Freitag, Oktober 4

Die Staatsfinanzen der Schweiz sind in bester Verfassung. Das ist nicht zuletzt der Schuldenbremse zu verdanken. Doch in seiner Auslegung ist das 2003 eingeführte Instrument zu rigide, eine zentrale Frage wurde nie beantwortet: Welche Schuldenquote ist für das Land akzeptabel?

Die Schweiz versucht zu sparen. Die Expertengruppe um Serge Gaillard, dem früheren Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, hat im Auftrag der Regierung ein Sparpaket im Umfang von über 4 Mrd. Fr. erarbeitet. Jetzt übernimmt die politische Realität der Partikularinteressen – und es wird abzuwarten sein, was am Ende von den Vorschlägen übrig bleibt.

Die Diskussion über Sparpotenzial im Bundeshaushalt ist wichtig. Ausgaben tendieren dazu, zu wuchern. Das gilt für jede Organisation, und es gilt besonders für den Staat, der das Privileg hat, das Geld anderer Leute auszugeben. Es ist deshalb sinnvoll, periodisch alle Ausgaben schonungslos zu überprüfen. In den kommenden Jahren werden unter anderem Investitionen in die Armee und den Ausbau der Altersvorsorge die Staatsfinanzen strapazieren; die Relevanz des Themas bleibt also hoch.

Ein Argument, das in der gegenwärtigen Diskussion um die Staatsfinanzen der Schweiz oft geäussert wird: Eine Deckung möglicher Finanzierungslücken über die Aufnahme neuer Schulden ist ausgeschlossen. Die Schuldenbremse muss eingehalten werden. Doch damit offenbart sich, nicht zum ersten Mal in der 21-jährigen Geschichte seit Einführung der Schuldenbremse, ein konzeptionelles Defizit in der Ausgestaltung dieses Instruments.

Es geht um eine Frage, die bislang nie beantwortet wurde: Wo liegt die für die Schweiz akzeptable, «optimale» Schuldenquote?

Diese unbeantwortete Frage bildet eine klaffende Lücke in der Konzeption der Schuldenbremse. Sie sollte beantwortet werden, im Interesse der Schweiz, ihrer Steuerzahler und nicht zuletzt im Interesse des Fortbestandes einer vernünftig ausgestalteten Schuldenbremse. Denn eine zu dogmatische Auslegung des Instruments schadet der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und verursacht höhere Belastungen für die Steuerzahler.

Steigende Wirtschaftsleistung, sinkende Schulden

Zunächst die gute Nachricht: Die Staatsfinanzen der Schweiz sind kerngesund. Gemäss der Definition des Finanzdepartements beläuft sich die Verschuldung auf Bundesebene per Ende 2023 auf 17,8% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Nach den Maastricht-Kriterien der Europäischen Union beläuft sich die Verschuldungsquote auf 26,9%; auch das ist ein problemloser Wert.

Zwischen 2003, dem Jahr der Einführung der Schuldenbremse, und 2019, vor Ausbruch der Covid-Pandemie, wurden die Bundesschulden in absoluten Zahlen gerechnet um gut 27 Mrd. Fr. auf weniger als 100 Mrd. Fr. verringert. Weil die jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz im gleichen Zeitraum 47% gestiegen ist, sank die Schuldenquote von knapp 25 auf gegen 15% des BIP. Der leichte Anstieg nach 2020 liegt an den Ausgaben im Zusammenhang mit der Pandemie.

Auf den ersten Blick betrachtet kann das als Erfolg der Schuldenbremse gewertet werden. Die Verschuldung der Schweiz wurde abgebaut. Allerdings relativiert sich der Befund beim Blick auf die Einnahmen und Ausgaben des Staates. Die Ausgaben des Bundes sind über die vergangenen rund zwanzig Jahre praktisch im Gleichschritt mit dem BIP gewachsen. Das Gleiche gilt für die Einnahmen, wobei die direkte Bundessteuer und die Mehrwertsteuer die beiden wichtigsten Finanzierungsquellen des Bundes sind.

Mit anderen Worten: Das Ausgabenwachstum der vergangenen zwei Jahrzehnte wurde über ein Wachstum in den Abgaben und Steuern finanziert, während die Schulden abbezahlt wurden.

