Sonntag, Januar 5

Die Anfang Januar – nach Ablauf der Sperrfrist von 30 Jahren – zugänglich gewordenen diplomatischen Dokumente zeigen, wie sich die Schweiz 1994 zu den globalen Konflikten stellte: den Kriegen im Westbalkan und dem Genozid in Rwanda.

Das Jahrzehnt nach der Auflösung der Sowjetunion und des Ostblocks war nicht so friedlich, wie es heute angesichts der Spannungen zwischen Grossmächten und des russischen Angriffs auf die Ukraine vergleichsweise erscheinen mag. Auswirkungen von Konflikten erreichten auch die Schweiz, wie es der neue Band der Diplomatischen Dokumente für das Jahr 1994 illustriert. In ihrer weiteren europäischen Nachbarschaft zerfällt der einst sozialistische jugoslawische Bundesstaat unter ethnisch geprägten Kriegen um Unabhängigkeit und Macht. Tausende von Flüchtlingen gelangen auch in die Schweiz, die bereits ein bedeutendes Zielland von Arbeitsmigranten geworden ist.

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Solidarität und Vorsicht

Der Bundesrat reagiert mit Hilfe für Zufluchtstaaten im Westbalkan, aber auch mit Sonderregelungen für Kriegsflüchtlinge wie der vorläufigen Aufnahme von Menschen aus Bosnien als Gruppe (einer Vorstufe des Schutzstatus S). Gleichzeitig hält der Chef des Justiz- und Polizeidepartements, Arnold Koller, im Fall von Kosovo, wo der Konflikt erst später offen ausbrechen wird, an einer differenzierten Asylpolitik fest und lehnt einen generellen Rückschaffungsstopp ab – was in der aussenpolitischen Nationalratskommission auch bei Bürgerlichen auf Kritik stösst.

Belgrad, immer noch Herr über jene Provinz, verweigert abgewiesenen Asylsuchenden allerdings die Einreise, und die Sache wird nicht einfacher dadurch, dass sich die Schweiz an den Wirtschaftssanktionen der Uno gegen Serbien-Montenegro beteiligt. Die Visumsperre gegen Präsident Slobodan Milosevic komme das Bundesamt für Flüchtlinge «sehr teuer zu stehen», bemerkt dessen Direktor Urs Scheidegger an einer internen Sitzung. Einem Kritiker schreibt seitens des Aussendepartements Franz von Däniken, die Zwangsmassnahmen seien zwar erfahrungsgemäss eher unwirksam, aber vereinbar mit der Neutralität – einem in diesem Konflikt ohnehin unergiebigen Instrument. Die Schweiz dürfe die Politik der Staatengemeinschaft nicht vereiteln.

Völkermord im Partnerland

Auch ein Gewaltausbruch in Afrika berührt das Land. Rwanda, die kleine, hügelige, scheinbar stabile «afrikanische Schweiz», wo Armee, Milizen und zivile Täter im Frühjahr 1994 Hunderttausende von Angehörigen der Tutsi-Minderheit ermorden, war seit 1963 ein vielversprechendes Schwerpunktland der Entwicklungszusammenarbeit. Die Hilfe, die sich während der internen Konflikte der letzten Jahre stärker auf die Förderung des Rechtsstaates ausgerichtet hat, kann vorderhand nur mit humanitären Notaktionen fortgeführt werden.

Die Gründe des jüngsten Kriegs stünden «in keinem Zusammenhang mit dem Inhalt der Entwicklungszusammenarbeit», beteuert die Deza als verantwortliche Direktion sogleich. Hatte sie aber nicht zu lange den Herrschenden vertraut, etwa indem sie dem Präsidenten bis 1992 einen persönlichen Schweizer Berater finanzierte? Risiken werde es immer geben, antwortet Aussenminister Flavio Cotti, als sein Kollege Adolf Ogi fragt, wie man diese besser erfassen könnte. Kritischer wird sich später Lukas Bärfuss in seinem Roman «Hundert Tage» mit dem Rwanda-Engagement befassen. Die offizielle Schweiz redet übrigens vorerst nicht von Genozid, sondern von Massakern oder «tragischen Vorgängen».

Neben dem Rückschlag in Rwanda sind in der Entwicklungspolitik auch gewisse Aufbrüche zu verzeichnen: die Verabschiedung des Leitbilds Nord-Süd, das für Kohärenz verschiedener Politikbereiche steht, die Intensivierung der Ostzusammenarbeit und der Beginn der «Aufbauhilfe» in Palästina.

Sacha Zala (Forschungsleiter), Thomas Bürgisser (Redaktionsleiter) und Mitarbeitende: Diplomatische Dokumente der Schweiz, Band 1994. Bern 2025. 434 S., Bestellungen und Gratis-Download: www.dodis.ch

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