Sonntag, November 24

Wie die modernistischen Ideen in den südlichen Gefilden mit einer kosmopolitischen Offenheit verschmelzen, zeigen sowohl die Stadt Brasilia als auch die brasilianischen Privathäuser, die Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind.

Die Bewegung des internationalen Stils, der vor allem ein westlich-europäischer Modernismus war, wird bisweilen dafür kritisiert, in seiner Funktionstreue zu industriell, zu kalt zu sein. Doch es gab Gegenentwürfe dazu, die sich seit den späten 1920er Jahren ausserhalb der westlichen Hemisphäre in Südamerika, Asien, Afrika und Brasilien entwickelten. Mitte des 20. Jahrhunderts erreichten diese ihren Höhepunkt.

Eindrücklich zeigt sich das etwa an der brasilianischen Hauptstadt Brasilia, die in den fünfziger Jahren von Lúcio Costa geplant und grösstenteils vom brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer gebaut wurde. Wie die modernen Ideen in den südlichen Gefilden mit einer kosmopolitischen Offenheit verschmelzen, macht sich ausserdem anhand der modernistischen, brasilianischen Privathäuser bemerkbar, die in jenen Jahren entstanden sind und – wenn auch oft übersehen – ebenso zu den modernistischen Meisterwerken gehören.

Casas Modernistas, São Paulo

Die beiden 1928 (Rua Santa Cruz) und 1930 (Rua Itápolis) von Gregori Warchavchik entworfenen Casas Modernas dürften als erste modernistische Häuser des Landes gelten. In Odessa geboren und in Rom ausgebildet, verfasste der Architekt 1923 kurz nach seiner Ankunft das erste Manifest über modernistische Architektur in Brasilien und läutete damit eine neue Ära ein. Sein eigenes Haus in der Rua Santa Cruz war der Prototyp: inspiriert von Le Corbusiers Prinzipien von Rationalität, Komfort, Zweckmässigkeit, guter Belüftung und Beleuchtung, widersetzte sich der reduzierte, kubistische Bau den damaligen Vorgaben des Kolonialbaustils.

Gleichzeitig liess er sich von der Umgebung inspirieren: Weil er nicht kopieren wollte, was in Europa gemacht wurde, liess er sich «vom Charme der brasilianischen Landschaften inspirieren und versuchte, einen architektonischen Charakter zu schaffen, der sich an diese Region, das Klima und auch die alten Traditionen dieses Landes anpasst», so Warchavchik selbst über seine Arbeit. Er sah sein Werk als «brasilianisches Haus», das den tropischen Charakter in sich aufnahm und mit lokal verfügbaren Materialien und Handwerk arbeitete. Als er zwei Jahre später die Residenz in der Rua Itápolis mit einer Ausstellung einweihte, fanden sich bereits 20 000 Besucher ein, um die neue Architektur zu bestaunen. Heute sind beide Häuser Teil der Stadtmuseen.

Residências Vilanova Artigas, São Paulo

Wie sich der Stil von João Batista Vilanova Artigas entwickelt hat, lässt sich gut an den beiden Häusern in São Paulo erkennen, die er für seine Familie gebaut hat. Der erste Bau, eine Casinha von 1942, wurde als Wochenendhaus mit Studios für seine Frau, die Künstlerin Virgínia Artigas, gebaut. An den linearen Achsen und der offenen Wohnküche erkennt man den Einfluss Frank Lloyd Wrights.

1949 baute Artigas auf demselben Areal die Hauptresidenz, die in ihrem Rationalismus stark an Le Corbusier erinnert. Der langgestreckte Bau mit schrägen Flachdächern wirkt leichter als sein Vorgänger. Die Gemeinschaftsräume mit ihren Glasfronten schaffen Transparenz und gehen ineinander über, während die Schlafzimmer, getrennt von Küche und Bädern, auf der anderen Seite viel intimer sind.