Die Regierung folgte damit treu dem Grundsatz der Schuldenbremse: Laufende Ausgaben müssen über laufende Einnahmen finanziert werden – wobei gemäss der schweizerischen Definition auch Investitionen als konsumptive, laufende Ausgaben behandelt werden.

Doch ist das ökonomisch betrachtet sinnvoll?

«Schulden sind grundsätzlich schlecht»

Implizit bedeutet diese Praxis, dass Steuern und Abgaben für die Finanzierung von wachsenden Ausgaben akzeptabel, Schulden jedoch grundsätzlich inakzeptabel sind. Das zeigt sich auch in der aktuellen Diskussion um die Finanzierung der 13. AHV-Rente und die Investitionen zur Erhaltung der Einsatzfähigkeit der Armee: Beide sollen mit zusätzlichen Mehrwertsteuerprozenten finanziert werden, auf keinen Fall mit neuen Schulden.

Das ist die Prämisse, die der Schuldenbremse als Basis dient: Schulden sind grundsätzlich schlecht.

Der Verfassungsartikel zur Schuldenbremse verlangt, dass die Schulden des Bundes auf nomineller Basis, also in absoluten Zahlen, auf Dauer stabilisiert werden. Und weil das BIP langfristig wächst, soll dadurch die Schuldenquote laufend abnehmen. Der ausführende Gesetzesartikel ist noch rigoroser: Er verlangt, dass Rechnungsüberschüsse zwingend dem Schuldenabbau zugeschrieben werden. Das Gesetz sieht also nicht bloss eine kontinuierliche Absenkung der Schuldenquote, sondern auch einen Abbau der Schulden auf nomineller Basis vor.

Schulden werden also als grundsätzlich schlecht betrachtet. Je weniger, desto besser. Was zur Frage führt: Welcher Schuldenstand ist denn tolerierbar? Wo liegt die akzeptable, «optimale» Schuldenquote? Weil diese Frage in der Schweiz nie in einem politischen Prozess geklärt wurde, und weil die Handhabung der Schuldenbremse auf der Prämisse basiert, dass Schulden grundsätzlich schlecht sind, ist in der Fortsetzung dieser Logik nur eine Antwort möglich: Null.

Die Schulden müssten auf null sinken. Wenn eine Schuldenquote von 15% besser ist als eine Quote von 25%, dann sind 10 besser als 15%. Und dann sind in der logischen Konsequenz 0 besser als 10%.

Das ist ökonomisch unsinnig. Und es zeugt von einem dogmatischen Umgang mit dem Thema Schulden.

Phase der Negativzinsen wurde nicht genutzt

Die Ausgabe von Staatsanleihen an den Kapitalmärkten ist per se weder gut noch schlecht. Schulden sind ein Instrument zur Finanzierung des Staates, genau wie Steuern und Abgaben. Eine weitsichtige politische Führung setzt diese Instrumente pragmatisch ein, und sie nutzt die Gelegenheiten, die die Bondmärkte ihr bieten.

Dazu ein Beispiel: Bundesrat Ueli Maurer war von 2016 bis 2022 Vorsteher des Finanzdepartements. In den vier Jahren bis zum Ausbruch der Covid-Pandemie sind die Staatsschulden der Schweiz unter seiner Ägide in absoluten Zahlen um rund 7 Mrd. Fr. gesunken. Maurer wurde während dieser Zeit von Verfechtern der Schuldenbremse für den Abbau der Verschuldung gelobt.

Doch in genau diesem Zeitraum lag die Zinsstrukturkurve der Schweiz meist tief im negativen Bereich, selbst Anleihen mit fünfzig Jahren Laufzeit wiesen eine negative Verzinsung auf. War es ökonomisch sinnvoll, während dieser Zeit Schulden zurückzuzahlen? Wäre es nicht intelligenter gewesen, stattdessen die Steuern zu senken oder produktive, langfristig motivierte Investitionen in kritische Infrastruktur anzugehen, etwa in die Energieversorgung oder den Erhalt einer einsatzfähigen Armee?

