Montag, Oktober 7

Die Bewegung Kompass lehnt eine neue bilaterale Übereinkunft mit der EU ab. Ihr missfällt unter anderem, dass diese zu bürokratisch sei. Schweizer Firmen können sich vielen EU-Gesetzen nur schwer entziehen.

Die EU, das «Bürokratiemonster» – dieses Image klebt am Staatenbund. Zwei Jahrzehnte Überregulierung herrschten nun schon in der EU, sagte Alfred Gantner, Finanzunternehmer und Mitgründer der Organisation Kompass, vor einer Woche. Wirtschaftlich würden dem Staatenbund daher «die Felle davonschwimmen».

Kompass hat deshalb eine Volksinitiative lanciert. Die Organisation will verhindern, dass die Schweiz mit der EU ein neues institutionelles Abkommen schliesst. Den Kompass-Promotoren missfällt unter anderem die dynamische Übernahme von EU-Recht, die Teil der neuen Übereinkunft sein soll. Das Bürokratiemonster EU verschlinge so gleichsam die vergleichsweise liberal gesinnte Schweiz, lautet die Furcht der Initianten.

Europas Unternehmer klagen

Kompass trifft damit einen wunden Punkt des Staatenbundes. Zwar klagen europäische Unternehmen und Wirtschaftsverbände seit einiger Zeit, dass die Regulierung in der EU ein Übermass angenommen habe. Jüngst hat sich der Ton dieser Beschwerden jedoch stark verschärft.

«Die EU ist der Haupttreiber von Bürokratie und hat Mass sowie Mitte verloren», sagt etwa Moritz Hundhausen, der Leiter Europäische Politik bei der Stiftung Familienunternehmen und Politik, in Brüssel. Hauptleidtragende davon seien die europäischen Unternehmen. «Anstatt den Rahmen vorzugeben, verliert sich die EU in kleinteiliger Regulierung.» Diese sei kaum mehr zu bewältigen, findet ein Mitarbeiter von Business Europe, dem Verband europäischer Unternehmen in Brüssel.

Selbst eine Respektsperson wie der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi hat der EU ins Gewissen geredet. Der Staatenbund müsse mit weniger Regeln und Gesetzen auskommen, und diese sollten einfacher, kohärenter und alltagstauglicher werden, schrieb er in einem vor drei Wochen publizierten Bericht, den die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bestellt hatte.

Allerdings hat ausgerechnet die Kommission unter von der Leyen den Firmen seit 2019 viele regulatorische Lasten aufgebürdet. Ob Lieferkettengesetz, Entwaldungsverordnung oder Nachhaltigkeitsberichterstattung – all diese Vorschriften haben den Firmen neue Berichtspflichten auferlegt, die laut Wirtschaftsvertretern zudem oft doppelt und dreifach anfallen.

Um sie zu erledigen, müssen die Unternehmen nun qualifizierte Fachkräfte anstellen, die nichts zum Output beitragen, aber Kosten verursachen. Die Aufwendungen seien zudem, so sagen Firmenvertreter, viel höher als von der EU in sogenannten Regulierungsfolgenabschätzungen prognostiziert.

Die Bürokratisierung gehört zum System

Bei der Kommission und den Mitgliedsländern sind die Klagen der Wirtschaft mittlerweile aber angekommen, die Frage ist nun, ob eine Trendumkehr politisch möglich ist. Beispielsweise hat von der Leyen allen Kommissaren den Auftrag erteilt, die administrative Belastung für Unternehmen zu mindern. Weniger Bürokratie und Berichterstattung, dafür mehr Vertrauen – das verlangt die Kommissionspräsidentin in «Europe’s Choice», ihren politischen Leitlinien 2024 bis 2029.

Seit 2022 gilt in der EU sogar das Prinzip «One in – one out». Das versteht die EU wie folgt: Jede zusätzliche Regulierung soll mit einer Entlastung in ähnlichem Ausmass kompensiert werden. Und von der Leyen hat auch angekündigt, die Berichtspflichten um 25 Prozent zu reduzieren.

Besänftigt haben solche Aktionen die Unternehmen und Verbände jedoch nicht. «Im Grunde ist nichts passiert», sagt Hundhausen von der Stiftung Familienunternehmen.

