Donnerstag, November 28

Das Zugpersonal und die Lokführer haben im Frühling Alarm geschlagen. Sie berichteten von Szenen wie im Wilden Westen. Die am Montag vorgestellten Massnahmen der SBB stellen sie nicht zufrieden.

Am 11. November starten die SBB eine «Sensibilisierungskampagne» mit dem etwas farblosen Namen «Gemeinsam respektvoll unterwegs». Das entsprechende Plakat kommt ungleich bunter daher: Ein Kaktus im Herbstpullover steht neben einer aus farbigen Ballonen bestehenden Figur. Man wolle dieses ernste Thema «humorvoll angehen», sagt Linus Looser am Montagmorgen, als die SBB die Kampagne den Medien vorstellen. Looser sitzt in der SBB-Geschäftsleitung und verantwortet den Personenverkehr. Seine Deutung des Plakats, das zum Denken anregen soll: Ein Nadelstich kann eine Situation explodieren lassen.

Die SBB reagieren damit auf die «gröber werdenden Attacken gegen das Zugpersonal», wie Looser einräumt. Wobei er mehrfach festhält, dass das Sicherheitsempfinden in Zügen und an Bahnhöfen bereits hoch sei. «Die Leute fühlen sich im Zug wohler als ausserhalb. Das zeigt eine Studie.» Nun aber die Kampagne. Weil jede Aggression eine zu viel sei und die Sicherheit das höchste Gut.

Glaubt man den Gewerkschaften, sind in den vergangenen Monaten einige Situationen explodiert.

«Wild Wild West» im Zug nach Genf

Hanny Weissmüller hat bereits im Frühling Alarm geschlagen. Als Präsidentin des Lokpersonalverbandes (LPV) vertritt sie mehrere tausend Lokführer. Sie berichtet von umherfliegenden Bierdosen, zerschlagenen Fenstern und rauchenden Passagieren. Davon, dass viele Lokführer abends auf ihre SBB-Jacke verzichteten, weil sie sonst angepöbelt würden. Weissmüller weiss, wovon sie spricht. Seit zehn Jahren arbeitet sie als Lokführerin.

«Wild Wild West» sei das bisweilen, sagt Weissmüller. Insbesondere auf dem Interregio 90 zwischen Brig und dem Genfer Flughafen. Eine Verbindung, die in der SBB-internen Risikobeurteilung «konstant rot» sei – und im vergangenen April Schauplatz einer Messerstecherei war.

Eigentlich, sagt Weissmüller, hätten an jenem frühen Morgen zwei Zugbegleiter im Einsatz stehen müssen. So sei es für derartige Nachtzüge mit den SBB vereinbart gewesen. Doch nur eine einzige Zugbegleiterin habe sich im Zug befunden. «Sie konnte die anderen Reisenden in der ersten Klasse in Sicherheit bringen», schrieb Weissmüller in der Gewerkschaftszeitung. Bis Lausanne habe der Zug dann mehrfach angehalten, doch die Polizei habe nicht eingegriffen. «Erst in Lausanne, wo die Transportpolizei einen Stützpunkt hat, kam endlich Unterstützung.»

«Brandschwarz angelogen»

Die sogenannten Besetzungen sind ein grosser Streitpunkt. Sie geben an, wie viele Kontrolleure einem Zug zugeteilt sind. Ralph Kessler, Zentralpräsident des Zugpersonalverbandes (ZPV), sagt: «Die SBB hatten uns bei der Einführung der neuen doppelstöckigen Fernverkehrszüge versprochen, diese in den Spitzenzeiten mit mindestens drei Zugbegleitern zu besetzen. Heute müssen wir froh sein, wenn zwei Zugbegleiter auf dem Zug sind.» Kessler findet deshalb, die SBB hätten den ZPV damit «brandschwarz angelogen».

Auch Kessler zeichnet ein düsteres Bild vom Alltag im Zug: Die psychische und physische Belastung des Zugpersonals habe massiv zugenommen – und damit auch die Zahl der Absenzen. Ausserdem würden immer mehr seiner Kolleginnen und Kollegen Teilzeit arbeiten oder den Beruf ganz verlassen. Das seien eindeutige Signale, die die SBB allerdings «aktuell nicht erkannt» hätten. «Stattdessen wird versucht, die Zitrone weiter auszupressen – mit gleichbleibendem Personalbestand.»

