Ein exklusiver Besuch bei den Infanterietruppen in der Ostschweiz.

«Ziele beobachten!», schreit der Gruppenführer zwischen zwei Maschinengewehrsalven in die Nacht. Es ist kurz vor 22 Uhr, doch für die Soldaten hat der strengste Teil des Tages gerade erst begonnen: Sie sollen das Gefechtsfeld am Fuss des Säntis gegen einen feindlichen Überfall verteidigen.

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Dazu haben sich mehrere Gruppen in einer breiten Front aufgestellt und das Feuer eröffnet. Mit ratternden Sturmgewehren geben sie die Schüsse ab. In der Dunkelheit zieht jede Kugel eine gleissende Linie hinter sich her. «Ziele weiterhin beobachten!» – doch der Rest der Anweisungen geht im Donner der Minenwerfer unter.

Die nächtliche Gefechtsübung am Säntis bildet den Höhepunkt des dreiwöchigen Wiederholungskurses (WK) des Gebirgsschützenbataillons 6. Im Jahr 1874 als Zürcher Einheit gegründet, ist es eine der traditionsreichsten Einheiten der Schweizer Armee.

Doch die Vergangenheit interessiert in diesen Tagen niemanden in der Truppe.

Zu reden geben vielmehr die heutigen Debatten um die Sicherheit Europas und die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz. Und sie geben auch das militärische Programm vor, wie ein zweitägiger Truppenbesuch im Toggenburg zeigt.

Ausgeschossen? Macht nichts

Der Wind trägt den scharfen Geruch von Schwarzpulver in die Landschaft. Die Minenwerfer feuern konstant ihre Beleuchtungswurfgranaten ab – und tauchen die Alpenlandschaft damit für einige Sekunden in feuerrotes Licht. Eine majestätische Szenerie.

Doch die Füsiliere haben keine Augen für diese gespenstische Schönheit: Nach einer knappen halben Stunde Dauerfeuer droht ihnen die Munition auszugehen. Ihr Gefecht verliert zusehends an Intensität.

Das Ziel der Infanteristen besteht eigentlich darin, den Feind durch ständigen Beschuss vom Vorpreschen abzuhalten. Lässt ihr Feuer – wie jetzt – nach, nutzt das der Feind für Gegenangriffe aus.

«Leichtes Maschinengewehr ausgeschossen!», ruft plötzlich einer der Soldaten mit heiserer Stimme. Mit seiner Waffe hat er pro Minute 800 Schüsse abgegeben. Nun, da keine weiteren Magazine mehr da sind, bleibt ihm nichts anderes übrig, als hinter einem Mäuerchen in Deckung zu gehen und sich auf den Rückzug vorzubereiten.

Eine erfahrenere Truppe wäre vielleicht haushälterischer mit ihrer Munition umgegangen. Eine besser ausgestattete Truppe hätte den Munitionsmangel mit mehr Nachschub überbrücken können. In beiden Fällen wären die Männer länger wehrhaft geblieben, als sie es am Dienstagabend sind.

Die Vorgesetzten sind trotzdem zufrieden. In dieser Nacht besteht der Gegner aus blechernen Figuren in der Felswand – und diese schiessen nicht zurück. Die Gebirgsschützen setzen ihre Nachtsichtgeräte auf und treten in gepanzerten Fahrzeugen den Rückzug zur Truppenunterkunft an.

Bis sie dort angekommen sind, die Gewehre geputzt, ein Stück Fleischkäse mit Brot und Senf verspeist, ein Feierabendbier getrunken, sich gewaschen und sich mit dem Schlafsack ins Bett gelegt haben, wird Mitternacht lange vorbei sein.

Und bis die allerletzten Gespräche über das eben Erlebte verstummen und im Schlafsaal das Schnarchen von 120 Männern beginnt, wird es noch länger dauern.

Motiviertere Soldaten als früher

Das Kommando über 140 der insgesamt 500 Gebirgsschützen hat der 33 Jahre alte Hauptmann Gordian Wüger. Er entstammt einer Familie von Gastronomen, im Berufsleben führt er ein Cateringunternehmen für Grossanlässe mit rund 400 Teilzeitangestellten.

Dass er im Militär trotz der anspruchsvollen beruflichen Karriere immer weitergemacht hat, habe mit seinem Idealbild einer Gesellschaft zu tun, sagt Wüger: «Das Schweizer Milizsystem funktioniert nur, wenn jeder seinen Teil macht. Viele sind in Vereinen oder in der Feuerwehr verpflichtet. Ich bin im Militär und leiste hier meinen Beitrag.»

