Wie sich ein jüdischer Student angesichts der propalästinensischen Proteste fühlt.
Der jüdische Student Benjamin steht in der Eingangshalle im Hauptgebäude der ETH Zürich, wo Anfang Mai 60 bis 70 Personen demonstriert haben. Auf ihren Plakaten stand «From the River to the Sea» oder «No Tech for Genocide».
Es war nicht der erste Zwischenfall an der ETH. Vier Tage nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober, bei dem mehr als 1200 Israeli ermordet und 240 Personen als Geiseln entführt worden waren, riefen zwei marxistische Gruppierungen zu einer Kundgebung mit dem Namen «Intifada bis zum Sieg» auf.
Wer «Intifada bis zum Sieg» fordert, will keine friedliche Lösung. Wer von einem Genozid spricht, betreibt eine Täter-Opfer-Umkehr. Und wer «From the River to the Sea» skandiert, will Juden aus Israel vertreiben.
Für Benjamin sind solche Botschaften ein direkter Aufruf zu Gewalt an Juden. Und damit an ihm selbst. Er sagt: «Nach dem 7. Oktober hatte ich das Gefühl: Es gibt wieder Menschen, die mich umbringen wollen.»
Staat Israel als sicherer Hafen für Juden aus aller Welt
Benjamin studiert Naturwissenschaften an der ETH. Er will nicht, dass sein vollständiger Name in der Zeitung zu lesen ist. Grund sei die aktuelle Stimmung in der Schweiz.
In den letzten Wochen schwappten die Pro-Palästina-Proteste von Amerika auf die Schweiz über. Zuerst besetzten Demonstranten Räume an Universitäten in der Romandie, danach auch in der Deutschschweiz. Mittlerweile gehen die Universitätsleitungen gegen die illegalen Besetzungen vor, am Montag hat die Polizei eine Besetzung an der Universität Basel geräumt. Aber auf den Strassen und teilweise vor den Universitäten wird immer noch demonstriert.
Schon vor der Hamas-Attacke sei die Stimmung gegen Juden feindseliger geworden, sagt Benjamin. Ihm hätten bereits in der Kindheit Schüler «Heil Hitler» hinterhergerufen, als er mit der Kippa nach Hause gelaufen sei. Ein Freund seines Bruders sei im Ausgang zusammengeschlagen worden, weil er einen Davidstern getragen habe. Von solchen Erlebnissen könne jeder Schweizer Jude erzählen. Benjamin sagt aber auch: «Die Schweiz war für Juden immer ein sicherer Hafen. Jetzt läuft es völlig aus dem Ruder.»
Benjamin wohnt in Zürich. Hier wurde Anfang März ein orthodoxer Jude mitten in der Stadt mit einem Messer attackiert und beinahe getötet. Seither stehen vor den Synagogen Polizeiwachen. Darum lösen die Proteste an den Universitäten, bei denen antisemitische Parolen skandiert werden, bei ihm ein speziell ungutes Gefühl im Bauch aus. Er sagt: «Die ganze Entwicklung beginnt bei den Protesten und hört bei Morden auf.»
Benjamin ist überzeugt, dass die Aktivisten an den Universitäten mit Hamas sympathisieren. Und damit mit der Zerstörung Israels. Noch fühlt er sich relativ sicher in der Schweiz. Sollten sich aber die antisemitischen Vorfälle wie der Terrorangriff in Zürich häufen, wäre das nicht mehr der Fall.
Bis jetzt ist einzig ein Vorfall von Gewalt gegen jüdische Personen an einer Hochschule bekannt: An der Universität Genf kam es vor drei Wochen zu Rempeleien zwischen propalästinensischen Aktivisten und Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Genf, wie RTS berichtete. Doch Benjamin will nicht warten, bis so etwas in Zürich passiert. Er sagt: «Vielleicht muss ich irgendwann die Schweiz verlassen.»