Neues Security-Trainingszentrum in Murten

Linus Looser weist die Vorwürfe zurück: «Eine Vereinbarung für eine Dreifachbesetzung hat es nie gegeben.» Man habe einzig beschlossen, die Begleitung auf allen Fernverkehrszügen nach 22 Uhr mit zwei Kundenbegleitern sicherzustellen. Zudem sei auch auf Frühzügen sowie tagsüber auf ausgewählten Verbindungen die Begleitung zu zweit vereinbart worden. «Und in 98 Prozent der Fälle gelingt uns das auch. Die anderen 2 Prozent machen kurzfristige Krankheitsausfälle aus. In solchen Fällen setzen wir alles daran, Ersatz zu beschaffen.» Im Regionalverkehr gebe es Stichproben, die immer mindestens zu zweit durchgeführt würden.

Looser verweist auf das neue «Security-Trainingszentrum» in Murten. Seit vergangenem Sommer finden dort Schulungen für das Zugpersonal statt. Einer der Räume ist einem Waggon nachempfunden. Hier demonstrieren die SBB am Montag vor den Medien eine Mitarbeiterschulung. Das sieht dann so aus: Eine Kontrolleurin trifft auf einen am Hals tätowierten Mann mit Bier in der Hand. Sie wird von ihm angepöbelt. «Du dumme Kuh!», hört sie ihn sagen. Die Kontrolleurin macht, wie soeben gelernt, einen Schritt zurück, hält die Hand warnend vors Gesicht und ruft: «Stopp!» Zweimal. Schliesslich fragt sie den Mann, weshalb er sie beschimpfe, und verlangt sein Billett. Unter anderem so soll sich die Situation im Zug entschärfen.

Und jene zwischen den SBB und den Gewerkschaften?

Die Aussichten sind eher schlecht. Denn die Deutung der Situation könnte unterschiedlicher kaum sein. Das zeigt sich auch in den Zahlen. Die SBB sprechen von durchschnittlich zehn schwerwiegenden Aggressionen gegen das Zugpersonal pro Tag. Die Zahl sei relativ konstant und müsse auch in Relation zu den inzwischen 1,34 Millionen Fahrgästen pro Tag gesetzt werden, sagt Looser von den SBB. Ralph Kessler, der das Zugpersonal vertritt, sagt dagegen, bei Übergriffen gegen das Personal sei eine Zunahme festzustellen. «Und bei verbalen Drohungen stagnieren die Zahlen auf hohem Niveau.»

Oder die Anzeigen: Die SBB sagen, jeder Vorfall werde zur Anzeige gebracht. Die Lokpersonal-Chefin Hanny Weissmüller sagt, würde sie jeden Vorfall melden, käme sie kaum mehr zum Fahren.

«Wir machen bereits viel»

Kürzlich habe nochmals ein Treffen mit den SBB stattgefunden, sagt Weissmüller. Sie sei «positiv überrascht» gewesen, habe sich «ernst genommen gefühlt». «Die Kampagne ist ein Schritt in die richtige Richtung.» Auch die Schulungen begrüsse sie, wenngleich der LPV seit Jahren selbst Kurse anbiete. Und auch Ralph Kessler befürwortet die Sensibilisierungskampagne. In Deutschland habe man während der Fussball-Europameisterschaft im vergangenen Sommer gute Erfahrungen damit gemacht.

Man ist sich sogar einig in der Einschätzung, dass der Respekt vor Autoritätspersonen seit der Corona-Pandemie abgenommen habe. Die Polizeien berichten dasselbe. Nur finden Weissmüller und Kessler, die SBB müssten weitere Massnahmen ergreifen. Die Dreifachbesetzung sei einzuhalten und die Transportpolizei «dringend» aufzustocken.

Linus Looser von den SBB sagt: «Wir machen bereits viel.» Er zählt nochmals auf: die Schulungen, ständiges Monitoring, Care-Teams. Seit September arbeite die Transportpolizei überdies mit Bodycams. Und in der Wintersession entscheide das Bundesparlament, ob bald auch Taser eingesetzt werden dürften. Mit den insgesamt 260 Vollzeitstellen könne die Transportpolizei den Bedarf abdecken. Es bestehe aber die Möglichkeit, das Sicherheitspersonal in den Regionalzügen aufzustocken, wenn die Kantone bereit seien, dafür zu bezahlen.

Und wer weiss, vielleicht hilft ja auch die neue Kaktus-Kampagne, damit es bald zu weniger Zwischenfällen und zu mehr «gemeinsamen respektvollen» Fahrten kommt.

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