Freitag, Februar 7

Sie ist Dirigentin, Hochschullehrerin und berät Manager in Fragen des Führungsstils. Vor allem aber will sie das Bewusstsein dafür wecken, dass die Schweiz eine eigenständige Musikgeschichte besitzt. Dafür hat Graziella Contratto sogar eine Plattenfirma gegründet.

Sie sitzt gern zwischen allen Stühlen. Den Platz dort findet Graziella Contratto recht bequem. Denn standardisierten Karrieremustern mochte die Musikerin noch nie folgen – das prägt ihren Lebensweg, heute mehr denn je. Wer der gebürtigen Schwyzerin begegnet, steht allerdings vor einer Herausforderung: Wegen ihrer vielen verschiedenen Tätigkeiten in der Musikwelt wechseln auch ihre Perspektiven auf den Betrieb im Gespräch virtuos hin und her.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Oft muss man sich deshalb fragen: Wer spricht gerade? Ist es die praktizierende Musikerin? Ist es die erfahrene Dirigentin? Die Hochschulleiterin und engagierte Networkerin? Oder gar die Manager-Trainerin, die Führungskräfte in Seminaren für Körpersprache und unterschiedliche Führungsstile sensibilisiert? Graziella Contratto vereint alle diese Profile in einer Person. Seit acht Jahren leitet sie obendrein eine eigene Plattenfirma, eines der unkonventionellsten Tonträger-Labels der Schweiz.

Auf Entdeckungstour

Auch wenn sie heute glaubt, dass ihr die Vielgleisigkeit «irgendwie in die Wiege» gelegt worden sei – geplant war ihr Lebensweg zunächst anders. Contratto wollte als Dirigentin Karriere machen, umso entschlossener, nachdem sie selbstkritisch erkannt hatte, dass tägliches stundenlanges Üben an einem Instrument nicht ihre Sache war. Es hätte wahrscheinlich ihrem hellwachen Intellekt auf Dauer auch zu wenig Nahrung geboten. Genau solches Spezialistentum, etwa durch regelmässiges manuelles Training am Klavier, brauche es aber, betont Contratto, um es mit einer Solokarriere auf die grossen Podien zu bringen.

Im Dirigieren fliesst für sie die praktische Auseinandersetzung mit grosser Kunst auf ideale Weise zusammen mit der intellektuellen Reflexion. 2007 hat sie sich dafür auch ein eigenes Orchester geschaffen, das Mythen Ensemble Orchestral. Bei der Arbeit mit den Musikern reizt sie nicht nur das hier besonders gefragte Gespür für zwischenmenschliche Psychologie, sondern auch die Bereitschaft vieler Ensembles, gemeinsam auf Entdeckungstour durch unbekanntes Repertoire zu gehen. Letzteres wird für sie zu einem Leitmotiv.

Nach ihrer Ausbildung während der 1990er Jahre – unter anderem bei Rudolf Kelterborn, Horst Stein, Manfred Honeck und Ralf Weikert – gelingt ihr ein erster Sprung: 1998 wird sie Assistentin von Claudio Abbado bei den Berliner Philharmonikern und bei den Salzburger Osterfestspielen. Danach geht es weiter voran: Nach einer Residenz beim Orchestre National de Lyon übernimmt sie von 2003 bis 2009 den Posten als Chefdirigentin des Orchestre des Pays de Savoie. Sie ist damals die erste Frau, der die Leitung eines staatlichen Orchesters in Frankreich anvertraut wird. Auch in ihrer Heimat wird man auf sie aufmerksam, es entstehen Projekte mit Klangkörpern wie dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem Berner und dem Basler Sinfonieorchester sowie dem Orchestra della Svizzera italiana.

