Montag, November 18

Lilly Ledbetter verdiente während Jahrzehnten weniger als ihre männlichen Kollegen. Sie klagte dagegen bis zum Supreme Court. Nun ist die Aktivistin gestorben.

Ein Fetzen Papier teilt Lilly Ledbetters Leben in ein Davor und ein Danach. Es war im März 1998, und Ledbetter, eine Schichtleiterin im Werk der Goodyear Tire & Rubber Company im amerikanischen Gliedstaat Alabama, war gerade zur Arbeit erschienen, als sie in ihrem Fach eine Notiz fand.

Ein anonymer Verfasser hatte auf ein zerrissenes Stück Papier mit schwarzer Tinte vier Namen gekritzelt: den von Ledbetter und die dreier männlicher Kollegen. Alle vier hatten nahezu identische Aufgaben im Betrieb, doch die Zahlen, die neben den Namen standen, waren ganz und gar nicht gleich. Wo bei Ledbetter 3727 Dollar standen, reichten die Summen bei den Männern von 4286 bis 5236 Dollar.

Lilly Ledbetter erkannte ihre Zahl sofort, es war ihr Monatsgehalt. Und sie begann zu verstehen, was der Verfasser der Notiz ihr mitteilen wollte: dass sie deutlich schlechter verdiente als ihre männlichen Kollegen.

Die Geschichte mit dem Papierfetzen sollte Lilly Ledbetter in späteren Jahren immer wieder erzählen, unter anderem in ihren 2012 erschienenen Memoiren. Sie markiert den Anfang von Ledbetters Kampf für Gleichberechtigung, an dessen Ende ein Gesetz mit ihrem Namen stehen würde.

Lilly Ledbetter sollte zur gefeierten Aktivistin werden. Und doch führte sie den Kampf der anderen. Für die Diskriminierung, die sie selbst erlebt hatte, wurde sie zeit ihres Lebens nicht entschädigt.

Das Oberste Gericht entschied gegen sie

Ledbetter kam 1938 als Lilly McDaniel zur Welt, in einer ländlichen Gegend namens Possum Trot, nicht mehr als ein Pünktchen auf der Karte von Alabama. Nach ihrem Schulabschluss heiratete Lilly Charles Ledbetter, und gemeinsam zogen sie zwei Kinder gross. Doch das Gehalt ihres Mannes reichte kaum aus, um die Familie über Wasser zu halten.

Im Jahr 1979 nahm Ledbetter deshalb eine Stelle bei Goodyear an, einem der grössten Reifenhersteller der USA. Dank ihrer Kompetenz und harten Arbeit wurde sie bald zur Nachtschichtleiterin befördert. Doch ihr Aufstieg blieb nicht ohne Folgen: Einige Kollegen konnten es offenbar nicht ertragen, einer Frau unterstellt zu sein. In ihren Memoiren schildert Ledbetter, wie sie regelmässig verbale Anfeindungen und sexuelle Belästigungen ertragen musste – als einzige Frau in einer Führungsposition.

Damals stand in den Verträgen der Goodyear-Angestellten eine Klausel, die es den Arbeitnehmern untersagte, über ihre Löhne zu sprechen. Und so verbrachte Ledbetter fast zwei Jahrzehnte bei der Firma, ohne je von den Lohnunterschieden zu erfahren. Das änderte sich erst im März 1998, als ihr der anonyme Hinweis zugesteckt wurde – und ihr vor Augen führte, dass sie all die Jahre deutlich weniger verdient hatte.

Ledbetter reichte eine formelle Beschwerde ein, und Goodyear reagierte darauf mit einer Herabstufung ihrer Position. Deshalb zog Ledbetter weiter, vor Gericht, und machte in ihrer Klage Lohndiskriminierung geltend: In den beinahe zwanzig Jahren als Angestellte von Goodyear habe sie 200 000 Dollar weniger verdient als ihre männlichen Kollegen, behauptete sie.