Wie Le Corbusier setzte er in der Gestaltung Primärfarben ein; Gelb-, Rot- und Blautöne dominieren Säulen, Wände und Schrankfronten im ganzen Haus. In diesen Räumen war es, in denen Artigas die linke Intelligenzia der Stadt versammelte und auch teilweise verbotene Treffen kommunistischer Aktivisten abhielt, mit denen einige Architekten Brasiliens sympathisierten, Oscar Niemeyer etwa war Mitglied der kommunistischen Partei.

Casa de Vidro, São Paulo

Als Lina Bo Bardi das Land in São Paulo 1950 erwarb, war der ursprüngliche Wald längst einer Teeplantage gewichen. In gewisser Weise hat sie mit dem Bau ihres Hauses die Vegetation der Mata Atlântica, die sich einst hier erstreckte, wieder zurückgebracht. Ihr Glaspavillon schwebt anmutig auf Pilotis zwischen den üppigen, tropischen Bäumen; nahtlos gehen die Grenzen zwischen Beton, Glas und Natur hier ineinander über.

Die gebürtige Römerin hat nach ihrem Studium zunächst mit Gio Ponti gearbeitet. Nachdem ihr eigenes Studio während des Zweiten Weltkriegs ausgebombt wurde, wagte sie 1946 in Brasilien einen Neuanfang. Die Casa de Vidro war ihr erstes eigenes Haus, das sie zu einem «Ort, an dem Kulturen zusammenleben», erklärte. So fanden sich in den 40 Jahren, in denen sie hier mit ihrem Mann lebte, die intellektuelle Szene des Landes ebenso wie internationale Grössen wie Ponti oder Alexander Calder zu allerlei kulturellen Salons bei den Bardis ein.

Die Spuren ihres intellektuellen Lebens sieht man noch heute: In dem weitläufigen Salon, der nahtlos in die Arbeitsbereiche übergeht, stehen neben Antiquitäten eine Chaise Longue von Le Corbusier, Charles und Ray Eames Lounge Chair sowie Bo Bardis Entwürfe, die sie vor allem für sich selbst fertigte. Dazu sieht man aber auch brasilianisches Kunsthandwerk und zeitgenössische Kunst wie in einem offenen Atelier und Ausstellungsraum.

Casa das Canoas, Barra da Tijuca, Rio de Janeiro

Noch bevor Oscar Niemeyer seine Arbeit an Brasilia begann, hat er 1953 ein kleines Meisterwerk in den Hügeln von Rio de Janeiro geschaffen. Als Walter Gropius zu Besuch war, befand er sich auf dem Höhepunkt seines deutschen Rationalismus und bemerkte, das Haus sei zwar schön, aber nicht reproduzierbar. «Gropius hat nichts verstanden», schrieb Niemeyer dazu später entrüstet in sein Tagebuch. Schliesslich war die Casa das Canoas speziell für die Umgebung geschaffen, ihre organischen Silhouetten und der geschwungene Pool fügten sich in die hügelige Landschaft des Waldes von Tijuca ein und verschmolzen symbiotisch mit der Natur.

Auch in der Ausgestaltung durchbrach die Casa mit natürlichen Steinen und Skulpturen die Grenzen zwischen Innen und Aussen. Im Inneren schaffen Holzelemente, gestaltet von Niemeyer und seiner Tochter Ana Maria, und wenige Möbel mit Wiener Geflecht eine warme Atmosphäre. Vielleicht aber war das Haus etwas zu sehr mit der Natur verbunden, warf doch ein Landrutsch sechs Jahre nach Vollendung einen Stein ins Wohnzimmer.

Niemeyer weilte da bereits seit drei Jahren überwiegend in Brasilia, um die Planstadt umzusetzen, und so zog die Familie nach Ipanema. Fast zwanzig Jahre lang war das Haus der Öffentlichkeit zugänglich, ist mittlerweile aber wegen Uneinigkeiten über die Renovierung nur unter Voranmeldung für Fachbesucher zu sehen.

Casa Butantã, São Paulo

Paulo Mendes da Rochas erster grosser Entwurf für den Paulistano-Klub machte ihn zu einem der bekanntesten Vertreter des Paulista-Brutalismus, der neben Niemeyer der zweite brasilianische Architekt war, der mit dem renommierten Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde. In dem Ensemble aus zwei Häusern, das er 1964 für sich und seine Schwester in Butantã entworfen hat, zeigen sich viele Techniken, die seinen Baustil ausmachen.

