Donnerstag, Dezember 26

In Deutschland gilt die SVP als Vorbild für die AfD. Doch kann man die beiden Parteien vergleichen? Bis zu einem gewissen Grad, sagt Damir Skenderovic, ein Experte für Rechtsparteien. Und: «Die SVP ist seit Jahren eine Exporteurin für rechtspopulistische Ikonografie.»

Die SVP wird in Deutschland immer wieder als Vorbild für die AfD herangezogen. Dasselbe gilt für die FPÖ in Österreich. Lassen sich die drei Parteien überhaupt vergleichen, ohne dass man auch ihre Geschichte und die unterschiedlichen politischen Systeme der Länder berücksichtigt?

Bis zu einem gewissen Grad, ja. Bei allen drei Parteien handelt es sich um rechtspopulistische Parteien. In der Geschichtsforschung spricht man von den klassischen Parteifamilien, von konservativen, liberalen, kommunistischen und sozialdemokratischen Gruppen. In den 1990er Jahren wurden diese Familien um die Rechtspopulisten erweitert. Natürlich haben sie je nach Land alle ihre Besonderheiten. Die FPÖ beispielsweise war lange Mitglied der Liberalen Internationalen. Ab 1986 unter dem Vorsitz von Jörg Haider wurde sie zu einer rechtspopulistischen Partei.

Die AfD ist eine junge Partei mit Kontakten zu Rechtsextremen, die FPÖ wurde nach dem Krieg von Alt-Nazis gegründet, die SVP wiederum hat politisch ziemlich diverse Wurzeln und steht seit Jahrzehnten in der Regierungsverantwortung.

Das politische Konkordanzsystem der Schweiz zielt seit 1945 darauf ab, möglichst viele Wählerinnen und Wähler zu integrieren. Deshalb ist die SVP seit längerem Teil unseres Regierungssystems. Allerdings hat sich die SVP von einer bäuerlich-konservativen Partei zu einer rechtspopulistischen Partei entwickelt. Man kann das zeitlich ziemlich gut verorten. Das war zur Zeit der EWR-Abstimmung, 1991/92. Damals lancierte die SVP auch ihre erste eidgenössische Volksinitiative «gegen die illegale Einwanderung».

Wie definieren Sie Rechtspopulismus?

Definitionskriterien für Rechtspopulismus sind primär die Anti-Eliten-Haltung, eine nationalistische und fremdenfeindliche Politik und die Ausgrenzung von Minderheiten.

Laut der Politikwissenschafterin Pippa Norris, die 2017 in einer vielbeachteten Studie 268 Parteien aus 31 europäischen Ländern untersucht hat, ist die SVP allerdings keine rechtspopulistische Partei, sondern eine rechtskonservative Partei mit rechtspopulistischem Vokabular.

Wenn es um konservative Werte, Nationalismus, Nativismus und Immigration geht, spricht Pippa Norris aber von Populismus und stellt die SVP in die Nähe von Parteien wie der spanischen VOX, der polnischen PiS und der deutschen AfD.

Norris sagt, was die SVP von jüngeren Rechtsparteien unterscheide, sei die Tatsache, dass sie Volksentscheide und die Institutionen respektiere.

Diese beiden Kriterien sprechen nicht gegen Populismus. Nehmen Sie die FPÖ oder die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni. Rechtspopulistische Parteien sind durchaus in den Institutionen integriert. Meistens handelt es sich nicht um Parteien, die sich gegen demokratische etablierte Instanzen zur Wehr setzen. Sie nutzen sie.

Rechtspopulistische Parteien sind also nicht tendenziell antidemokratisch?

Demokratie ist immer mehr als nur ihre Institutionen. Es geht um Werte wie Pluralismus, Gleichbehandlung, Inklusion. Aber wenn es um die rein institutionelle Perspektive geht, sind rechtspopulistische Parteien nicht unbedingt antidemokratisch. Sie nutzen die vorhandenen demokratischen Mittel und Institutionen für ihre Politik. Dasselbe gilt für die Akzeptanz von Volksentscheiden. Der Ruf nach einem Volksentscheid ist die klassische Forderung jeder populistischen Partei.

