Donnerstag, September 19

Der Vorstoss der ukrainischen Armee in russisches Grenzgebiet ist eine Peinlichkeit für die russische Regierung, die die eigene Bevölkerung nicht hat schützen können. Putin versucht das Debakel deshalb herunterzuspielen.

Mitte August sind ukrainische Truppen auf russisches Gebiet in der Region Kursk vorgedrungen. Nach jüngsten Angaben kontrolliert die ukrainische Armee über 100 Ortschaften auf einer Fläche von etwa 1300 Quadratkilometern. Zu diesem Vorstoss kursieren im Internet Dutzende von Memes. Eines zeigt ein Bild Wladimir Putins mit Wolodimir Selenski, dazu folgenden Dialog – Putin: Russland hat keine Grenzen; Selenski: Gut, wenn Sie darauf bestehen.

In der Zeit, in der die ukrainische Armee ihre Stellungen befestigte und einen Militärgouverneur einsetzte, besuchte Wladimir Putin Aserbaidschans Hauptstadt Baku, das nordossetische Beslan, führte in Tuwa «Gespräche über wichtige Dinge», reiste in die Mongolei und zum Wirtschaftsforum nach Wladiwostok. Für Belgorod, Kursk und Brjansk hingegen fand der bedeutendste Geostratege seit Stalin keine Zeit.

Rekruten an der Front

Dank Putins Rede am Wirtschaftsforum im Fernen Osten erfuhren dann mehr als 130 000 Bewohner der Region Kursk, die während der ukrainischen Offensive hatten fliehen müssen, dass sie ihre Häuser ruhig und ohne Panik verlassen hätten. Der Garant für Sicherheit in Russland machte dabei auch gleich klar, dass die Befreiung des Donbass das Hauptziel des Krieges bleibe.

Der Vormarsch der ukrainischen Armee auf russisches Territorium hat gezeigt, dass die russische Führung weder über strategische noch über operative Reserven verfügt. Deshalb werden immer mehr Rekruten, die laut Gesetz nicht an Kampfhandlungen teilnehmen dürften, zur Verteidigung der Grenzregionen eingesetzt. Freilich geben sich russische Politiker, Medien und Militärblogger alle Mühe, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es weiter nicht so schlimm sei, wenn nun viele junge Russen nach absolvierter Schulzeit bald in einem Sarg landen.

Laut der unabhängigen russischsprachigen Online-Publikation «Wjorstka» wurde Politikern in ganz Russland geraten, das Thema Rekruten zu umgehen und auch die Rückkehr von Kriegsgefangenen zu ignorieren: «Damit sie nicht denken, dass die Kapitulation ganzer Einheiten die Norm ist.» Das russische Verteidigungsministerium berichtet deshalb auch ausgiebig über die Abwehr feindlicher Angriffe in der Region, nicht aber über eigene Gefallene oder Verwundete.

Putin will helfen

Apti Alaudinow, der Kommandant der tschetschenischen Spezialeinheit Achmat, die die ukrainische Armee nicht am Vorstoss Richtung Kursk hatte hindern können, verbreitete auf seinem Telegram-Kanal gleichwohl täglich Videobotschaften über russische Erfolge in der Region. In der vergangenen Woche behauptete er auch, die «militärische Spezialoperation» in der Ukraine sei bereits von Erfolg gekrönt: «Jetzt müssen wir gemeinsam alles tun, um sicherzustellen, dass wir eine Familie sind, die auch für künftige Herausforderungen gewappnet ist.»

Derselbe Alaudinow dankte neulich dem kürzlich wiedergewählten Gouverneur von Kursk für die Verteidigungsanlagen an der ukrainischen Grenze. «Selbst die Ukrainer, die in unser Gebiet eindrangen und einige dieser Festungen einnahmen, waren schockiert», versicherte er. Doch er unterschlug eine nicht unwesentliche Nuance: Für die geplanten Befestigungsanlagen haben die Behörden in den letzten zwei Kriegsjahren zwar drei Milliarden Rubel ausgegeben, aber der rasche Durchbruch der ukrainischen Armee beweist, dass sie offenbar gar nie errichtet worden sind.

