Physik, Geld und eine Mission: Die mächtigen Aegerters kämpfen seit Jahrzehnten für die Kernenergie. Jetzt wollen sie das Bauverbot für AKW mit einer Initiative kippen. Ein Familienporträt
Hoch über dem Zürichsee, an bester Lage in Wollerau, schlägt das Herz der Schweizer Atomkraft. Viel Stein, Aluminium und Immergrün. Von aussen erinnert das Haus an eine Festung, von innen kann man wie auf einer Kommandobrücke das Land überblicken, in dem die Aegerters vor allem eines wollen: AKW-Kuppeln und Minireaktoren, die aussehen wie Lego-Klötzchen.
«Äs Kafi?», fragt sie, 83, während ihr Mann, 85, durch den Wohnraum mit Ledersofas, Cheminée und Bücherwand führt. Überall stehen Familienfotos, gesprochen wird gemütliches Berndeutsch. Niemand würde auf die Idee kommen, dass dies die Zentrale einer politischen Kampagne ist, die Umweltorganisationen ebenso fürchten wie die Grünen. Geschweige denn, dass diese beiden Senioren die Drahtzieher sind – Irene und Simon Aegerter.
Entschlossenener denn je: Die Vollzeitaktivisten Irene und Simon Aegerter.
Hier haben die Physiker ihre Volksinitiative «Blackout stoppen» ausgeheckt, die sie am 16. Februar einreichen. Hier planen sie alle Schritte gegen ihre Gegner, um das Neubauverbot für Kernkraftwerke zu kippen. Die Aegerters kämpfen gegen alles und alle, die ihnen im Weg stehen. Gegen Politiker und Wissenschafter, Vorurteile und Denkbarrieren – für eine Vision, die viel grösser ist als sie selbst, viel grösser als die Schweiz.
Und deshalb brüten sie nun bei Kaffee und Nusstorte über den Plänen des Mini-AKW, das für die beiden zurzeit die grösste Hoffnung ist: der BWRX-300, ein sogenannter Small Modular Reactor. Der sei nur ein wenig kleiner als die Anlagen von Beznau, aber sicherer und billiger, schwärmen sie. «Zudem beträgt die Bauzeit nur fünf Jahre!», sagt Irene Aegerter. «Vielleicht sogar vier», sagt ihr Mann. Sie: «Es heisst ja immer, die Kernenergie komme zu spät und sei zu teuer.» Er: «Blödsinn! Wer will, sieht Lösungen, und wer nicht will, sieht Probleme.»
Dass weltweit noch kein solcher Reaktor in Betrieb ist und ihnen an diesem Morgen im Juni 2023 noch Zehntausende Unterschriften für ihre Initiative fehlen: Es spielt keine Rolle. Sie bereiten sich schon jetzt auf den Abstimmungskampf vor, sie reden sich im Pingpong in eine Zukunft, in der niedliche Reaktoren die Stadtbilder zieren wie Solaranlagen die Hausdächer. «Wir werden aber auch grosse Kernkraftwerke schnell bauen müssen», sagt Simon Aegerter. So grosse wie die Anlage Barakah, die sich in den Vereinigten Arabischen Emiraten auftürmt.
Die Aegerters sind sicher, dass ihre Zeit gekommen ist – endlich. Wenn nicht jetzt, wann dann? Die drohende Strommangellage ist unvergessen. Von den Stammtischen bis ins Bundeshaus streiten die Menschen darüber, wie man die Klimaerwärmung bremsen und gleichzeitig genug Strom haben kann. Die heutigen AKW Beznau, Leibstadt und Gösgen sollen plötzlich länger laufen. Und eine Umfrage des Forschungsinstituts Sotomo zeigt: 44 Prozent der Schweizer wollen das, was die Aegerters wollen – neue Reaktoren bauen.
Abgekanzelt von Doris Leuthard
Vor 13 Jahren hätte man sie wohl für verrückt erklärt. Damals, als Bilder von Fukushima über die Bildschirme flirrten. Ganze Siedlungen: verwüstet. Riesige Landstriche: potenziell verstrahlt. Scharen von Aufräumern: in Schutzanzügen.
Obschon die Katastrophe vor allem der Tsunami war, frass sich die Furcht vor einem Atomunfall noch tiefer ins kollektive Bewusstsein, zumindest in Deutschland und der Schweiz. Bald verkündete Angela Merkel die Energiewende. Weg von Atomkraft, hin zu den Erneuerbaren – so lautete auch der Kurs der früheren Energieministerin Doris Leuthard, die für die Aegerters so etwas ist wie die Kernkraft für die Grünen: das Feindbild.