Ein weiteres, hypothetisches Beispiel: Die Eidgenossenschaft hätte 2019 Anleihen mit ewiger Laufzeit zu einer Nominalverzinsung von wahrscheinlich weniger als 1% emittieren und damit einen Staatsfonds alimentieren können. Dieser hätte – ebenfalls mit ewiger Laufzeit – die Mittel in ein globales Aktienportfolio investieren können, das im Schnitt 6 bis 8% Rendite pro Jahr erzielt. Die Erträge aus diesem Staatsfonds hätten genutzt werden können, um die Steuern zu senken. Dass derartige Ideen hierzulande nie auch nur ansatzweise ernsthaft diskutiert wurden, zeigt, wie der dogmatische Umgang mit dem Thema Schulden das Denken einengt.

Kein Unternehmen würde auf die Idee kommen, Schulden zurückzahlen, wenn es in den Genuss einer negativen Verzinsung käme. Das wäre ein garantiertes Verlustgeschäft. Wieso sollte diese ökonomische Logik für den Staat nicht gelten?

Auch das ist nur möglich, wenn man Staatsschulden nicht durch eine ökonomische, sondern durch eine dogmatische Brille betrachtet: Sie sind grundsätzlich schlecht.

Ein derartiges Dogma hat in einem vernünftig geführten Staat keinen Platz. Schulden sind nicht per se gut oder schlecht. Es kommt immer darauf an, mit welchen Konditionen sie behaftet sind, wozu sie verwendet werden und wie sich ihre Höhe relativ zum BIP entwickelt.

Schulden sollen mit dem BIP wachsen dürfen

Heute sind die Zinsen auf Schweizer Bundesobligationen zwar nicht mehr negativ, aber Anleihen mit zehn, zwanzig oder dreissig Jahren Laufzeit weisen am Bondmarkt gegenwärtig eine nominale Verzinsung von lediglich rund 0,4% auf. Die Zinsstrukturkurve der Eidgenossenschaft ist flach wie ein Pfannkuchen. Die Schweiz kann der Weltwirtschaft zwar kein Erdöl bieten, aber dafür ein anderes Gut, das rund um den Globus rar und daher gefragt ist: Stabilität und Vertrauen. Die internationalen Kapitalmärkte sind bereit, diese Attribute mit attraktiven Zinsen zu honorieren. Es wäre ökonomisch unsinnig, diese Konditionen nicht zu nutzen.

Zwei konkrete Vorschläge, wie die Schuldenbremse reformiert und das Thema Staatsschulden vom volkswirtschaftlich schädlichen Dogma, das es gegenwärtig besitzt, befreit werden kann:

Erstens sollte sich die Vorgabe der Schuldenbremse nicht auf einen nominalen – arbiträr vor mehr als zwanzig Jahren angesetzten – Betrag beziehen, sondern auf die Schuldenquote, also auf das Verhältnis von Staatsschulden zum BIP. Das würde die Tatsache honorieren, dass die Wirtschaftsleistung über die Zeit wächst. Wenn das BIP nominal 2% pro Jahr wächst, sollen auch die Schulden nominal 2% pro Jahr wachsen dürfen. Das ergäbe gegenwärtig einen Finanzierungsspielraum von gut 2,5 Mrd. Fr. pro Jahr, der mit der Emission von neuen Staatsanleihen ausgeschöpft werden könnte. Die Stabilität der Verschuldung wäre über die unveränderte Schuldenquote gewährleistet.

Um aus diesem neu erlangten Finanzierungsspielraum nicht umgehend Begehrlichkeiten zu wecken – was in der politischen Realität unweigerlich der Fall wäre –, könnte der Grundsatz festgelegt werden, dass die direkte Bundes- oder die Mehrwertsteuer um den gleichen Betrag gesenkt wird. Dem Bund stünde also nicht mehr Geld für neue Ausgaben zur Verfügung, aber der Mix aus Steuern und Schulden würde sich marginal verlagern.

Dieses Vorgehen hätte den positiven Nebeneffekt, dass die hiesigen Finanzmärkte mit einem stetigen, berechenbaren, minimalen Angebot an risikofreien Anleihen versorgt werden. Die Lebensversicherer und Pensionskassen im Land wären froh darum.

Zu diesem Zweck müsste auch – endlich – definiert werden, auf welchem Stand sich die erwünschte, optimale Schuldenquote einpendeln soll. Sollen es 15% des BIP sein? Oder 20, oder 25%? Denn klar ist: 0%, wie es im heutigen Modus langfristig implizit angestrebt ist, wäre ökonomisch unsinnig.