Dass sein Beitrag zum Gemeinwohl wegen der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen stärker in den Fokus gerückt sei, ändere für ihn wenig: «Ich habe nie am Sinn der Armee gezweifelt. Sonst wäre ich Soldat geblieben und vor drei Jahren aus der Armee ausgetreten.»

Bei den Soldaten hingegen seien Zweifel bis vor kurzem verbreitet gewesen. Dies habe sich nun geändert: Durch die Videos und Berichte aus den Krisengebieten sei der Ernstfall näher gerückt. Die Soldaten hätten dadurch ein klareres Verständnis von dem, wozu sie im Militär ausgebildet werden. «Der Krieg ist in vielen Köpfen präsent», sagt Wüger.

Angst sei in seiner Kompanie bislang keine zu spüren. Die Motivation sei hingegen gestiegen. Heute stehe für die Soldaten potenziell mehr auf dem Spiel als noch in den neunziger und nuller Jahren, als die Schweiz ihre Rüstungsausgaben kontinuierlich senkte. Deshalb seien sie heute lernfreudiger und motivierter. «Das macht die Arbeit mit ihnen angenehm und effizient.»

Das sei erfreulich, reiche für den Ernstfall aber nicht aus.

Die Schweiz müsse mehr Geld und Zeit investieren, um die Truppen wirklich einsatzbereit zu machen. Mehr Übungen mit mehr Munition, Material und Fahrzeugen, das wäre aus Hauptmann Wügers Sicht besser, auch wenn es mehr kosten würde.

«Meiner Meinung nach hätte man darauf auch schon früher kommen können», sagt Wüger. Aber sei’s drum. Jetzt gehe es in die richtige Richtung.

Der Infozettel flog direkt in den Papierkorb

Am Mittwoch ist um 5.30 Uhr Tagwacht. Das Frühstücksbuffet hält Brot, Müsli und kalten Kakao bereit. Viele lassen die Mahlzeit jedoch sausen, um ein paar Minuten mehr Schlaf zu bekommen. Das Antrittsverlesen beginnt um 7 Uhr.

Vor der versammelten, streng geometrisch aufgereihten Truppe verkündet der Kommandant Wüger die Tagesordnung, wobei er auf Details eingeht, die ihm besonders wichtig sind. Zum Beispiel: Bei der Fahnenübergabe am Abend in Zürich will er eine Kompanie sehen, die geordnet auftritt und «eine Gattung» macht.

Weil am Abend auch gesungen werden soll, übt Wüger mit seinen Leuten ein letztes Mal den Schweizerpsalm. Rund 120 Soldaten heben in der kalten Morgenluft zum Singen an.

Unter den Tenören und Bässen erschallt auch die Stimme einer Frau: jene der Soldatin Luna Matthias.

Als sie mit 16 Jahren den ersten Zettel mit Informationen über die Armee bekommen habe, habe sie diesen direkt in den Papierkorb befördert, erzählt sie – und muss lachen. Dass sie heute, mit 24 Jahren, kurz vor dem Übertritt in die Unteroffiziersschule stehen würde, das hätte sie sich als Jugendliche wirklich nicht vorstellen können.

Doch dann kam die Corona-Pandemie – und Luna Matthias wurde nachdenklich. «Ich sah, wie wichtig es ist, dass Menschen sich für die Gemeinschaft engagieren. Und ich spürte, dass auch ich meinen Beitrag leisten möchte.»

Ein anderes Gefühl als noch in der RS

Eine Arbeitskollegin habe ihr von ihren Erfahrungen als Soldatin erzählt, sagt Matthias. Und irgendwann habe ihr Bauchgefühl gesagt: «Das könntest du doch auch.»

Nach der Pandemie liess sie sich als Infanteristin rekrutieren. Das sei nicht unbedingt die Truppengattung gewesen, zu der man ihr geraten habe. Die Infanterie gelte als körperlich anspruchsvoll und im Ernstfall äusserst gefährlich. Doch für sie habe es sich richtig angefühlt, als sie im Winter 2021 in die Rekrutenschule (RS) eingerückt sei.

