Bundesrat Ignazio Cassis fokussiert bei seinen Treffen in Davos unter anderem auf den Nahen Osten und die Ukraine. Kiew hat Interesse, dass die Schweiz ein Schutzmachtmandat gegenüber Moskau übernimmt. Eine Agenda für Verhandlungen gebe es aber noch nicht.
Die Welterklärer haben in Davos einen schweren Stand. Wer sich an dieser Jahresversammlung des World Economic Forum (WEF) zu einer absoluten Aussage versteigt, läuft Gefahr, gleich anschliessend von der Realität widerlegt zu werden. Entsprechend vorsichtig tastete sich der Chef des Aussendepartements (EDA), Bundesrat Ignazio Cassis, am Mittwochabend vor den Medien an eine Zwischenbilanz seiner Gespräche heran, die er bisher in Davos führen konnte.
Cassis war es zunächst ein Anliegen, die Bedeutung des WEF für die Schweiz zu betonen. Davos sei der einzige Ort, wo es gleichzeitig um politische und wirtschaftliche Themen gehe. Das Forum erleichtere es zudem, Kontakte in einem einfachen Rahmen zu pflegen, sagte Cassis. Auch wenn politische Vertreter der USA praktisch nicht präsent waren: In der Ungewissheit der geopolitischen Lage dürfte der ungezwungene Austausch noch wichtiger geworden sein als bisher.
Das EDA legte den Fokus der politischen Treffen auf vier Themen:
- Naher Osten: Im Zentrum stand ein Gespräch mit dem Aussenminister der syrischen Übergangsregierung. Cassis wollte vor allem verstehen, «was überhaupt passiert». Er wolle vorsichtig sein, sagte der EDA-Chef: «Sie haben Absichten, aber man muss Fakten sehen.» Man habe Mühe zu glauben, dass der Übergangsprozess einfach funktioniere, vor allem mit Blick auf die Vergangenheit der Organisation, die in Damaskus die Macht übernommen habe. Die HTS, die aus dem syrischen Ableger von al-Kaida hervorgegangen war, bleibt deshalb in der Schweiz weiterhin als Terrororganisation gelistet.
- Europa: Cassis unterhielt sich mit dem EU-Kommissar Maros Sefcovic, der in Brüssel für das EU-Dossier zuständig ist. Ausserdem orientierte der EDA-Chef die Aussenminister Tschechiens und Belgiens über die weiteren Schritte nach dem Abschluss der Verhandlungen über die Weiterentwicklung der bilateralen Verträge. Mit der finnischen Aussenministerin Elina Valtonen tauschte sich Cassis über die Lage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aus und «synchronisierte die Agenden», wie Cassis sagte. Gegenwärtig hat Finnland den Vorsitz dieser inklusiven Dialogplattform, 2026 übernimmt ihn für ein Jahr die Schweiz. Die OSZE könnte bei einem Friedensprozess in der Ukraine eine entscheidende Rolle spielen, weil auch Russland weiterhin dazugehört.
- Westbalkan: Die Schweiz stellt eine Zunahme der Spannungen fest. Cassis ist beunruhigt über die Lage und hat deshalb die Gelegenheit genutzt, mit verschiedenen Regierungsvertretern aus der Region zu sprechen.
- Ukraine: Auf dem Gefechtsfeld herrsche ein Patt, beide Seiten seien erschöpft, sagte Cassis. Zusammen mit dem neuen Ukraine-Delegierten des Bundesrats, Jacques Gerber, traf er sich mit dem ukrainischen Aussenminister Andri Sibiha. Er habe verstanden, dass es noch keine Agenda für Verhandlungen gebe, deshalb sei auch noch unklar, welche Rolle die Schweiz in einem Friedensprozess spielen könnte. Kiew hat aber erneut Interesse signalisiert, dass die Schweiz ein Schutzmachtmandat gegenüber Moskau übernehmen könnte – ähnlich wie zwischen Georgien und Russland. Allerdings wollte der Kreml bisher nichts davon wissen, dass die Schweiz für die Ukraine die Rolle des diplomatischen Postboten übernimmt.
Fast zeitgleich mit dem Point de presse in Davos veröffentlichte der amerikanische Präsident Donald Trump über sein soziales Netzwerk eine Botschaft an seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin: «Beruhigen Sie sich jetzt, und stoppen Sie diesen lächerlichen Krieg!» Es sei Zeit für einen «Deal». Cassis konnte nicht direkt reagieren, aber für ihn ist die Position der Schweiz zum weiteren Vorgehen klar: «Die Ukraine muss in einen Prozess einbezogen werden. Die Ukrainer müssen Herr ihres Schicksals sein.»
Die Unsicherheit über Trumps Vorgehen betrifft auch die unmittelbaren Interessen der Schweiz und ihrer globalisierten Wirtschaft. Der neue Präsident droht mit Protektionismus und Zöllen, die Konkurrenz zwischen den USA und China könnte die Welt zudem in zwei voneinander abgeschottete Normenräume trennen. Beides gefährdet die Absicht der Schweiz, ihre Handelspolitik möglichst divers aufzustellen.
Trump spricht per Videoschaltung
Die Aussenwirtschaftspolitik bleibt deshalb die heimliche Königsdisziplin der Schweizer Diplomatie. Bundesrat Guy Parmelin, der Vorsteher des Wirtschaftsdepartements, kann am WEF gleich zwei neue Freihandelsabkommen unterzeichnen: am Mittwoch eines der European Free Trade Association mit Kosovo, am Donnerstag dann eines mit Thailand.
Das Handelsvolumen hinsichtlich beider Länder ist allerdings relativ gering. Im Fall von Kosovo schlägt der amtierende Ministerpräsident Albin Kurti auch politisches Kapital aus dem Abkommen: Im Februar sind Wahlen, und die Schweiz ist mit Kosovo aufs Engste verbunden. Das Bild von Kurti und Parmelin aus Davos dominierte die kosovarischen Newsportale.
Am Donnerstag könnte sich ein kurzes Fenster in der geopolitischen Nebeldecke über Davos öffnen: Trump soll per Videoschaltung zur globalen Elite sprechen, die am WEF auf Signale aus Washington wartet.