Wladimir Putin verspricht den Russen nun regelmässig, dass die Sicherheit der Bürger und die Stärkung von Recht und Ordnung zu den wichtigsten Aufgaben seiner Politik gehörten. In einer Schule in Kysyl, Republik Tuwa, liess er vor wenigen Wochen verlauten, dass er ständig an die Schülerinnen und Schüler in der Grenzregion denke, die nun teilweise zum Lernen über das Internet gezwungen seien. Das Militär werde alles tun, damit sie bald wieder ein normales Leben führen könnten.

Die Eltern kommentierten dieses Statement entnervt in den sozialen Netzwerken: «Vielen Dank, ihr habt unser Leben bereits verbessert, wir warten darauf, dass es sich für euch ebenso verbessert.»

Kein Platz für Flüchtlinge

Die Bewohner der Region Kursk und ihre Leidensgenossen in der Region Belgorod sind gezwungen, sich aus eigener Kraft in Sicherheit zu bringen. Der Staat ist nicht nur unfähig, die Bevölkerung aus den Gefahrenzonen zu evakuieren, er ist auch nicht willens, sich um die Geflohenen zu kümmern. Die Hilfe für Flüchtlinge wird allein von Freiwilligen und von Hilfswerken organisiert.

Durch den Zustrom Vertriebener haben sich in Kursk gemäss lokalen Blogs die Preise für Mietwohnungen in den letzten zwei Wochen verdoppelt. Es gibt auch nicht genügend Notunterkünfte. Und nicht alle Russen sind bereit, Mitbürger bei sich aufzunehmen. Es gibt immer wieder Klagen über die Beamten – sie leisteten zu wenig humanitäre Hilfe. Der Staat stellt höchstens 10 000 Rubel (100 Euro) pro vertriebene Person zur Verfügung. Die Einwohner von Kursk, darunter Veteranen des Zweiten Weltkriegs und Invalide, haben unterdessen Videobotschaften an Putin geschickt, in denen sie sich über den Mangel an Wasser, Medikamenten, Licht und Gas beklagen.

Auf die Beschwerden reagierten die Behörden umgehend, indem sie die patriotischen Barden Shaman und Grigori Leps nach Kursk beorderten, damit diese Hits wie «Ich bin glücklich wie kein andrer», «Ich bin Russe» und «Der beste Tag» zum Besten gaben. Die übliche Gage für ein Shaman-Konzert beträgt übrigens 16 Millionen Rubel, was also der staatlichen Hilfe für 1600 Personen entspricht.

Die Kursker Behörden wollen auch dafür sorgen, dass neu errichtete Unterstände mit patriotischen Graffiti bemalt werden. Zu den vorgeschlagenen Motiven gehören die Aufschriften «Kursk 2024» und «Wir sind zusammen» sowie Muster von Sudscha-Teppichen und das Bild von Georg dem Siegreichen. Ein sicherer Korridor für die belagerten Bewohner von Sudscha wurde dagegen nicht vorgeschlagen.

In einem offenen Brief fordern die Bewohner des von der ukrainischen Armee besetzten Sudschanski Rajon Selenski und Putin auf, Verhandlungen über die Evakuierung aufzunehmen. Momentan halten sich dort mindestens 1000 Zivilisten auf. Aber die russischen Behörden sind zu keinen Verhandlungen bereit.

Geschichten über den Feind

Die Propagandamaschinerie erfindet neue Euphemismen, um «die Ereignisse in Kursk» und «die gegenwärtige schwierige Situation» zu umschreiben. Man spricht von einer «territorialen Unsicherheit», die aber die jüngsten Regionalwahlen nicht beeinträchtigt habe. Gott sei Dank gingen sie gut aus, die Kandidaten der Kreml-Partei Einiges Russland gewannen – wenn nicht überraschend, so doch überragend. Die Wahlbeteiligung in dieser Region soll eine der höchsten im ganzen Land gewesen sein.

Die Propaganda berichtet unablässig und in Variationen über Greueltaten der ukrainischen Armee. So sollen nach russischen Medienberichten ukrainische Soldaten drei Jungen, fünf Mädchen, zehn Rentner sowie mehrere schwangere Frauen erschossen haben, als diese versucht hätten, auf einem Motorrad, im Bus, im Auto, per Motorboot oder sonst wie zu fliehen.