Das gilt in der Schweiz auch für alle anderen Parteien.

In der Schweiz ist die direkte Demokratie seit Ende des 19. Jahrhunderts Teil des politischen Systems und prägt die politische Kultur entscheidend. In den meisten anderen europäischen Ländern ist das nicht der Fall. Doch seit den 1990er Jahren gibt es eine Hauptforderung rechtspopulistischer Parteien nach mehr demokratischer Demokratie. Wieso? Weil hier der Volkswille ungefiltert, direkt und nicht parlamentarisch repräsentiert zum Ausdruck kommt. Weil damit plebiszitäre Legitimität eingefordert werden kann.

In der öffentlichen Debatte wird Rechtspopulismus allerdings zunehmend mit Rechtsextremismus gleichgesetzt. Zu Recht?

Betrachten wir die Gemeinsamkeiten. Hier kann man feststellen, dass es sowohl beim Rechtspopulismus als auch beim Rechtsextremismus um eine Weltanschauung der Ungleichheit geht. Das gesellschaftliche Weltbild basiert auf der Überzeugung, dass nicht alle Menschen gleich sind. Die Vorstellung naturbedingter Ungleichwertigkeit dient als Legitimierung von Ausgrenzung und Diskriminierung.

Konkret: Wann wird Rechtspopulismus rechtsextrem?

Nehmen wir den Begriff Remigration: Mit dem Wort hat der österreichische Rechtsextreme Martin Sellner eine Begriffskreation der Neuen Rechten aufgenommen. Es handelt sich dabei um eine strategische Finte, einen Begriff, der harmlos und unverdächtig daherkommt, aber einen verachtungswürdigen, historisch unerhörten Bedeutungsinhalt hat: Es geht um willkürliche Deportation, Ausschaffung und Wegweisung von Menschen. Ein Beispiel, wie die extreme Rechte ihre Ideen und Deutungen über bestimmte Begriffe und Semantik in die Mitte der Gesellschaft zu bringen versucht.

In der SVP spricht man zwar von «Asylschmarotzern», aber höchstens Randfiguren reden von «Remigration». Die Partei hat sich immer von Rechtsextremismus distanziert.

Wenn in der SVP jemand nationalsozialistisches Gedankengut äussert oder die Shoah relativiert, distanziert sich die Partei immer sehr schnell. Gleichzeitig pflegen einzelne SVP-Exponenten seit Jahren regelmässig Kontakte zu rechtsextremen Kreisen.

Die SVP pflegt weder Kontakte zu ausländischen Parteien noch zu rechtsextremen Parteien oder identitären Gruppierungen.

Das nicht, aber es kommt immer wieder zu punktuellen Verbindungen. Andreas Glarner war Mitglied der rechtsextremen Bürgerbewegung Pro Köln, und in Winterthur hat die SVP-Nationalratskandidatin Maria Wegelin die Medienarbeit an Mitglieder der Jungen Tat delegiert. Es gibt eine Geschichte solcher Beziehungen. Was es aber nicht gibt, ist eine Aufarbeitung.

Wie sollte denn eine solche Aufarbeitung aussehen?

Die Schweiz tut sich generell schwer damit, die eigene Geschichte des Rechtsextremismus zur Kenntnis zu nehmen. Viele denken, Rechtsextremismus sei nur an den äussersten Rändern vorhanden und jemanden als «rechtsextrem» zu bezeichnen, sei schlicht diffamierend. Aber die Geschichte zeigt, dass die rechtsextreme Ideologie der Ungleichheit auch in der Schweiz verbreitet ist. Wir sollten uns dieser Tatsache stellen.