Laufende Ausgaben von Investitionen unterscheiden

Zweitens sollte in den Ausgaben des Bundes klar unterschieden werden zwischen laufenden Ausgaben und langfristigen Investitionen. Erstere sind weiterhin primär über Steuern und Abgaben zu finanzieren, Letztere pragmatisch mit der Ausgabe von Bonds. Kritische Infrastruktur wie Energieversorgung und Verkehr – auch eine einsatzfähige Armee ist eine kritische Infrastruktur – hat in der Regel eine lange Lebenszeit, erhöht die Produktivität und damit das Potenzialwachstum der Volkswirtschaft.

Derartige Investitionen dürfen mit der Ausgabe von Staatsanleihen finanziert werden. Deren Verzinsung wird direkt über die laufenden Ausgaben der Rechnung des Bundes belastet, während das gesamte Investitionsvolumen über die Laufzeit des Projekts nach bewährten buchhalterischen Kriterien abgeschrieben wird. Diese Investitionsprojekte könnten inklusive Laufzeit, Staffelung und Verzinsung neu auszugebender Anleihen im demokratischen Prozess, bis hin zum Referendum, beschlossen und verabschiedet werden.

Ein Beispiel dazu: Weshalb sollte es politökonomisch wünschenswerter sein, die gegenwärtig diskutierten, notwendigen Investitionen in die Armee allein über zusätzliche Mehrwertsteuerprozente zu finanzieren? Wieso nicht über einen «Defense Bond»? Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer belastet den Konsum, hemmt das Wirtschaftswachstum und trägt zur Erosion der Attraktivität des Standorts Schweiz bei.

Höhere Steuern hemmen das Wachstum

Schulden sind die Steuern künftiger Generationen, heisst es oft. Das klingt griffig, und auch damit wird die Prämisse perpetuiert, die Schulden als etwas grundsätzlich Schlechtes darstellt. Aber auch hier gilt: Kein Unternehmen würde so denken. Anleihen sind ein Instrument zur Finanzierung über einen definierten Zeitraum, nicht mehr und nicht weniger. Dieses Instrument hat eine Verzinsung, eine Laufzeit, ein Verfallsdatum und ein Refinanzierungsrisiko. Das alles lässt sich planen. Wenn die Schuldenquote stabil bleibt, dann stellen Schulden keine Belastung für künftige Generationen dar, da sie nicht zurückbezahlt, sondern refinanziert werden.

Zudem: Höhere als notwendige Steuern oder der Verzicht auf langfristig wertstiftende Investitionen in kritische Infrastruktur – inklusive eine einsatzfähige Armee – schmälern das Potenzialwachstum der Wirtschaft und belasten damit direkt die künftigen Generationen.

Die Schweiz ist nicht Frankreich

Das Thema Staatsschulden ist emotional aufgeladen. Wer hierzulande die Sinnhaftigkeit der aktuellen Auslegung der Schuldenbremse infrage stellt, wird rasch bezichtigt, «französische Verhältnisse» schaffen zu wollen. Schulden seien nicht gratis, there is no free lunch, heisst es oft.

Das ist korrekt. Schulden sind nicht gratis. Aber Steuern sind es auch nicht.

Die Schweiz ist nicht Frankreich, sie ist nicht Italien und nicht die USA. Ihre Staatsfinanzen sind gesund, und das werden sie mit den erwähnten Anpassungsvorschlägen auch bleiben. Wer argumentiert, Politikern dürfe man grundsätzlich nie Geld anvertrauen und deshalb sei eine rigide Auslegung der Schuldenbremse unabdingbar, müsste konsequenterweise auch fordern, die Steuereinnahmen des Bundes auf einem absoluten, nominellen Niveau einzufrieren.

Es ist ökonomisch unsinnig, eine Finanzierungsquelle – an den Kapitalmärkten emittierte Anleihen – als grundsätzlich schlecht zu betrachten. Schulden sind nicht per se schlecht. Es kommt immer auf die Konditionen, auf den Verwendungszweck und auf die Entwicklung der Verschuldung in Relation zum BIP an.

Manchmal sind die Konditionen, die der Bondmarkt bietet, besser, manchmal sind sie schlechter. Aber eine Regierung, die gute Konditionen nicht pragmatisch und weitsichtig nutzt, erweist weder ihren Steuerzahlern noch künftigen Generationen einen Dienst.

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