2017 standen sich die beiden Frauen in der SRF-«Arena» gegenüber: Hier die damals 77-jährige Befürworterin einer Technologie, die ihren Zenit scheinbar überschritten hatte. Dort die dauerlächelnde Bundesrätin, die bald als Sonnenkönigin gefeiert wurde. Aegerter warnte vor Strommangel, Leuthard kanzelte das als «Angstmacherei» ab: «Bis heute sagen Sie nur, alles andere geht nicht, Frau Aegerter. Ihr Weg ist Denkstillstand!»
Dabei war die Atomkraft in vielen Ländern mit Fortschritt verbunden – und zunehmend auch mit einer CO2-freien Stromversorgung. Weltweit sind laut der World Nuclear Association rund 60 AKW im Bau und 110 geplant, darunter in Frankreich, Schweden und den Niederlanden. Die Schweiz aber befindet sich seit dem Ja zum Energiegesetz 2017 auf dem Weg zum Ausstieg.
Liessen wir uns von der deutschen Atomangst anstecken? Droht wirklich mit jedem AKW ein nächstes Tschernobyl? Oder sind wir auf die Anti-AKW-Kampagnen hereingefallen?
So sehen es die Aegerters – und setzen alles daran, das zu ändern.
Wer ist diese Familie? Das ist eine der Kernfragen dieser Recherche, die im Dezember 2022 mit einer Anfrage begann. Was treibt sie an? Auf dem Flyer ihrer «Blackout stoppen»-Initiative lächelt auch der Sohn Daniel Aegerter, 54, der zu den reichsten Schweizern zählt und in Reaktoren investiert, die aussehen wie hippe Holzhäuser aus Skandinavien. Und auch sein Bruder Christof Aegerter, 51, ist in die Fussstapfen der Eltern getreten, indem er als Physikprofessor für rationales Denken kämpft.
Ein Jahr lang werden wir sie begleiten. Es ist ein Jahr, in dem diese aussergewöhnliche Familie sowohl Rückschläge als auch Etappensiege erleben wird. Die Eltern mögen die Hauptrolle spielen in diesem Kampf, nur zu viert aber bilden sie dieses System, das sie für ihre Gegner so gefährlich macht. Und wer glaubt, es gehe bloss um neue AKW, liegt falsch. Es geht auch um die Rettung der Familienehre und ein Trauma des Versagens.
Vom Rentneridyll in den politischen Kampf
Bisher haben Irene und Simon Aegerter ihre Winter an der Sonne verbracht. In Florida hatten sie ein Anwesen mit Pool, Palmen und einem Kleinflugzeug im eigenen Hangar. All das haben sie aufgegeben für ihren Kampf, der sich mit sechs Stunden Zeitverschiebung nicht gewinnen lässt. Und so schleppen sie sich nun, an einem Abend im Oktober, durch den Regen zu einer Villa hoch über der Zürcher Rämistrasse, wo sich die Damen des Lyceum Club zum gepflegten Austausch treffen.
Hier spricht Irene Aegerter über «Unser Dilemma: Haben wir genügend Strom für netto null bis 2050?» Sie trägt oben wie immer blaugrün und ihr Gatte dunkelblau. Und auch die Arbeitsteilung ist wie so oft: Sie redet auf der Bühne, er reiht sich im Publikum ein und ergänzt. Vorbereitet haben sie auch diesen Vortrag gemeinsam, besonders die Zahlen, die sie nun auf die Damen feuern, als ginge der Strom schon morgen aus.
Sie rechnen vor, wie viel Material es brauchen würde, um die Energiewende nur mit Wind zu schaffen: 902 Tonnen Beton pro Windrad! 357 Tonnen Gusseisen und Stahl! «Das mag am Meer Sinn machen, wo es viel windet», sagt Irene Aegerter. Aber hier? Bei uns? «Um den Strom bis 2050 zu garantieren, würde man 12000 Windräder im Land brauchen, alle zwei Kilometer eines.»
Es folgen noch mehr Zahlen, die in den Reihen für Entsetzen sorgen. Zahlen, die eine Abrechnung mit den Erneuerbaren sind und ein Plädoyer für die Kernenergie. Markus Unterfinger, Kommunikationsleiter der Schweizerischen Energie-Stiftung, wird diese Zahlen später als «aus der Luft gegriffen» bezeichnen und gar von «Falschinformationen» sprechen.
Er und andere Kritiker bezeichnen Irene und Simon Aegerter als «Atomlobbyisten», die erneuerbare Energien aus Prinzip ablehnen. Ewiggestrige, irgendwo steckengeblieben zwischen der Aufbruchstimmung durch billigen Strom und der Angst vor der nuklearen Zerstörung im Kalten Krieg. Aber stimmt das? Sind sie so ewiggestrig, wie ihre Gegner behaupten? Völlig verstrahlt?