Seine beste Freundin ist vor vier Jahren nach Israel ausgewandert. Die Geschichte habe die Juden gelehrt: «Wenn die Stimmung kippt, brauchen wir ein eigenes Land.» Deshalb fühlten sich Juden in der ganzen Welt bedroht, wenn Israel die Daseinsberechtigung abgesprochen werde.
Ein «normaler» Jude
Benjamin spaziert in Sportkleidung durch die Korridore der ETH. Er ist nicht erkennbar als Jude: Er trägt weder Kippa noch Davidsternkette. Einzig auf seiner Flasche lässt sich ein Hinweis finden. Dort steht in knalligen Farben auf einem Aufkleber: «Jewish Space Lasers».
Es ist eine Anspielung auf eine absurde Theorie aus den USA, gemäss der Juden Satelliten kontrollieren, die Laserstrahlen abfeuern und damit Wälder in Brand setzen. Benjamin versucht, dem Antisemitismus mit Humor zu begegnen.
Dass das nicht reicht, ist ihm klar. Darum engagiert er sich im Verein der Jüdischen Studenten Schweiz (SUJS). Dort organisiert er Shabbatons, an denen jüdische Studierende in verschiedenen Städten zusammen Sabbat feiern.
Doch jetzt dient der SUJS auch als Netzwerk, um an Informationen zu gelangen und sie zu teilen. Benjamin erzählt, wie sich die Studierenden gegenseitig Warnungen geben, wo gerade Proteste stattfinden. «Bis vor einem halben Jahr hätte niemand gedacht, dass so etwas nötig sein würde.»
«Dialog ist immer die Lösung»
Benjamin wuchs in Zürich in einer traditionellen jüdischen Familie auf. Hier besuchte er auch die jüdische Primarschule. Danach wollte er auf eine öffentliche Sekundarschule. Sein Vater war dagegen, doch er liess seinen Sohn gewähren.
Benjamin engagierte sich auch beim Projekt Likrat, das einen Austausch zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kindern und Jugendlichen ermöglicht. Gerade auf dem Land kämen viele Schweizer Schülerinnen und Schüler nie in Kontakt mit jüdischen Menschen.
Und so haben sie keine Ahnung von deren Lebensrealität. Benjamin erzählt, dass ein Kollege bei einer Likrat-Begegnung gefragt wurde, warum Juden keine Steuern bezahlen würden, obwohl sie das selbstverständlich tun. Er selbst wurde gefragt, warum Juden Palästinenser umbringen würden, als ob er Israeli wäre.
Benjamin ist Agnostiker. «Das hört mein Rabbiner wohl nicht gerne», sagt er und lacht. Trotzdem seien ihm das Judentum und dessen Traditionen wichtig. Er befolge die meisten Mitzwoth, die 613 jüdischen Vorschriften und Gebote. «Aber das Handy lege ich nicht weg am Sabbat», sagt er.
Zur Synagoge geht Benjamin regelmässig, zu dieser Gelegenheit zieht er auch die Kippa an. Er verfolgt die israelische Politik kritisch. Es verstört ihn, wenn Israels Präsident Benjamin Netanyahu die Parole «From the River to Sea» benutzt, um den Palästinensern die Daseinsberechtigung abzustreiten. Benjamin sagt: «Es gibt keine Form, diesen Slogan zu benutzen, die nicht problematisch wäre.»
Er würde sich wünschen, mit den Pro-Palästina-Aktivisten in einen Dialog zu treten. Dialog sei immer die beste Lösung. Aber die Aktivisten verweigern sich total. Auf mehrfache Anfrage dieser Zeitung lässt sich niemand für ein Streitgespräch finden. Benjamin hingegen ist bereit, sich zu exponieren, wenn auch nicht mit seinem vollen Namen.
Benjamins Wunsch ist es, dass die «Universitäten wieder ein Ort zum Lernen werden». Und der SUJS soll wieder ein Verein sein mit dem Zweck, gemeinsam Feste zu organisieren. Nicht, sich gegenseitig vor potenziellen Gefahren zu warnen.