Contratto kommt dabei fraglos zugute, dass sie nicht mehr jener Generation von Pionierinnen am Pult angehört, die noch gegen erhebliche Widerstände beweisen musste, dass Frauen überhaupt – geistig wie physisch – in der Lage sind, ein Orchester zu leiten. Dass man diese Frage heute unangemessen findet (oder schlichtweg komisch), ist namentlich zwei Schweizerinnen, Hedy Salquin und Sylvia Caduff, zu verdanken. Wie die etwas älteren Kolleginnen Simone Young und Marin Alsop kann Contratto bereits darauf aufbauen, dass Salquin, Caduff und einige weitere das Eis mühsam aufgebrochen haben. Die Beharrungskräfte des Musikbetriebs hat aber auch Contratto noch zu spüren bekommen.

Heute blickt sie deshalb positiv, wenn auch nicht unkritisch auf die jüngste Entwicklung in der «Dirigentinnenfrage», bei der das Pendel geradezu in die Gegenrichtung ausgeschlagen ist. Angehende Dirigentinnen würden mittlerweile umfassend gefördert, manche schon aus dem Studium heraus für erste Leitungsposten engagiert. «Das birgt aber die Gefahr, dass man den jungen Künstlerinnen die Chance nimmt, noch unbeobachtet von der ganz grossen Öffentlichkeit zu reifen.» Contratto erkennt darin eine Parallele zum generellen Jugend-Hype in der Musikwelt, die tatsächlich seit Jahren auf immer jüngere Künstlerinnen und Künstler setzt. Besonders aufsehenerregend im Fall des Finnen Klaus Mäkelä, der bereits in seinen Zwanzigern auf Chefposten bei führenden Orchestern in Paris, Amsterdam und Chicago berufen wurde.

Eigener Weg durch die Institutionen

Derartige Karrierechancen und -förderungen habe es für eine Dirigentin um die Jahrtausendwende noch nicht gegeben. Contratto stellt dies sachlich fest, ohne jeden Anflug von Enttäuschung. Vielleicht, weil sie stattdessen ihren eigenen Weg durch die Institutionen gefunden hat, der wiederum charakteristisch ist für diese Musikerin. Den berüchtigten Bruch, den manche ausübenden Musiker vollziehen, sobald sie sich an einem toten Punkt in ihrer Laufbahn angekommen glauben, gibt es in ihrer Vita nicht. Sie erweitert lieber den Blickwinkel und sucht sich neue, zusätzliche Tätigkeitsfelder – ohne aber mit dem Alten, also etwa mit dem Dirigieren, zu brechen.

So entsteht jene Vielseitigkeit, die ihr Wirken in der Musikszene auszeichnet. Sie greift etwa ihr Interesse am Unterrichten auf, das sie seit der Anfangszeit ihrer Ausbildung begleitet. Schon 1992, noch während des Studiums, wird sie jüngste Dozentin für Musiktheorie an der Musikhochschule Luzern, und Fragen der Musikwissenschaft beschäftigen sie weiterhin. Früh kommt eine Begeisterung für dramaturgische Konzepte und sogar für administrative Planungen hinzu.

Beides lässt sie schliesslich den Sprung auf die institutionelle Seite wagen: Von 2007 bis 2013 verantwortet Contratto als Intendantin das Davos-Festival und übernimmt 2010 für zwölf Jahre die Leitung des Fachbereichs Musik an der Hochschule der Künste Bern. Dass sie beide Seiten kennt, sowohl die musikalische Praxis wie auch deren Organisation, bringt sie auch in die oft nicht allzu beliebte Gremienarbeit ein, zeitweilig als Stiftungsrätin bei Pro Helvetia und als Jurypräsidentin beim Schweizer Musikpreis.

Wie man einen Schatz hebt

Die Erfahrungen haben auch ihren Blick geschärft für ein bemerkenswertes Defizit, das sich die Schweiz im Umgang mit dem eigenen Kulturerbe leistet. «Es gibt hierzulande kein historisches Bewusstsein für die reiche Tradition von Schweizer Musik», sagt Contratto. Und damit auch nicht für die «Notwendigkeit, dieses Erbe angemessen zu pflegen». Als Musikland «haben wir womöglich eine gestörte Selbstwahrnehmung».