Seither habe sie körperlich und mental «grosse Fortschritte» gemacht, sagt Matthias. Innerhalb der Truppe hat sie heute eine wichtige Funktion inne: Im Kommandopanzer nimmt sie Anweisungen von Hauptmann Wüger entgegen, empfängt und sendet Funksprüche und stellt die digitale Lageverfolgung für das Bataillonskommando sowie die anderen Einheiten sicher. Matthias sagt selbstbewusst: «Es ist eine Schnittstellenfunktion, das liegt mir.»

Auch ausserhalb der Armee beschäftigt sich Luna Matthias damit, wie grosse Körperschaften zusammenarbeiten: An der Universität St. Gallen macht sie derzeit ein Masterstudium in International Affairs and Governance. Mit den gegenwärtigen geopolitischen Verwerfungen kennt sie sich aus.

Seit Russland die Ukraine überfallen hat, habe sie im Militär ein anderes Gefühl als zu Zeiten ihrer RS, sagt sie: Damals sei es noch darum gegangen, wie man sich korrekt die Hände wasche, nun sei von Landesverteidigung die Rede.

«Das Framing hat sich geändert», sagt die Soldatin Matthias nüchtern.

Die Schweiz und ihre Nähe zum Militär

Diese Veränderungen, sie fallen vielen auf in der Truppe – und sie kommen bei Pausen auch immer wieder zur Sprache.

Nach dem Antrittsverlesen weiss jeder in Hauptmann Wügers Kompanie, was er zu tun hat: Ein Detachement von einem Dutzend Männern fährt nochmals in das Gelände, in dem am Vortag geschossen wurde. Ihr Auftrag: alle Patronenhülsen sowie andere Abfälle einsammeln und zurückbringen. Weitere Soldaten fahren derweil zu einem nahe gelegenen Schiessstand, um eine obligatorische Übung im 300-Meter-Schiessen zu absolvieren, die sie sonst in ihrer Freizeit hätten machen sollen.

Für alle anderen lautet die Anweisung: zuerst die Truppenunterkunft aufräumen, Schlafsäcke einrollen, persönliches Material zusammenraffen. Und dann: warten auf weitere Anweisungen.

Etliche Männer legen sich für ein Stündchen hin, die gestiefelten Füsse vom Bettrand baumelnd.

Der Soldat Jesse Grönroos hat kein Glück. Er muss zwar nicht beim Aufräumen helfen, aber ausruhen kann er sich auch nicht: Stattdessen hat er Wachtdienst. Er ist in Finnland aufgewachsen. Schon früh habe er deshalb ein Bewusstsein dafür entwickelt, wie fragil die Sicherheitslage in Europa ist: «Die Spannungen an der Grenze zwischen Finnland und Russland waren zu Hause und unter meinen Freunden immer ein Thema.»

2014 kam Grönroos mit seiner Mutter in die Schweiz. Die Einbürgerung beantragte er aber erst, als er für den finnischen Militärdienst aufgeboten wurde: «Dieser dauert 10 bis 12 Monate und wird kaum entlöhnt», erklärt er.

Dies und die explosive politische Lage waren nichts, was sich der gelernte Verfahrensmechaniker antun wollte. Er habe sich gesagt: lieber Schweizer werden und hier die Rekrutenschule machen als für ein Jahr nach Finnland ziehen – und dann womöglich in einen Krieg hineingeraten.

Im Oktober 2023 wurde er Schweizer Bürger, wenige Wochen später rekrutiert. Im Januar 2024 rückte er schliesslich in die Rekrutenschule ein. «Das Aufgebot landete nur wenige Wochen nach dem Pass in meinem Briefkasten. Als hätte man mir sagen wollen: Die Schweiz und ihr Militär gehören zusammen.»

Während er die Truppenunterkunft und die militärischen Fahrzeuge auf dem Parkplatz bewacht, trägt Grönroos eine Splitterschutzweste über dem Tarnanzug – und natürlich das Sturmgewehr mit der Munition. Die Morgensonne treibt ihm den Schweiss auf die Stirn.

Manchmal müsse er heute noch an Finnland und an den möglichen Krieg denken, sagt der Soldat Grönroos. Dann sei er froh, dass er im Schweizer WK nur auf statische Ziele schiessen muss und nicht auf Menschen. Wenn es aber wirklich sein müsste? «Dann wäre ich bereit, in den Krieg zu gehen und meinen Dienst zu leisten.»

Er sagt es, und man sieht ihm an, dass er es ernst meint.

Dann lässt Grönroos nach seiner Wachablösung schicken, die sich wohl irgendwo in der Unterkunft herumdrückt und sich deshalb verspätet.

