Mittwoch, Januar 15

Das Vertrauen in die Eliten erodiert. Die Kultur, die alles zusammenhält, ist bedroht.

In diesem Land herrscht die Ordnung der mündlichen Abmachung. Man bändigt sich selbst, um nicht von anderen gebändigt zu werden. Die Freiheit manifestiert sich in den Regulatorien, die es gar nicht erst braucht. Die Schweiz ist auf eine «Kultur des gegenseitigen Vertrauens» gebaut, wie es der Meinungsforscher Michael Hermann einmal formuliert hat. Wer sich kennt und vertraut, wird sich nicht gegenseitig ausnutzen. Es würde sofort auffallen – weil man sich hier nicht zwei Mal im Leben, sondern zwei Mal im Monat begegnet. Die gesellschaftliche Balance ist im Milizprinzip verankert: Der Bürger ist auch Verwaltungsrat ist auch Konsument ist auch Gewerkschafter ist auch Politiker ist auch Bürger . . . Aber in diesen Wochen deutet vieles darauf hin, dass diese Vertrauenskultur bedroht ist.

Im März stimmt die Schweiz über eine 13. AHV-Rente ab, die noch vor einiger Zeit routiniert abgelehnt worden wäre. Die vereinigte Linke hätte einen Achtungserfolg erzielt, weil auch die Arbeiterschicht, die längst SVP wählt, wieder einmal mit ihr gestimmt hätte. Aber am Abstimmungssonntag hätten bürgerliche Anzugträger vor den Mikrofonen den Sonderfall Schweiz erklärt: Der Bürger sei eben auch Verwaltungsrat sei eben auch . . .

Vielleicht geht es am Ende doch noch knapp so aus, wie es immer ausgegangen ist. Aber die Initiative über eine 13. AHV-Rente geniesst unabhängig davon eine ungewohnt breite Unterstützung in der Bevölkerung. Das zeigen Umfragen. Erstmals könnte eine gewerkschaftliche Initiative angenommen werden, die den Sozialstaat ausbauen will. Interessant sind dabei vor allem jene Leute, die nicht natürlicherweise mit den Gewerkschaften stimmen. Was ist ihr Argument? Ein eigensinniger Protest gegen die beschriebene Vertrauenskultur: «Der Bundesrat hat für alles Geld, also ist auch genug Geld für mich da.» Offenbar gibt es einen verbreiteten Unmut darüber, wie das Geld in diesem Staat verteilt wird. Mit Kritik am undisziplinierten Wahlvolk und mit ein paar alt Bundesräten in «ernster Besorgnis» werden die weissen Ritter der Eigenverantwortung nicht weiterkommen.

An der Albisgütli-Tagung der SVP erklärte Christoph Blocher seinen Leuten, man könne nicht überallhin Geld verteilen – die Initiative der Gewerkschaften sei abzulehnen. Später sagte ein älterer Mann im Publikum, Bundesrat Cassis sei doch gerade in Davos herumstolziert mit sechs Milliarden Franken für die Ukraine. Und da soll eine höhere Rente für ihn ein Skandal sein? Die FDP lehnt die dreizehnte Rente ab, «weil sie die AHV finanziell an die Wand fährt». Aber ein verdienter Freisinniger, inzwischen pensioniert, sagt: «Wir müssen nicht argumentieren. Jetzt muss ich einfach für mich schauen.» Er hat das Gemeinwesen ein Leben lang mitgetragen und -finanziert, jetzt verlässt er es durch den Self-Check-out. Und er ist nicht der Einzige.

Der Staat Schweiz: ein aus der Balance geratener Selbstbedienungsladen?

Unsere Eliten – es ist einfach so

Der Protest ist diffus, aber weit verbreitet. Es regiert das Gefühl, dass etwas nicht mehr aufgeht – dass andere mehr profitieren vom System als man selbst. Das Vertrauen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und seinen Eliten erodiert.

Nicht ausgeschlossen, dass sich die Entwicklungen im Extremfall auch in den polizeilichen Statistiken zeigen. In den Corona-Jahren organisierte der frühere Landi-Geschäftsführer Ueli Maurer – gewöhnt an die übermächtige soziale Kontrolle, die im dörflichen Leben vorherrscht – unbürokratische Covid-19-Überbrückungskredite. Das Vertrauen wurde massenhaft ausgenützt. Ende Januar waren schweizweit noch immer mehr als 2400 Missbrauchsfälle pendent, es geht um 286 Millionen Franken. Weitere 1000 Missbrauchsfälle sind bereits erledigt. Die Statistiken zu Ladendiebstählen und Schwarzfahren im öffentlichen Verkehr – zwei weitere Frühwarnsysteme einer schwindenden Vertrauenskultur – zeigen Rekordwerte an. Es macht sich stattdessen eine Kultur des Profitierens breit.

