Mittwoch, Februar 12

Um einen asylpolitischen Fiebertraum wie in Deutschland ist die Schweiz bisher herumgekommen. Doch sie muss sich darauf vorbereiten, dass das Dublin-System in einer Kettenreaktion zusammenbricht.

Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg: Mit Fassungslosigkeit blickt die Schweiz nach Deutschland, wo die Folgen einer ausser Kontrolle geratenen Asylpolitik die Republik scheinbar an den Rand einer Staatskrise bringen. Wohl gehört die irreguläre Migration auch in der Schweiz seit Jahren zu den dominierenden Themen. Migration und Europa – das sind die Streitfragen, mit denen die SVP im Herbst 2023 ihren Wahlsieg eingefahren hat, ähnlich wie es bei der Bundestagswahl für die AfD vorausgesagt wird. Und wie in Deutschland schärfen die Parteien der bürgerlichen Mitte ihre asylpolitischen Positionen immer wieder nach.

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Trotzdem ist die Schweiz von einem politischen Fiebertraum, wie ihn Deutschland im Wahlkampf erlebt, weit entfernt. Wie gross die Unterschiede sind, zeigte sich vor zwei Wochen: An dem Tag, an dem der Deutsche Bundestag mit beispielloser Härte über die Neuausrichtung der Asylpolitik und über das Verhältnis zur rechtspopulistischen AfD streitet, steht pikanterweise auch in Bern die Migration auf dem Programm.

Vincenzo Mascioli, der neue Chef des Staatssekretariats für Migration (SEM), hat an diesem Tag seinen ersten öffentlichen Auftritt, nachdem die Stimmung in Asylfragen immer schlechter geworden ist. Die Gemeinden klagen über permanente Überlastung, zwei Kantone befinden sich im Asylnotstand, die Kriminalität beunruhigt viele Leute selbst im linken Milieu. Doch so gross der Druck auf Mascioli ist– nach seinem Auftritt bleibt es bemerkenswert ruhig. Die SVP, sonst immer für asylpolitischen Pulverdampf gut, verschickt nicht einmal ein Communiqué.

Die Schweiz macht bereits, was die EU plant

Natürlich – in der Schweiz ist der Wahlkampf lange vorbei, und das Land muss nicht eine Serie von brutalen Mordanschlägen verarbeiten. Die Prognosen für die Asylzahlen sind moderater als auch schon, so dass einiges auf eine leichte Entspannung hindeutet. Die Zusammensetzung der Asylsuchenden in Bezug auf ihre Herkunft macht die Integration in der Schweiz tendenziell einfacher als in anderen Ländern. Das alles trägt dazu bei, dass die Stimmung derzeit nicht unkontrolliert hochkocht.

Und dennoch ist die relative Gelassenheit, mit der das Land die Herausforderungen angeht, nicht einfach die Folge glücklicher Fügung. Die Schweiz hat in den letzten Jahren auch selbst einiges dazu beigetragen, die Migration besser zu bewältigen. Vieles von dem, was in Europa diskutiert und geplant wird, ist in der Schweiz so oder ähnlich seit Jahren Realität.

So hat das Land 2019 ein zentralisiertes System eingeführt, bei dem die Asylverfahren in Bundesasylzentren durchgeführt werden. Die Entscheide liegen im Schnitt trotz kostenloser Rechtsberatung nach drei bis fünf Monaten vor. Das ist deutlich schneller als in Deutschland, wo selbst Standardverfahren mindestens ein halbes Jahr dauern. Erst nach dem Entscheid werden die Asylsuchenden im Land verteilt, wobei eine gleichmässige Belastung angestrebt wird.

Das alles funktioniert nicht reibungslos. Es ist Verbesserungspotenzial da, der Rückstand bei der Bearbeitung der Gesuche ist gross. Das bringt die Kantone an die Grenzen. Trotzdem hat sich die Situation seit der Revision des Asylgesetzes spürbar verbessert. Das lässt auch für Europa hoffen. Schnelle Verfahren vor der Verteilung auf die einzelnen Länder: Dieses Prinzip sieht auch die EU-Asylrechtsreform vor, die nächstes Jahr in Kraft treten soll.

Rasche Verfahren in Kombination mit einer Vielzahl von Rückführungs- und Migrationsabkommen begünstigen auch den Vollzug von Wegweisungen. In der Schweiz haben 2023 6077 Personen kontrolliert das Land verlassen. Gemessen an der Zahl der Gesuche im selben Jahr sind das über 20 Prozent. Das klingt nach wenig, doch in Deutschland betrug dieses Verhältnis nicht einmal 8 Prozent (16 430 Wegweisungen). Auch vom vielgescholtenen Dublin-Abkommen profitiert die Schweiz nach wie vor: Pro Asylbewerber, den die Schweiz aufgrund der Dublin-Regeln übernehmen muss, kann sie drei Personen fristgerecht ins Ausland überstellen.

Sicherheitsbehörden sind besser vorbereitet

Und jene, die mit einer Aufenthaltsberechtigung im Land bleiben können, machen hier seltener Probleme. Kinder werden rasch in den Regelklassen aufgenommen – ein unschlagbarer Integrations-Katalysator. Zudem besteht ein besserer Zugang zum Arbeitsmarkt. Nach sieben Jahren sind 56 Prozent der Personen mit Asyl oder mit subsidiärem Schutz erwerbstätig. Das ist nicht nur volkswirtschaftlich sinnvoll, sondern wirkt auch der Bildung von Parallelgesellschaften entgegen, selbst wenn Steigerungspotenzial vorhanden ist.

