könnten, so dass die Plattform nur noch über ein virtuelles privates Netzwerk (VPN) erreichbar wäre. Immer wieder wies der Kreml solche Gerüchte zurück.

Jetzt aber deutet alles darauf hin, dass die russischen Zensoren Youtube nach und nach die Luft abschnüren und die Nutzer auf einheimische – und damit vom Staat kontrollierte – alternative Dienste zwingen wollen.

Zunächst kündigte der staatliche Telekommunikationskonzern Rostelekom völlig unerwartet an, Youtube werde sich verlangsamen. Als Grund nannte er die Überlastung der Serverinfrastruktur. Weil sich Google aus Russland zurückgezogen habe, werde diese nicht mehr erneuert und gewartet, so dass sie nach und nach an Qualität verliere. Ganz abwegig ist das nicht, wie Fachleute sagen. Dass das aber von heute auf morgen eintritt, ist unwahrscheinlich.

Kurz darauf schrieb Alexander Chinstein, Vorsitzender des Komitees für Informationspolitik in der Staatsduma, die russischen Behörden hätten die Geduld mit Youtube verloren. Die Plattform werde zunächst um 40, dann um 70 Prozent verlangsamt, allerdings vorläufig nur bei der Nutzung am Desktop, nicht über Mobiltelefone.

Der Schritt richte sich nicht gegen die russischen Nutzer, sondern gegen das amerikanische Unternehmen, das konsequent russische Gesetze ignoriere und eine antirussische Politik betreibe. Unverblümt fügte er an, für den Beginn der Massnahme sei bewusst der Sommer gewählt worden, wenn mehr Menschen die Plattform ohnehin übers Mobiltelefon nutzten. Der Schlüssel zur Lösung der Frage liege bei Google. Ändere der Konzern seine Politik nicht, habe er in Russland nichts Gutes zu erwarten. Überdies entwickelten sich die russischen Konkurrenten Rutube und VK Video prächtig.

Chinsteins Offenherzigkeit provozierte so viele unfreundliche Reaktionen, dass der Abgeordnete einen Tag später plötzlich wieder auf die ursprüngliche Begründung von Rostelekom zurückkam: Google habe die Verlangsamung selbst zu verantworten, weil es die Infrastruktur vernachlässigt habe.

Ein Fenster zur Welt

Dass es die Behörden jetzt, zweieinhalb Jahre nach Beginn des Grosskrieges gegen die Ukraine, doch noch auf Youtube abgesehen haben, ist für die russische Bevölkerung ein schwerer Schlag. Youtube ist ein Fenster zur Welt und ein Stück Pluralismus, mit einem unerschöpflichen Angebot an Filmen, Musik, ausländischen Fernsehshows und russischsprachigen Podcasts, Clips und Gesprächssendungen aus dem In- und Ausland. Gerade für jüngere Generationen ist es zum Ersatz für das lineare, von der Propaganda durchdrungene Fernsehen geworden.

Weil Youtube so beliebt ist und für alle politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Strömungen in Russland eine zentrale Plattform darstellt, hatte der Staat so lange gezögert. Entgegen der Bemerkung Chinsteins konnten die einheimischen Plattformen der amerikanischen Konkurrenz bis jetzt nie gefährlich werden. Ihnen fehlt vor allem der vielfältige Inhalt.

Ein Dorn im Auge ist Youtube dem russischen Regime aber seit langem nicht nur deshalb, weil es russische Propagandisten gesperrt hat. Im Unterschied zu den russischen Pseudoalternativen sind der Zensurbehörde Roskomnadsor die Hände gebunden. Nur noch hier können die ins Exil gedrängten, zu «ausländischen Agenten» oder gar «unerwünschten Organisationen» erklärten Medien und Journalisten ihre Inhalte verbreiten. Auch diejenigen russischen Exilpolitiker und Aktivisten kommen zu Wort, die das russische Regime zur Fahndung ausgeschrieben oder sogar in Abwesenheit zu Freiheitsstrafen verurteilt hat. Youtube ist auch der Ort, wo andere historische und gesellschaftspolitische Sichtweisen verbreitet werden, als der Staat sie zulassen will.

Facebook, Instagram und X waren schon vor zweieinhalb Jahren blockiert worden. Deren Sperrung – die Muttergesellschaft von Facebook und Instagram, Meta, wurde gar für extremistisch erklärt – zeigte zweierlei: Sie verloren in Russland schnell an Reichweite. Aber wer ihnen treu blieb, liess sich davon nicht abschrecken, auch etwa Werber nicht. Denen will die Staatsduma mit einem neuen Gesetz das Handwerk legen, das Werbung auf solchen Plattformen strafbar macht.

Ausländischen Einfluss tilgen

Darüber, ob die Behörden Youtube ganz sperren oder nur für die Nutzer möglichst unattraktiv machen wollen, scheiden sich die Geister. Einig sind sich die Beobachter darin, dass selbst die faktische Abschaltung dieses «volkstümlichen» Angebots auf keinen sichtbaren Widerstand in der Gesellschaft stossen wird. In der Staatsduma gibt es auch schon Überlegungen dazu, wie Rutube und VK Video, die vom Zensor gut überwachten Konkurrenten, dem Publikum schmackhafter gemacht werden sollen: Beliebte Inhalte von Youtube sollen einfach in einem Akt der Piraterie auf die beiden russischen Dienste kopiert werden.

In zwei Jahren finden die nächsten Dumawahlen statt. Bis dahin soll es der Bevölkerung, vor allem auch der Jugend, noch schwerer gemacht werden, sich jenseits des immer enger gesteckten russischen Rahmens zu informieren und zu bilden.

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