Warten, hetzen, warten, hetzen

Es ist einer dieser Vormittage, wie sie die Soldaten nur allzu gut aus vergangenen WK kennen: Erst muss eine Sache sofort erledigt werden. Dann gibt es lange nichts zu tun. Und dann bricht auf einmal wieder Hektik aus.

Nach dem Mittagessen fahren die Soldaten im Mannschaftswagen nach Dübendorf, von dort geht es im Zug nach Zürich. Dort treffen alle Kompanien des Gebirgsschützenbataillons 6 zusammen, um ihre Fahne an Divisionär Willy Brülisauer zu übergeben, der für den Kanton Zürich und die gesamte Ostschweiz zuständig ist.

Als heimlicher Höhepunkt der Zeremonie auf dem Münsterhof wird bei den Soldaten aber nicht die Fahnenübergabe gehandelt, sondern der Abschied eines Mannes, der in der Truppe ein besonders hohes Ansehen geniesst: der Feldprediger Hauptmann Kurt Liengme.

Liengme rückt 1980 in die Rekrutenschule ein. Im Nahen Osten bricht in jenem Jahr der Erste Golfkrieg aus. In der Schweiz ist die Infanterie noch mit Pferden unterwegs. Und die Sonntagsuniformen der Soldaten sind aus grober Wolle.

Am Mittwoch, genau 45 Jahre später, hat Liengme seinen letzten Diensttag.

Der Prediger muss sich selbst Hoffnung machen

Abgesehen von der Technik habe sich in seiner Zeit beim Militär aber wenig verändert. Zuerst sei der Anteil der Muslime gestiegen, und seit einigen Jahren würden auch die Frauen mehr. Dank den Frauen hätte sich der Umgangston in der Truppe verbessert. Das schon.

Aber die Probleme, mit denen die jungen Leute zu ihm gekommen seien, seien die gleichen.

Meist gehe es da um private oder berufliche Krisen, seltener um militärische Themen. «Wenn man jung ist, denkt man vielleicht, es gehe immer nur aufwärts im Leben. Aber dann hat man zum ersten Mal Liebeskummer oder kommt bei der Arbeit nicht voran», sagt Liengme.

In solchen Gesprächen versuche er seinem Gegenüber klarzumachen, dass es auch aus den schwierigsten Situationen einen Ausweg gibt. «Ich will nicht schwarzmalen. Ich möchte Hoffnung schenken. Das ist mir das Wichtigste.»

Vor allem in den letzten 10 oder 15 Jahren habe er einen sehr positiven Eindruck von den jungen Menschen gewonnen: Sie kämen miteinander aus und schauten aufeinander. Die Vorurteile, die gelegentlich durch die Medien gingen, die könne er allesamt nicht bestätigen. Im Gegenteil: Er sei immer gern mit den jungen Leuten zusammen gewesen. «Das hat auch mich jung gehalten.»

Die akzentuierte Bedrohungslage sei in seinen Gesprächen als Armeeseelsorger immer wieder ein Thema. Doch die meisten könnten das gut verkraften. Derjenige, der heute mit mehr Angst durch das Leben gehe als je zuvor, das sei er selbst, sagt Kurt Liengme. «Was man aus der Ukraine und Gaza hört, das macht mir Angst. Das ist so.»

Heute muss sich der Theologe auch selbst Hoffnung machen.

Neugierige Blicke der Bevölkerung

In Zürich hat das 500 Mann starke Gebirgsschützenbataillon 6 einen kurzen Fussmarsch vor sich: vom Bahnhof Stadelhofen bis zum Münsterhof in der Altstadt.

In dieser Stadt, in der die Einheit ihre Ursprünge hat, wirken die Soldaten wie Fremdkörper: Das Grün ihrer Uniformen steht in grellem Kontrast zu den Farben der Limmat, der Autos und der Menschen auf den Velos. Statt die Männer unsichtbar zu machen, ziehen ihre Kampfanzüge die Blicke der Stadtbevölkerung auf sich.

Als ein Leutnant am Bellevue den Verkehr anhält, damit sich die Truppe trotz Rotlicht geschlossen auf ihr Ziel zubewegen kann, wird sogar gehupt. Einmal sagt eine Passantin zu sich selbst: «Was ist denn hier los?»

Während die Soldaten den Ernstfall wieder klarer vor Augen zu haben scheinen, muss sich die Bevölkerung wohl erst wieder an die Gegenwart der Armee gewöhnen.

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