Sonntag, Oktober 6

Das neunte Teilstück umfasste gleich 14 Abschnitte mit Kiesstrassen. Die Radprofis kamen stark gezeichnet ins Ziel; das Spektakel lieben bei weitem nicht alle.

Dicke Staubschichten auf Gesicht und Oberkörper, teilweise mit getrocknetem Blut vermischt – so überquerten die Radprofis der Tour de France am Sonntag den Zielstrich in der Champagnerstadt Troyes. Sie wirkten gezeichnet wie Soldaten nach einer Feldschlacht. Beim Russen Alexander Wlassow musste auch gleich der Feldarzt ran. Das Trikot war zerfetzt, auf Textil und Oberkörper waren Blutspuren zu sehen.

Sorgfältig überprüfte der Mediziner Kopf und Oberkörper, fragte bei jeder Bewegung, wo es schmerze. Wlassow war ein Sturzopfer der Etappe, die teilweise auf Schotterstrassen gefahren wurde. Der Russe konnte das Rennen aber beenden. Und zum Glück wurden auch die Befürchtungen nicht bestätigt, dass einer der Favoriten auf diesem Teilstück durch Sturz oder Defekt Minuten verliert. «Ich brauche solche Etappen bei einer grossen Rundfahrt nicht», sagte Mauro Gianetti, der Schweizer Teammanager von UAE. «Es ist gut, dass alle auf null hereingekommen sind. Es war schön für die Zuschauer, und wir sind froh, dass der Tag vorbei ist», bilanzierte der Tessiner.

Gedämpfte Stimmung am Start

Der Tag hatte in sehr gedämpfter Stimmung begonnen. Auf dem Marktplatz von Troyes standen die Fahrer der norwegischen Equipe Uno-X in der ersten Reihe der Startaufstellung. Sie gedachten dort ihres Landsmanns André Drege, der am Vortag an der Österreich-Rundfahrt tödlich verunglückt war. Manchem Fahrer mochten dabei Gedanken an die Gefahren des Berufs durch den Kopf geschossen sein. «Wir haben einen coolen Job, aber er ist auch oft gefährlich. In der Radsport-Welt müssen wir wirklich aufeinander aufpassen», mahnte der Mann im Leadertrikot, Tadej Pogacar.

An extra eingebauten Gefahrenstellen mangelte es aber ausgerechnet an diesem neunten Tourtag nicht. Gleich 14 Schotterabschnitte gab es auf der Etappe von Troyes nach Troyes. Der Streckenplaner Thierry Gouvenou hatte sich davon einen «epischen Tag» versprochen. Und es wurden dann auch ganz besondere Bilder geliefert. Gleich beim ersten Schotterabschnitt verschwanden die Fahrer in einer Staubwolke. Beim zweiten Abschnitt, der auch noch steil war, mussten zahlreiche Fahrer vom Rad. Die Tour de France werde zum Radquer-Rennen, spotteten Fans auf X und posteten die Bilder.

Hier erwischte es als Ersten der Favoriten Primoz Roglic. Er verlor beim Schiebechaos den Anschluss. «Das war ein Rückschlag, ganz klar. Wir waren auch nicht da, wo wir sein wollten. Aber das ganze Team hat gut reagiert», blickte Roglics Sportdirektor Rolf Aldag auf die Situation zurück. Auch er ist, ähnlich wie Gianetti, kein Freund von Schotterstrecken bei grossen Rundfahrten.

Grosser Aufwand der Teams

Er beklagte vor allem den Aufwand, den die Teams machen mussten, um das Risiko von Defekten gering zu halten. «Die Mechaniker haben heute Morgen 115 Reifen neu aufgeklebt. Heute Abend müssen sie sie wieder runternehmen», erzählte er. Die meisten Teams verwendeten 30-Millimeter-Reifen statt der üblich gewordenen 28 Millimeter breiten Pneus, um Vibrationen abzufedern und den Rollwiderstand zu verringern. Zum erhöhten Aufwand gehörte auch, dass an jedem der insgesamt 14 Schotterabschnitte Ersatzräder bereitgehalten wurden.

Vergleichbar mit den Schotterabschnitten ist der Pflastersteinbelag, beides sind schwierig zu befahrende Unterlagen. Seit der Wiedereinführung von Pavé-Sektoren in der Tour die France im Jahr 2004 fielen dort immer wieder Favoriten aus. 2004 erwischte es den Spanier Iban Mayo. Er stürzte im Positionskampf vor dem ersten Abschnitt, verlor knapp vier Minuten und war damit aus dem Rennen um einen Podiumsplatz. 2010 stürzte der Luxemburger Fränk Schleck und brach sich das Schlüsselbein. 2015 musste Frankreichs Liebling Thibaut Pinot wegen zweier Defekte auf dem Pflaster seine Träume auf einen Podiumsplatz begraben, 2018 erwischte es mit Richie Porte, Rigoberto Uran und Romain Bardet gleich ein Trio. 2022 stürzte Roglic.

Nur 2014 brachte das Kopfsteinpflaster einen Profiteur hervor: Vincenzo Nibali legte mit einem starken Auftritt und mehr als zwei Minuten Vorsprung auf die direkte Konkurrenz im Wald von Arenberg den Grundstein für seinen Gesamtsieg.

Der Gesamtleader Pogacar attackiert immer wieder

Davon inspiriert schien in diesem Jahr Tadej Pogacar. Unzählige Male attackierte der Slowene. Als Sieger des Schotterstrassen-Rennens Strade Bianche in Siena hatte er eine Art Heimvorteil auf diesem Parcours. Aber wie ein Schatten folgte ihm Jonas Vingegaard, immer wieder wurde dieser auch von seinen Teamkollegen wieder herangefahren. «Sie haben das als Equipe gut gespielt», zollte Pogacar dem Vorjahressieger Respekt. Er beklagte aber, dass dessen Team Visma die ideale Situation einer Dreiergruppe aus ihm, Vingegaard und dessen Helfer Matteo Jorgenson nicht genutzt habe, um andere Konkurrenten zu distanzieren. «Ich glaube, sie unterschätzen Remco Evenepoel und Primoz Roglic», sagte Pogacar. So kam es, dass Pogacar weniger Spektakel bieten konnte als erhofft. Im Gesamtklassement führt er weiter mit 33 Sekunden vor Evenepoel, 1:15 Minuten vor Vingegaard und 1:36 vor Roglic.

Bei aller Kritik darf man davon ausgehen, dass es auch in den nächsten Jahren Schotter-Abschnitte an den grossen Rundfahrten geben wird. Das ist allein schon im Interesse der Ausrüster. So ziemlich jede namhafte Velomarke mischt im Gravelgeschäft mit und will der zahlungskräftigen Kundschaft neben Rennrad und Mountainbike noch ein Spezialrad für Schotterstrassen anbieten. Nach dem E-Bike-Boom zu Corona-Zeiten ist Gravel das Hype-Segment der Stunde.

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