Zu sehen ist das grosse Ganze oft im kleinen Anekdotischen. In diesem Winter kam heraus, dass sich die Bundesrätinnen und Bundesräte einen Gratis-Skipass gönnen, auch wenn sie gleichzeitig angesichts der schwierigen finanziellen Lage des Bundes eindringlich zum Sparen aufriefen. Der SVP-Nationalrat Mike Egger sprach zu Recht von einer «Selbstbedienungsmentalität». In der Politik ist der Verzicht anscheinend abgeschafft. Immer neue Anspruchsgruppen verlangen immer neues Bundesgeld. Angeblich wollen alle sparen – bei anderen, die wiederum auch nur bei anderen sparen wollen. Die Kritik an den Gratis-Skipässen beeindruckte den Bundesrat nicht. Die Bundeskanzlei liess auf eine Anfrage von «Blick» mitteilen: «Es ist nicht vorgesehen, dass [der Bundesrat] nochmals über die Bücher geht.» Anders gesagt: Es ist einfach so.

Vertrauen baut auf gegenseitiger Verständigung auf – in der politischen Schweiz ist die ewige Vernehmlassung sogar institutionalisiert. Eine Regierung, die sich in kritischen Momenten hinter ihre kommunikativen Fassadenreiniger zurückzieht, muss sich nicht darüber wundern, wenn sie mit ihren düsteren Prognosen zur AHV nicht mehr durchdringt. Ein Ja zu einer 13. AHV-Rente würde sich aber nicht nur gegen die politische Elite richten, die das Wahlvolk von einem Nein zu überzeugen versucht, sondern auch gegen die wirtschaftliche Elite, die das Gleiche versucht.

Nachdem die Credit Suisse, die Bank der Zürcher Elite, vom Staat hatte gerettet werden müssen, liessen sich die Zürcher Eliten am Sechseläutenumzug, wie immer, Blumen aus dem Publikum überreichen. Der Staat sprach Garantien über mehr als hundert Milliarden Franken. Aber das Führungspersonal hatte sich kurz vor Ladenschluss noch Millionensaläre ausbezahlt. Beim langjährigen Verwaltungsratspräsidenten und Zünfter Urs Rohner zeigten sich noch letzte Zuckungen des alten Systems Schweiz: Er konnte zwar die Millionen behalten, aber er wurde mit sozialer Härte bestraft. In seiner Zunft beschied man ihm, zum Sechseläuten sei er nicht mehr erwünscht. Die ausländischen Manager hatten ihr Geld längst in Sicherheit gebracht – und einen neuen Job an einem neuen Ort. Alle hatten sie nie das Gefühl, dass sie der Öffentlichkeit eine Art von Rechtfertigung schuldig sind.

Das Vertrauen der Schweiz in die Wirtschaft sinkt

Durchschnittliche Haltung der Befragten zur Wirtschaftsfreiheit (1 = mehr staatliche Kontrolle, 6 = mehr Wettbewerb)

Solche Eliten haben ihre politische Autorität verspielt. Das Land atomisiert und internationalisiert sich. Wer kennt noch die Topmanager im Land? Sie lassen sich in der «Arena» und in der Wandelhalle vertreten von den Funktionären der Wirtschaftsverbände. Als der CEO von Novartis sich in diesem Jahr den Lohn verdoppelte, kam er gar nicht mehr zur Bilanzpressekonferenz. Anders gesagt: Es ist einfach so. Verantwortung und Vertrauen lösen sich auf in der Businessclass, irgendwo über den Wolken.

Die Ansprüche steigen

Die helvetische Vertrauenskultur funktioniert nur, wenn das Vertrauen nicht maximal zu den eigenen Gunsten ausgenutzt wird – wenn es eine Übereinkunft darüber gibt, dass ein Land kein Selbstbedienungsladen ist. Aber das scheint auf vielen Ebenen nicht mehr gegeben:

Beim Bund geht das Bewusstsein dafür verloren, dass die Löhne und die Stellenzahl in der Verwaltung nicht wie per Naturgesetz steigen müssen. Gewerblerinnen kommen nicht auf die Idee, dass sie ein paar schlechtere Monate ausgleichen könnten, ohne Ansprüche an den Staat anzumelden. Das Geld ist für andere doch auch da? Unternehmer denken eher an den billigeren Arbeiter aus dem Ausland als an die teurere Arbeiterin, für die sonst ja der Staat aufkommen kann. Arbeitgeber und Gewerkschaften erreichen kaum noch Kompromisse bei Gesamtarbeitsverträgen – bis die Bevölkerung am Ende gesetzlichen Mindestlöhnen zustimmt. Und Herr und Frau Normalbürger optimieren ihre Krankenkasse so, dass sie im Vergleich zu anderen möglichst viel profitieren. Bei den Krankenkassen zeigen sich die verheerenden Konsequenzen einer gesellschaftlichen Misstrauenskultur: Wenn ich jedes Jahr immer noch höhere Prämien bezahle, will ich im entscheidenden Moment meine Prämien wieder herausholen – was wiederum zu höheren Prämien führt.

Fragen der sozialen Sicherheit sind gute Indikatoren dafür, wie es um das Vertrauen in einer Gesellschaft steht. Die entsprechenden Institutionen basieren auf der Übereinkunft, dass einem geholfen wird, wenn man Hilfe braucht – dass einem aber nicht geholfen wird, wenn man sich selbst helfen kann. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich die gesellschaftlichen Bruchlinien unserer Zeit bei dieser Abstimmung über eine 13. AHV-Rente zeigen.

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