Von der Leyen und die Kommission sind daran aber nicht allein schuld. Verantwortlich sind auch die Mitgliedsländer und die Parlamentarier. Zu oft können diese der Versuchung nicht widerstehen, die Gesetze, Richtlinien und Verordnungen nach ihren politischen Vorstellungen aufzublasen.

So verfolgen die Mitgliedsländer gerne eine Schattenagenda. Regierungen tun so, als liege ihnen der Umweltschutz am Herzen, und damit rechtfertigen sie neue Vorschriften. Tatsächlich geht es ihnen aber darum, Konkurrenten vom europäischen Markt auszuschliessen und heimische Firmen in eine vorteilhafte Position zu bringen.

Richtig verworren wird es, wenn das EU-Parlament ins Spiel kommt. Das hängt mit dem Selbstverständnis der Abgeordneten zusammen. Kein Sozialdemokrat kann es sich zum Beispiel leisten, in einem Ausschuss mitzuarbeiten, ohne dort «eigene» Anliegen einzubringen. Dasselbe lässt sich von den grünen, den christlichdemokratischen und den übrigen Abgeordneten sagen.

So ufert die Gesetzgebung aus – wie allerdings auch in der Schweiz, wo die Wirtschaft ebenfalls oft die Überregulierung beklagt. In der EU ist das Problem aber wohl gravierender, weil bei der Gesetzgebung viel mehr Akteure mitmischen.

Doch selbst wenn die Schweiz, wie von Kompass angestrebt, zum «Bürokratiemonster» auf Distanz gehen sollte – sie wird sich ihm nie entziehen können. So gilt das heftig diskutierte Lieferkettengesetz der EU zum Beispiel nicht nur für Firmen mit Hauptsitz im Staatenbund, sondern auch für solche aus Drittstaaten, sofern sie in der EU einen Jahresumsatz von mehr als 450 Millionen Euro erzielen.

Damit trifft das Gesetz zwar nur Grossunternehmen. Sie müssen bezüglich Menschenrechten und Umweltschutz Sorgfaltspflichten erfüllen. Aber auch Kleinfirmen können sich in vielen Bereichen nicht um die Regulierung der EU foutieren, wenn sie dorthin exportieren wollen. Und viele tun das, weil der Markt so gross und die Schweizer Wirtschaft mit ihm auf vielfältige Weise verknüpft ist.

Die wirtschaftliche Verflechtung der Schweiz mit den USA und China hat in den vergangenen Jahren zwar zugenommen, doch die EU wird noch lange der mit Abstand wichtigste Handelspartner des Landes sein. 59 Prozent ihres Warenaustausches wickelt die Schweiz mit ihr ab.

Die Schweiz wird sich immer nach der EU richten

Deshalb werden sich Bundesrat und Parlament bei der Gesetzgebung weiterhin nach dem Staatenbund richten müssen, ob die sogenannten Bilateralen III kommen oder die Bevölkerung diese in einer Abstimmung ablehnt. Auf eine Angleichung des Rechts haben zudem stets auch die Branchenverbände gedrängt.

Gantner von Kompass sagt, dass man bei den Bilateralen III nicht wisse, was man mittelfristig gesetzlich «einkaufe». Wohin die EU regulatorisch steuert, ist tatsächlich offen. Vielleicht vertieft die EU den Binnenmarkt, was auch Schweizer Firmen neue Chancen eröffnete, vielleicht wird sie aber auch protektionistischer, was für die Handelspartner der EU eine unheilvolle Entwicklung wäre.

Aber einfach blind, wie Kompass behauptet, muss die Schweiz EU-Recht nicht übernehmen. In den fünf bestehenden bilateralen Abkommen, etwa zum Landverkehr oder zur Personenfreizügigkeit, billigt die EU dem Land immerhin Ausnahmen zu: So ist es der Schweiz erlaubt, das Daueraufenthaltsrecht nur Erwerbstätigen zuzugestehen. Und die Schweiz kann ein Schiedsgericht anrufen, wenn mit der EU Uneinigkeit über die Interpretation des bilateralen Vertrages besteht.

Die Schweiz wird mit dem angeblichen Bürokratiemonster wohl oder übel leben müssen – europäische Branchenvertreter versuchen derzeit aber, es wenigstens etwas zu zähmen.

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