In der Abendausgabe des TV-Senders «Westi» wird berichtet, wie die Zivilbevölkerung in der Region Kursk unter der ukrainischen Invasion leidet. Der eindringlichste Teil der Geschichte ist eine Schilderung des Bezirkspolitikers Wladimir Kuzew: «Einem 86-jährigen Mann wurde von ukrainischen Soldaten in den Rücken geschossen. Einer alten Frau wurde in den Rücken geschossen. Und da war ein 12-jähriges Mädchen, das einfach verbrannt wurde.»

Der russische Nachrichtendienst Nowosti brachte ein Interview mit einer Vertriebenen aus der Region Kursk. Sie schilderte nicht nur, wie Söldner in einem Dorf eine französische Flagge gehisst hätten, sondern auch, wie Ukrainer alten Menschen die Köpfe abgeschnitten hätten. Immer wieder gibt es auch Berichte über die illegale Verschleppung russischer Kinder – offenbar zum Zweck der Organentnahme.

Russische Helden

Natürlich wird auch über Heldentaten berichtet. So verbreiteten die russischen Medien unlängst eine Meldung des Verteidigungsministeriums über den Kampf um eine Frauenstrafkolonie im Dorf Malaja Loknja. Hier soll das russische Militär feindliche Versuche, in die Siedlung einzudringen, abgewehrt und zehn Schützenpanzer, gepanzerte Mannschaftstransporter sowie hundert «Kämpfer» zerstört haben.

Der Militärblogger Juri Podoljaka sieht das Hauptverdienst der russischen Armee in Malaja Loknja darin, die ukrainische Armee daran gehindert zu haben, sich dem Atomkraftwerk Kursk zu nähern. Tatsächlich sind es vom erwähnten Dorf bis zum Kraftwerk nur 45 Kilometer Luftlinie.

Auch der «Militärkorrespondent» Alexander Koz veröffentlichte einen Bericht über die Ereignisse in Malaja Loknja unter dem Titel: «Wiederholung der Heldentat von Brest». Darin heisst es, die ukrainischen Militärs hätten «wie 1941» gerufen: «Russische Soldaten, ergebt euch!» Dass die russischen Einheiten nicht lange standhielten und ihr neues «Brest» schnell wieder verliessen, erwähnte Koz nicht.

Trotz Hinweisen im Fernsehen, wonach es sich bei den heutigen Kämpfen um Kursk und den Gefechten um Kursk im Zweiten Weltkrieg um verwandte Ereignisse handle, erinnern die aktuellen Ereignisse die Russen eher an das U-Boot gleichen Namens, das im August 2000 Schiffbruch erlitt. Die Teilnahmslosigkeit des kurz zuvor gewählten Präsidenten, der auch damals schon Putin hiess, hätte allen eine Warnung sein müssen.

Die Menschen mit der strapazierfähigen russischen Seele aber versuchen, sich mit den heutigen Umständen zu arrangieren. Krieg? Gut, dann werden Fenster halt mit Panzerfolie abgeklebt, Kindergärten und Schulen mit Sandsäcken abgedeckt. Und bei Luftangriffen sucht man Schutz in patriotisch beschrifteten Unterständen.

Mit Ikonen gegen Ukrainer

Es gibt hingegen keine nationale Konsolidierung, keine Einheit, von der Putin gerne spricht. Russland ist kein geeintes Land, das sich gemeinsam erhebt, um seine Grenzen zu verteidigen. «Z»-Propagandisten beschweren sich denn auch über ihre Landsleute: Sie hätten keine Initiative gezeigt, sie hätten sich nicht gewehrt gegen die Soldaten und sich nicht als menschliche Schutzschilde zur Verfügung gestellt. Diejenigen, die über die tatsächliche Lage in den Regionen Belgorod und Kursk sprechen, werden des Verrats beschuldigt und mit Repressalien bedroht.

Vielleicht sollte sich Kursk ein Beispiel an Brjansk nehmen. Dort fand ein Kreuzzug gegen die «feindliche Invasion der ukrainischen Armee» statt. Die Priester zogen mit einer Marienikone aus dem 11. Jahrhundert durch die Strassen. Nach Angaben der örtlichen Diözese zogen sich die napoleonischen Truppen unmittelbar nach einer solchen Prozession aus Brjansk zurück. Womöglich haben die Priester vergessen, dass ihr Ritual seine Kraft erst dann entfaltet, wenn zuvor Moskau gebrannt hat.

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