Er baute ressourcenschonend, und so wirken die beiden geradlinigen Bauten aus rauem Stahlbeton wie minimalistische Skulpturen inmitten grüner Gärten. Es ist das Grün der Tropen und der Moose, die den Beton überziehen und den brasilianischen Brutalismus weicher erscheinen lassen als sein europäisches Pendant. Und bei Mendes de Rocha sind es auch uralte «Technologien» – Fenster, die Luft durch das gesamte Innere strömen lassen, und dicke Aussenwände, die seine Gebäude dem Klima trotzen lassen.

Schliesslich wurden die Häuser als Familienheime gebaut und bieten trotz ihrer rauen Ästhetik über zwei Ebenen reichlich Platz für Kinder und deren Erkundungen. Wie in einem futuristischen Raumschiff wirken die Gemeinschaftsbereiche, dazu gehören die grosszügigen Verandas, während die Schlafzimmer, die Mendes da Rocha mit Klosterzimmern verglich, in den Kern des Hauses gebaut sind. «Unsere Freunde haben es in all ihren Eigenheiten und phantastischen Lösungen geliebt», sagte Mendes da Rocha über die Häuser, in denen seine Nachkommen noch heute leben.

Tomie Ohtakes Haus, São Paulo

Eigentlich wollte die in Tokio geborene Tomie Ohtake nur ihren Bruder in Brasilien besuchen. Doch als der Zweite Weltkrieg Japan mit voller Wucht erreichte, blieb sie in São Paulo. Sie etablierte sich dort als eine der bekanntesten Künstlerinnen des Landes. Ihr Werk und ihr Leben wurden in diesem Sommer durch das Ausstellungsformat Aberto in ihrem eigenen Haus und Studio zugänglich.

Es war ihr Sohn, Architekt Ruy Ohtake, der das grosszügige Anwesen mit Pool nach zweijähriger Bauzeit 1970 für sie fertigstellte und in den neunziger Jahren auf dem Nachbargrundstück auf insgesamt 750 Quadratmeter erweiterte.

Gebaut in der Tradition des brasilianischen Beton-Brutalismus, wurden die geometrischen Formen von geschwungenen Silhouetten und Le Corbusiers Farbkonzept aus kräftigem Rot, Blau und Gelb aufgebrochen. Zwischen den Einbauten aus Holz und Beton dominiert üppiges Grün, dazwischen stehen Design-Klassiker von George Nelson, Le Corbusier und Sergio Rodrigues – und natürlich die raumgreifenden Werke von Tomie Ohtake, die noch bis zu ihrem Tod im Alter von 101 Jahren 2015 im Studio stand.

Chu Ming Silveiras Haus, São Paulo, 1971

Während viele brasilianische Modernisten mit kommunistischen Ideen sympathisierten, floh die Familie der in Schanghai geborenen Chu Ming Silveira 1949 genau davor nach Brasilien. Dort wurde sie eine bekannte Designerin und Architektin; ihre ikonischen Telefonzellen, Orelhão genannt, sind bis heute im ganzen Land zu sehen und wurden weltweit kopiert. Noch eindrucksvoller als diese öffentlichen Skulpturen ist aber ihr Haus, das sie 1971 selbst entworfen hat und das in diesem Jahr ebenfalls im Rahmen der Ausstellung Aberto erstmals für die Öffentlichkeit zugänglich war.

Trotz dem Sichtbeton fühlt sich der wie ein U-förmiges Raumschiff anmutende Pavillon mit dem zentralen Kamin beinahe intim an, die Räume wirken dezent und grosszügig zugleich. Die Mid-Century-Klassiker in klassischen Tönen, mit denen sich Silveira eingerichtet hat, harmonieren mit dem warmen Grau der Wände und dem sanft einfallenden Sonnenlicht. Die zurückgenommene, moderne Eleganz zeigt sich auch im Garten mit dem runden Pool – und natürlich einem Orelhão, der Telefonzelle.

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