Anfang der 1990er Jahre gab es in der Schweiz eine hohe Anzahl rechtsextremer Gewalttaten. Da entstanden Gruppierungen, die Brandanschläge auf Asylunterkünfte verübten. In Chur starben vier Tamilen bei einem Brandanschlag, unter ihnen zwei Kinder. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl gab es in der Schweiz mehr Morde von Rechtsextremen als in Deutschland. Doch während in Deutschland letztes Jahr auch Ministerpräsidenten an den 30. Jahrestag des Brandanschlags in Solingen erinnerten, verdrängt man diese Geschehnisse in der Schweiz.

Sie werfen der Schweiz gerade kollektive Verdrängung vor.

In der Schweiz ist die Idee eines Sonderfalls stark verankert. Man tut so, als habe das Land kein Problem mit Rechtsextremismus. Dies sei in anderen Ländern der Fall. Man spricht von einer Exterritorialisierung des Rechtsextremismus. Deshalb setzen sich die Öffentlichkeit und die Politik immer nur punktuell damit auseinander. Kommt ein Fall in die Medien, ist die Aufregung jeweils gross. Kurz danach wird dann von einem Einzelfall gesprochen, und der Vorfall wird wieder vergessen. Dabei hat auch die Schweiz eine Geschichte des Rechtsextremismus.

Mittlerweile wird fast jeden Samstag irgendwo «gegen rechts» demonstriert, und laut dem Bezirksgerichts Bremgarten ist Nationalrat Andreas Glarner ein «Gaga-Rechtsextremist». Werden da nicht alle Rechten gleich zu Nazis?

Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Aber es braucht vielleicht mehr begriffliche und definitorische Klarheit. Dies kann auch mit einem Blick in die Geschichte wie auch über die Landesgrenzen hinweg erreicht werden. Im Fall Glarner zeigt sich, dass die Diskussion dazu lange ausgeblieben ist und man wenig aus der Forschung oder aus Beispielen von ausserhalb der Schweiz gelernt hat. Auch gibt es in der Schweiz kaum eine grundsätzliche Debatte, wie man mit der grössten Partei umgeht, die Teil der rechtspopulistischen Parteienfamilie in Europa ist.

Was schlagen Sie vor?

Dass man mit dieser Verdrängung aufhört, dass man sich mit der Geschichte dieser Parteien befasst. Die SVP ist seit Jahren eine Exporteurin für rechtspopulistische Ikonografie. Ihre Plakatkampagnen und -sujets haben rechte Parteien in ganz Europa beeinflusst. Wieso steht die Partei nicht dazu, dass sie ein Teil dieser rechtspopulistischen Parteienlandschaft ist? Denn wenn sie sich das einmal eingestanden hat, kann sie auch damit anfangen, sich zu fragen, was das denn konkret bedeutet. Man sollte nicht vergessen, dass eine lange Tradition des Rechtspopulismus in der Schweiz besteht.

Sie denken an die Schwarzenbach-Initiative?

Die Nationale Aktion gehörte zu den ersten rechtspopulistischen Parteien in Europa, und James Schwarzenbach war eine der ersten rechtspopulistischen Figuren im Nachkriegseuropa.

Kenner der politischen Rechten

Damir Skenderovic, Historiker

Damir Skenderovic ist ordentlicher Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der radikalen Rechten, historische Migrationsforschung,
68er Bewegung, Gegenkulturen, Inklusion und Exklusion.

Die Erkenntnis, dass die Schweiz die Wiege des Rechtspopulismus ist, passt schlecht zum immer noch verbreiteten Geschichtsbild der Igel-Schweiz.

Das ist in der Tat das Problem. Der Igel-Schweiz-Mythos zieht sich einfach immer weiter. Es gibt einen interessanten Artikel aus dem Jahr 1966: «Nationale Erneuerungsbewegungen in der Schweiz» der bekannten Schweizer Historiker und Politologen Peter Gilg und Erich Gruner. Der Text beginnt so: «Der Schweizer neigt von Natur nicht zum politischen Extremismus. Links- und rechtsextreme Bewegungen sind in der Schweiz stets nur vorübergehend und nicht in breiten Schichten wirksam geworden. So hat auch in der Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus der Rechtsextremismus in der schweizerischen Politik keine bestimmende Bedeutung gewinnen können.» Daran glauben wir heute noch.

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