Contratto hat aus dieser Erkenntnis die Konsequenz gezogen und gleich noch eine weitere Aufgabe übernommen: Seit 2017 führt sie das Tonträger-Label Schweizer Fonogramm, das sich schwerpunktmässig die Verbreitung von Schweizer Musik aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert auf die Fahnen geschrieben hat. Das sei kein Nationalismus, betont sie, es gehe vielmehr darum, da einen Schatz an entdeckungswürdigen Werken zu heben und damit überhaupt zugänglich zu machen.

Für dieses Anliegen gibt es aus ihrer Sicht bislang zu wenig Interesse, von einer speziellen Förderung für Tonträger-Projekte ganz zu schweigen. Contratto hält die nationale Förderpolitik mit ihrem Fokus auf Nachwuchskräfte und transdisziplinäre Projekte denn auch für teilweise zeitgeistgetrieben, jedenfalls für revisionsbedürftig. Statt aber bloss zu lamentieren, geht sie die Erschliessung einer genuin schweizerischen Musikgeschichte nun in Eigenregie an.

Was es dort abseits der international immerhin geläufigen Namen wie Othmar Schoeck oder Arthur Honegger noch zu entdecken gibt, hat sie unter anderem bereits mit Ersteinspielungen der sechs Sinfonien von Joseph Lauber durch Kaspar Zehnder und das Sinfonieorchester Biel Solothurn unter Beweis gestellt. Lauber war ein Altersgenosse von Richard Strauss und als Professor in Genf Lehrer von Frank Martin, dem Contratto bald ein eigenes Projekt widmen will. Lauber zielt in seinem umfangreichen Schaffen auf eine Synthese aus deutscher und französischer Spätromantik, mit hörbaren Einflüssen des Impressionismus. «Es wäre eine Bereicherung», findet Contratto, «wenn Schweizer Orchester diese Werke in einen Kontext mit dem Standardrepertoire setzen würden.»

Ihr bislang grösster Coup gelang ihr 2024: mit der ersten Gesamtaufnahme der Oper «Samson» von Joachim Raff durch das Berner Symphonieorchester unter Philippe Bach. Raff, geboren in Lachen (SZ), ist als Assistent Franz Liszts in die Geschichte eingegangen, ausserdem als Gründungsdirektor des Hoch’schen Konservatoriums in Frankfurt, an das er unter anderem Clara Schumann berief. In seinem Schaffen dagegen gilt Raff weithin als Wagner-Epigone. Das sei jedoch allenfalls die halbe Wahrheit, meint Contratto, und sein gut dreistündiges «Musikdrama in drei Abteilungen» zum alttestamentlichen Samson-Stoff unterstreicht dies.

Grosse Oper aus der Schweiz

Das Stück, 1858 vollendet, aber erst 2022 anlässlich von Raffs 200. Geburtstag in Weimar uraufgeführt, ist die einzige grosse Oper eines Schweizer Komponisten aus der Romantik. Es steht zwar unverkennbar im Bann des «Lohengrin». Ebenso spürbar ist aber Raffs intensive Auseinandersetzung mit Mendelssohns Oratorium «Elias». Grenzt er sich schon damit vom antisemitisch verblendeten Mendelssohn-Verächter Wagner ab, so geht Raff erst recht eigene Wege in der Darstellung des Stoffes, der vor ihm von Händel und später von Saint-Saëns vertont wurde. Im Gegensatz zu Wagner vermeidet Raff jede Überhöhung seines Titelhelden ins Mythisch-Märchenhafte. Noch überraschender wirkt, dass er auf jegliche religiöse Tönung des Geschehens verzichtet.

Stattdessen gestaltet Raff sein selbstverfasstes Textbuch als realistisches Politdrama vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen dem Volk Israel und den Philistern. Das wirkt so unmittelbar, so frei von historischer Patina, dass man unwillkürlich Bezüge zur Gegenwart herstellt, sobald man die Ortsangabe im Libretto liest: Die Handlung spielt in Gaza. Ihr sei da fast ein bisschen unheimlich geworden, verrät Contratto. Und fügt mit feiner Selbstironie hinzu: «Etwas so Brisantes hätte man von einem Schwyzer vielleicht nicht erwartet.»

Exit mobile version