Freitag, Oktober 18

ABB ist saniert, jetzt will der neue Chef Morten Wierod stärker wachsen. Die Voraussetzungen sind gut – aber das bedeutet: Wenn es jetzt nicht klappt, wann dann?

Seit Anfang August führt Morten Wierod die ABB, den grössten Schweizer Industriekonzern. Der Norweger bringt vieles mit, was man als CEO braucht. Doch auf eine Sache muss er verzichten, die eigentlich jeder gern hätte: Er hat keine Ausreden, wenn es schlecht läuft. Erstens ist der 1972 geborene Wierod seit über 25 Jahren bei ABB und kennt damit jede Ecke des Unternehmens. Eine Schonzeit zur Einarbeitung gibt es für ihn nicht.

Zweitens ist ABB genau am richtigen Ort, um von einem der grössten Wachstumstrends der Industrie in den vergangenen Jahrzehnten zu profitieren: der Elektrifizierung und Dekarbonisierung der Wirtschaftswelt. Fossile Brennstoffe werden durch Strom ersetzt und bestehende Stromsysteme modernisiert und effizienter gemacht, denn Strom ist teuer. Wierod nennt es «electrification of everything». Im Umkehrschluss heisst das: Wenn ABB jetzt nicht durch die Decke geht – wann dann?

Der Megatrend Elektrifizierung überstrahlt alles

Gut positioniert ist ABB zum Beispiel für den Boom beim Bau von stromhungrigen Datenzentren. Die Rechenzentren werden immer leistungsfähiger, und Kalkulationen für künstliche Intelligenz verschlingen zehnmal so viel Energie wie normale Server und Speicher. Seit 2019 verzeichnet ABB durchschnittlich 24 Prozent mehr Aufträge pro Jahr für die Ausrüstung von Datenzentren – angefangen bei Schaltanlagen über Kontrollsysteme bis zu Batterien.

Die Elektrifizierung, neben der Automatisierung der Kern des Konzerns, hat Morten Wierod bereits den ersten Auftritt vor Finanzanalysten versüsst. Der Geschäftsbereich erreichte im dritten Quartal Rekordwerte bei Umsatz und Betriebsmarge, wie ABB am Donnerstag meldete.

Das half über die Schwäche im Bereich Robotik und Fertigungsautomation hinweg – denn wenn es nicht um Stromausrüstung geht, sondern um die Ausstattung von Produktionswerken mit neuen Maschinen, ist die Geschäftslage deutlich schwieriger.

Dieser Schönheitsfehler in Wierods Antrittszeugnis hat mit der Vorsicht vieler Firmenkunden aufgrund der unsicheren Konjunktur zu tun, besonders in Europa. Und damit, dass die Lager für solche Ausrüstung noch gut gefüllt sind und deshalb keine neuen Aufträge bei ABB platziert werden.

Eben weil sich die Fertigungsautomation so schwertut, erwartet der Konzern nun etwas weniger Umsatzwachstum im laufenden Jahr. Insgesamt hielt ABB den Umsatz von Januar bis September mit 24,3 Milliarden Dollar etwa konstant zum Vorjahreszeitraum. Fast die Hälfte stammt von der Elektrifizierung.

Mehr ist mehr, lautet das neue Motto

Doch Wierods Aufgabe ist es, langfristig zu denken. Dafür muss er dem schweizerisch-schwedischen Konzern keine neuen Ziele verordnen: Zunächst gilt es, die Ziele von Wierods Vorgänger Björn Rosengren zu erfüllen. Denn während sich ABB bei der Profitabilität inzwischen gut schlägt, was sich auch im Aktienkurs zeigt, gibt es beim Wachstum noch Potenzial.

Rosengren hatte als Ziel gesetzt, dass der Konzern über einen Konjunkturzyklus hinweg den Umsatz auf vergleichbarer Basis jährlich um 5 bis 7 Prozent steigert und durch Übernahmen weitere 1 bis 2 Prozent generiert. Das Übernahmeziel wurde nicht erreicht. Stattdessen war Rosengren damit beschäftigt, die träge und richtungslos gewordene ABB zu verschlanken, zu sanieren und effizienter zu machen.

Unter dem Vorvorgänger Ulrich Spiesshofer war bereits das Hochspannungsgeschäft an den japanischen Konkurrenten Hitachi verkauft worden, wodurch ABB viel an Masse verlor. Rosengren trennte sich von weiteren Einheiten, etwa vom Turbolader-Hersteller Accelleron. Der ist margenstark, passte aber mit seiner Ausrichtung auf Verbrennungsmotoren nicht zum Profil der Elektrifizierung und Automatisierung.

Der schwedische Industrieveteran Rosengren trat kurz vor dem Erreichen des Pensionierungsalters ab. Wierod, der zuletzt für zwei Jahre die wichtige Elektrifizierung geleitet hatte, hält an vielen Errungenschaften Rosengrens fest – unter anderem an der dezentralisierten Organisation, bei der die Geschäftsbereiche grosse Freiheiten geniessen. Doch Wierod sagt auch: «Aus meiner Sicht kann ABB noch besser werden.» Fusionen und Übernahmen müssten vollständig in die Leistungskultur integriert werden.

Legt die ABB unter Wierod nun so schnell wieder an Gewicht zu, wie sie unter Rosengrens Fitnesskur verloren hat? Wahrscheinlich nicht, denn der neue CEO hat vor allem kleine und mittelgrosse Zukäufe im Blick. Die ABB-Geschäftseinheiten sollen sich selbst nach Übernahmezielen umschauen – Zielen, die entweder technologisch Mehrwert bieten oder eine neue Region erschliessen. Als solch ein Hoffnungsmarkt für Übernahmen gilt zum Beispiel Indien. Der Subkontinent könnte in einigen Jahren nach den USA und China ABBs drittgrösster Markt sein, wie Wierod erwartet.

Im laufenden Jahr dürfte ABB bereits mehr als 1 Prozent Umsatzwachstum mit Zukäufen erzielen. Seit Januar wurden Akquisitionen im Wert von rund 330 Millionen Dollar aufgegleist – ein Vielfaches mehr als in den Jahren zuvor.

Beispielsweise kaufte der Konzern in China von Siemens ein Unternehmen für Gebäudeelektronik, das Smart-Home-Systeme und Haussteuerung entwickelt. Der chinesische Markt ist schlicht so gross, dass er auch bei der derzeitigen Konjunkturschwäche als unerlässlich gilt.

Manche Hausaufgaben sind geblieben

Bei allem Fokus auf Übernahmeziele hat Wierod auch interne Baustellen zu bearbeiten: Die E-Mobility, das Geschäft mit Ladesäulen für Elektrofahrzeuge, steckt weiterhin in einer Sanierung. Das unübersichtliche Produktportfolio bereitete Probleme; allein seit Jahresbeginn wurde ein Betriebsverlust von 201 Millionen Dollar angehäuft.

Auch bei der Fertigungsautomation gibt es laut Wierod noch mehr zu tun, um zurück in die Spur zu kommen. Am Sitz des Geschäftsbereichs im österreichischen Eggelsberg läuft ein Sparprogramm. Aber davon abgesehen hat der Norweger ein gut renoviertes Haus übernommen – und die schwierige Aufgabe, ohne Geschmacksverirrung anzubauen.

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