Für Schlagzeilen sorgten deshalb vor allem irregulär eingereiste Migranten aus den Maghrebstaaten, die ohne Aussicht auf Asyl nach Europa kommen. Hier droht auch die Schweiz die Kontrolle zu verlieren. Manche dieser Migranten fallen mit Drogengeschäften, Einbrüchen und anderen Delikten auf. Sie untergraben das Sicherheitsgefühl und verstärken Abwehrreflexe. Früher als Deutschland hat die Schweiz allerdings auch in Bezug auf die Sicherheit reagiert.

Mit einem Nationalen Aktionsplan (NAP) unter Führung des Bundes haben sich Nachrichtendienst, Polizeikorps, Migrationsbehörden, Schulen, Sozialhilfestellen und religiöse Gemeinschaften nach den Terroranschlägen Mitte der zehner Jahre in Europa sukzessive über alle Staatsebenen vernetzt. Der Datenschutz stellt dabei kein Hindernis dar. Ein Desaster, wie im Falle des mutmasslichen Attentäters von Magdeburg, soll auf diese Weise verhindert werden.

Auch die Schweiz ist nicht gewappnet

Vor dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt mit sechs Toten und Hunderten Verletzten war der Mann mehreren deutschen Behörden dutzendfach aufgefallen, ohne dass er als Gefährder erkannt wurde. Niemand schliesst aus, dass es auch in der Schweiz zu einer solchen Wahnsinnstat kommen kann. Doch das Risiko für ein Totalversagen nach deutschem Vorbild ist nicht zuletzt dank dem NAP tiefer.

Trotz besserem Dispositiv und kleineren Vollzugsproblemen besteht in der Schweiz allerdings kein Grund für Seelenruhe. Die Zahl der Asylgesuche bleibt trotz Rückgang hoch. Die derzeitige Beruhigung ist zudem nicht auf die schweizerische Asylpolitik zurückzuführen, sondern auf die internationale Lage. Je nach Entwicklung in der Türkei, Afghanistan, Syrien oder in anderen nordafrikanischen Staaten werden die Zahlen erneut rasch ansteigen und die Schweiz bald wieder an den Rand der Überforderung bringen. Gewappnet ist die Schweiz gegen eine neue grosse Flüchtlingswelle nicht.

Wie schnell sich unter diesem Einfluss die Massstäbe verschieben, zeigt sich seit einiger Zeit im Süden Europas: Die irreguläre Migration über die zentrale Mittelmeerroute ist stark zurückgegangen, seitdem Tunesien Überfahrten nach Italien im Tausch gegen Millionenzahlungen verhindert. Das Land geht dabei teilweise äusserst brutal vor und übernimmt im Auftrag von Europa so gewissermassen den schmutzigen Teil der Arbeit bei der Begrenzung der Migration. Davon profitiert auch die Schweiz, wenn aufgrund ihrer Lage auch weniger als andere Staaten.

Auch nördlich der Schweiz ist der politische Wandel unberechenbar geworden. Deutschland könnte seine Grenzen nach den Wahlen bald schliessen. So jedenfalls lautet die feste Absicht des voraussichtlich nächsten Kanzlers, Friedrich Merz. Dieser Schritt könnte zu einer europäischen Kettenreaktion führen, von der die Schweiz direkt betroffen wäre. Und selbst falls die EU ein solches Szenario noch einmal abwenden wird: Das Asylwesen nach bisherigen europäischen Massstäben bleibt bedroht.

Letzte Chance für einen Kurswechsel

In einem Gespräch mit der NZZ umschrieb der keineswegs im rechten Lager zu verortende deutsche Migrationsrechtler Daniel Thym diese Entwicklung kürzlich in drastischen Worten. Europa habe im Asylbereich einen Punkt erreicht, an dem die Politik ein letztes Mal versuchen könne, das Problem innerhalb des geltenden Systems in den Griff zu bekommen: «Falls das nicht klappt, kommt bald eine Grundsatzdebatte über die Abschaffung des heutigen Asylwesens mit seinen komplizierten Einzelfallprüfungen auf uns zu.»

Darauf muss sich die Schweiz vorbereiten. Es stehen Diskussionen bevor, die Anhängern eines liberalen Asylrechts und einer grosszügigen Auslegung der Menschenrechte zu schaffen machen. Zum Beispiel beim Grenzschutz, im Umgang mit Asylsuchenden aus kriegsversehrten Ländern oder bei der Auslagerung von Verfahren in Drittstaaten. Doch auch die Linke muss sich an dieser Debatte beteiligen. Sich darauf zu beschränken, die Probleme kleinzureden und vor den Parteien rechts der Mitte zu warnen, ist keine Erfolgsstrategie. Auch wenn man es bedauert: Die Themenschwerpunkte haben sich weg vom Klima und hin zur Migration verlagert.

Das Thema hat auch in der Schweiz das Potenzial, das gesellschaftliche Klima zu vergiften, Gewichte unter den Parteien zu verschieben und zentrale Politikfelder in Mitleidenschaft zu ziehen. Fehlt die Balance im Asylbereich, wird es beispielsweise bei der Weiterentwicklung der Beziehungen zur EU fast unmöglich, Mehrheiten zu beschaffen. Alleine dies zeigt, wie gross das Interesse des Bundesrates an einer Eindämmung der irregulären Migration sein muss.

Noch ist die SVP im Vorteil. Sie dominiert den Diskurs mit zwei asyl- und migrationskritischen Volksbegehren. Überlässt man ihr das Feld weiterhin, wird sie den Takt in den nächsten Jahren noch stärker vorgeben – so wie es die Rechtsparteien in anderen europäischen Ländern gerade vormachen.

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