Montag, September 22

Mit den Erinnerungen an ihre albanische Kindheit in Enver Hoxhas abgeschottetem albanischem Kommunismus hat die Politologin Lea Ypi Furore gemacht. Jetzt weitet sie den Horizont mit dem Blick auf das Schicksal ihrer Grossmutter, einer Lichtgestalt der Emanzipation.

«Du solltest lieber einen Roman schreiben», empfiehlt ein Student in Thessaloniki der Wissenschafterin Lea Ypi. Denn über Frauen wie ihre Grossmutter, meint der Student, finde sie im Archiv der Stadt nichts. Doch Ypi findet einiges, und ausserdem kann sie nicht aus ihrer Haut als Politologin und Philosophin. Die Familiengeschichte «Aufrecht» gerät der Professorin, die in Albanien aufwuchs und heute in London lehrt, daher zum Wechselbalg: teils Roman, teils Recherchebericht und eine knappe Reflexion über den Begriff der Würde im 20. Jahrhundert der Diktaturen und Grausamkeiten. Das Erstaunliche: Alle Teile ergeben ein ungewöhnliches, aber stimmiges Ganzes.

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Dabei beginnt «Aufrecht» sogar schwerfälliger als ein klassischer russischer Roman. Am Anfang steht ein üppiges Personenverzeichnis, darauf folgen eine Zeittafel mit wichtigen Daten der Jahre 1821 bis 1946, eine «Anmerkung zu den Titeln» im Osmanischen Reich, «Hinweise zur Aussprache des Albanischen» und zwei historische Karten, die den Norden des Osmanischen Reichs und dieselbe Region unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen.

Wer sich durch zwanzig informative Seiten hindurchgekämpft oder geblättert hat, begegnet dann einer leuchtenden Gestalt, die alle Mühen vergessen lässt: Ypis Grossmutter Leman Leskoviku. Mit ihr erzählt die an der London School of Economics lehrende Enkelin vom Fall des Osmanischen Reichs und vom Aufstieg des kommunistischen Regimes Enver Hoxhas.

Chaos von Elend und Glanz

Leman ist die Enkelin von Ibrahim Pascha, einem aus den albanischen Bergen stammenden hohen Verwaltungsbeamten des Osmanischen Reichs. Sie wächst in Saloniki in jener Villa auf, die Ibrahim für einige Jahre bewohnte: Der Sultan hatte ihn wegen seiner Reformpläne für den «kranken Mann am Bosporus» aus Konstantinopel ins Exil verwiesen. Als nach den Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg das osmanische Vielvölkerreich in Nationalstaaten zerfällt, erfährt die fünfjährige Leman, welche Leiden der Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland für Hunderttausende bedeutet: Scharen hungernder, meist mittelloser Flüchtlinge lagern auf den Strassen der jetzt Thessaloniki genannten Stadt.

Auch Leman zieht nach dem Abitur nach Tirana, in das Land ihrer Vorfahren – allerdings auf eigenen Wunsch, nicht als Vertriebene und nicht als Patriotin: Sie will in Albanien einem Kaufmann aus Deutschland entkommen, der bereits begonnen hat, ihr Knie zu tätscheln. Der mitleid- und gedankenlose Georg Heym hatte zuvor so hartnäckig um Lemans geliebte Tante Selma geworben, dass Selma sich nur durch den Freitod in Sicherheit zu bringen wusste.

Selma hat Leman nach den Idealen der Französischen Revolution erzogen, und auch ihr Vater hält als Studienort seiner kräftig rauchenden Tochter Paris für angemessen, nicht Tirana. Die albanische Hauptstadt ist Mitte der 1920er Jahre ein brodelndes Chaos von Elend und Glanz. Anhänger der Blutrache treffen auf solche der Aufklärung, Bauern auf ehemalige Studenten, die in Paris alle Spielarten der Politik vom Faschismus bis zum Sozialismus kennengelernt haben und auf deren sofortige praktische Anwendung drängen.

Dazu kommen Agenten, vor allem britische, die die Kommunisten ebenso wie die auf dem Balkan allerorten heftig gärenden Annexionsgelüste im Zaum halten wollen. Leman lernt durch ihren Geliebten Asllan Ypi, den Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten, einen ungestümen und eitlen Mann kennen, der Enver Hoxha heisst.

Hoxha hat mit Asllan in Paris studiert. Im Zweiten Weltkrieg kämpft der Gründer der Kommunistischen Partei Albaniens als Partisan gegen die italienischen und die ihnen folgenden deutschen Besetzer. Gut ein Jahr nach deren Abzug wird er, inzwischen Staats- und Parteichef, den bedächtigen ehemaligen Mitstudenten Asllan zu zwanzig Jahren Haft verurteilen lassen. Zafo, Asllans und Lemans Kind und der Vater der Autorin, wächst dank der unter den Kommunisten üblichen Sippenhaft auf dem Land auf: Seine Mutter verliert als Ehefrau eines Staatsfeindes ihre Arbeit in der Verwaltung und wird zur Feldarbeit verbannt.

Historie und Individualität

Lea Ypi hat von ihrer Kindheit in Enver Hoxhas abgeschottetem albanischem Kommunismus in dem stark beachteten Vorgängerband «Frei» erzählt. In «Aufrecht» stehen die gefährlichen Jahre der albanischen Gründergeneration im Mittelpunkt, und wieder beweist Ypi erzählerische Qualitäten.

Mühelos verbindet sie historische Ereignisse mit individuellen Erlebnissen. Geschickt wechselt sie vom personalen zum auktorialen Erzähler, greift vor und zurück und nutzt reiche Personentableaus eines adligen Haushalts, um etwa den grossen Menschenaustausch zwischen der Türkei und Griechenland, eine frühe ethnische Säuberung, aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten: mit den Augen des schweren Herzens in die Türkei ziehenden Dienstmädchens Dafne, denen des dumpfen deutschen Kaufmanns Gustav Heym und denen des mit den Flüchtlingen leidenden Kindes Leman. «Aufrecht» ist bemerkenswert schlackenlos und fesselnd.

Unterbrochen werden die Romanpassagen, in denen Ypi um die Gefühlslagen und Gedanken ihrer Figuren weiss, von Berichten über Archivbesuche in den Balkanstaaten und weit darüber hinaus. Sie sind von einem tragischen Witz durchzogen, ist doch das in den Archiven Fehlende meist wichtiger als das in ihnen Vorhandene. Vor allem aber scheinen die Aktenfunde zu Leman Leskoviku, Spitzelberichte vor allem, in keinem Zusammenhang mit dem Leben zu stehen, wie es die von Ypi imaginierten Kapitel erzählen: Der staatlichen Gewalt stellt die Autorin ein selbstbestimmtes Leben entgegen.

Die ungewöhnliche Konstruktion hätte leicht bemüht wirken können. Doch sie erhellt unausgesprochen, was das Buch durchzieht: Ypis Überlegungen zur Würde im Schillerschen Sinne, die Leman im Zeitalter der ideologischen Extreme bewahrte. Und als dann in den Archiven eine zweite Leman Leskoviku auftaucht, zeigt sich: Diese Autorin kann sogar mit Suspense umgehen.

Lea Ypi: Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 416 S., Fr. 41.90.

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