Ledbetter gewann die Klage, und der Richter sprach ihr eine Entschädigung in Höhe von 360 000 Dollar zu. Doch Ledbetter sah davon nicht einen Cent. Goodyear legte Berufung ein, und der Fall wanderte durch die Instanzen, bis er schliesslich beim Supreme Court der USA ankam.

Dieser befasste sich im Jahr 2007 mit dem Fall. Und er kam in einer 5:4-Entscheidung zu dem Schluss, dass Ledbetter keinen Anspruch auf eine finanzielle Entschädigung habe.

Unterstützung von Ruth Bader Ginsburg

Das Gericht begründete seinen Entscheid damit, dass Ledbetter zu lange gebraucht habe, um eine Beschwerde einzureichen. Laut Aussage des Gerichts hätte sie innerhalb von 180 Tagen nach der ersten diskriminierenden Lohnzahlung klagen müssen. Doch wie hätte Ledbetter früher klagen können, wenn sie die Ungerechtigkeit erst fast zwei Jahrzehnte später entdeckte?

Die Entscheidung des Supreme Court machte landesweit Schlagzeilen. Arbeitgebern war es damit faktisch erlaubt, ihre Angestellten aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe oder anderen Gründen schlechter zu bezahlen. Solange diese nichts von der Diskriminierung erfuhren und keine sofortigen rechtlichen Schritte einleiten konnten, waren die Unternehmen nicht haftbar.

Doch ausgerechnet die bekannteste Richterin am Supreme Court, Ruth Bader Ginsburg, stellte sich öffentlich gegen den Entscheid ihres Gremiums. Ginsburg argumentierte, dass «Lohndifferenzen oft in kleinen Schritten auftreten» und erst im Lauf der Zeit klarwerde, dass eine Person diskriminiert werde. Ginsburg forderte den Kongress auf, die Entscheidung des Gerichts rückgängig zu machen – was auch geschah.

Die Lilly Ledbetter Fair Pay Act wurde im Januar 2009 eingeführt, um das Problem der kurzen Verjährungsfrist zu beheben. Das Gesetz legt fest, dass mit jeder diskriminierenden Gehaltszahlung eine neue 180-Tage-Frist beginnt, so dass Betroffene die Möglichkeit haben, Klage einzureichen, wenn sie die Diskriminierung entdecken, und nicht nur, wenn sie erstmals stattfindet.

Präsident Barack Obama unterzeichnete die Lilly Ledbetter Fair Pay Act als eines seiner ersten Gesetze im Amt. Es gilt seither als wichtiger Schritt im Kampf für Lohngerechtigkeit in den USA.

«Eine Bürgerin zweiter Klasse»

Für Lilly Ledbetter kam die Gerechtigkeit zu spät. Sie erhielt nie eine finanzielle Entschädigung. Heute lebe sie von Gehaltscheck zu Gehaltscheck, sagte sie vor einigen Jahren der Presse. Die Lohndiskriminierung habe sich auch auf ihre Altersvorsorge ausgewirkt: «Ich werde für den Rest meines Lebens eine Bürgerin zweiter Klasse sein», sagte Ledbetter.

Gleichzeitig wurde Ledbetters Geschichte zum Synonym für den Kampf um Gleichberechtigung. Ledbetter galt fortan als Aktivistin, schrieb ein Buch und trat unter anderem am demokratischen Parteitag als Rednerin auf. Als sie im Jahr 2011 in die National Women’s Hall of Fame aufgenommen wurde, sagte sie, sie hoffe, ihr Pastor werde bei ihrer Beerdigung einst sagen, dass sie «etwas bewirkt» habe.

Lilly Ledbetter ist am Montag im Alter von 86 Jahren gestorben. Nach ihrem Tod veröffentlichte Barack Obama ein kurzes Statement. Er schrieb: «Lilly Ledbetter hatte nie vor, eine Pionierin oder ein bekannter Name zu werden. Sie wollte einfach nur für ihre harte Arbeit genauso bezahlt werden wie ein Mann.»

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