In der Schweizer Atomzentrale
«Ich war einer der Ersten in Europa, die ein Elektroauto fuhren», sagt Simon Aegerter, als er seinen E-Renault den Hang hoch steuert. Hier haben er und seine Frau schon 2002 ein Minergiehaus inklusive Wärmepumpe gebaut, um nicht länger klimaschädliches Öl zu verheizen. «Zurück in die Steinzeit will ich aber nicht, sondern Energie im Überfluss», sagt Aegerter. Seiner Frau hat er zum 75. Geburtstag eine Notstromanlage geschenkt, vorletzte Weihnachten kam noch ein grösserer Dieseltank dazu.
«Natürlich sind wir Missionare», sagen sie.
Im Haus fährt kein Lift, sondern eine Standseilbahn mit Fenstern und einer Sitzbank. Vorbei am Konferenztrakt, hoch in den Wohnraum, von dem die Aegerters einen 180-Grad-Blick haben.
Bevor sie zur Vollzeitaktivistin wurde, war Irene Aegerter Kommunikationschefin des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE). In den 1990er Jahren baute sie «Women in Nuclear» auf, ein internationales Netzwerk für Frauen in der Kernindustrie. Ihr Mann war Chefphysiker bei den Atomschutztruppen der Armee und leitete vor seiner Selbständigkeit als Unternehmer das Technorama in Winterthur.
Heute, als Pensionäre, lesen sie jede Zeile, die über Energie geschrieben wird, sie verfolgen jede Polit-Sendung und Irene Aegerter sogar viele parlamentarische Debatten. Gemeinsam schreiben sie Leserbriefe und Beiträge für den Energie Club Schweiz, so heisst der Verein, den sie 2018 nach der verlorenen Abstimmung über das Energiegesetz mitgegründet haben. «Natürlich sind wir Missionare», sagen sie.
Politiker gehen bei den Aegerters ebenso ein und aus wie ETH-Rats-Präsidenten oder potenzielle Sponsoren. Und auf der Terrasse ihres Hauses, an ihrem «Stromerfest», wurde im Sommer 2022 die Initiative «Blackout stoppen» geboren. Dabei waren unter anderem Elias Vogt, der schärfste Kritiker der Windkraft im Land, und die frühere FDP-Ständerätin Vreni Spoerry. Einmal mehr sinnierten sie darüber, warum in der Schweiz schon nur der Begriff Atom ein Tabu sei, wo sich doch in Finnland sogar die Grünen dafür aussprächen.
Spoerry sagte: «Wenn ihr das ändern wollt, müsst ihr eine Initiative lancieren.» Die Aegerters antworteten: «Dann machen wir das.»
Liebe, Leidenschaft und Verzweiflung
Eine Initiative. 100000 Unterschriften sammeln. Mit über 80 Jahren. Dabei könnten sie ihre letzten Lebensjahre einfach geniessen. Mehr Kreuzfahrten mit den Enkeln nach Alaska machen, mehr Konzerte in Wien oder Mailand besuchen. Stattdessen arbeiten diese Grosseltern wie besessen, ohne gewählt oder bezahlt werden zu müssen. Geld haben sie genug. Allein in die Volksinitiative investieren sie einen siebenstelligen Betrag. Warum?
Ihre Söhne sagen: «Aus Überzeugung. Sie wollen der Nachwelt etwas Gutes hinterlassen.»
Sie selbst sagen: «Unsere Mission ist, die Stromversorgung klimaneutral sicherzustellen».
Aber ist das wirklich alles? Die Sorge um die Stromversorgung allein erklärt nicht, dass Irene Aegerter von ihrer «Liebe» zur Kernenergie spricht. Sie erklärt auch nicht die Verzweiflung in ihren Stimmen, wenn sie die Ignoranz der Menschen beklagen und damit auch das eigene Versagen, diese davon zu überzeugen, dass es ohne Atomkraft nicht gehe, ausser man betreibe als Reserve klimaschädliche Öl- oder Gaskraftwerke.
«Die Leute wollen einfach nicht einsehen, dass die Sonne jeden Abend untergeht», sagt Simon Aegerter, als wir einmal mehr an ihrer Fensterfront diskutieren. Deshalb liefere die Sonne im Gegensatz zur Atomkraft keine Bandenergie, rund um die Uhr, bei Tag und Nacht. Und man müsste erst noch viele Speicher bauen und Stromleitungen verlegen. «Was da für eine Materialschlacht bevorsteht», sagt Irene Aegerter und zeigt auf den Hügelzug auf der anderen Seeseite: «Schauen Sie, da drüben, da könnten zehn Windräder die Landschaft verschandeln.»
Umgekehrt sind die Probleme der Kernenergie laut den Aegerters keine. Der radioaktive Abfall? Werde mit dem geologischen Tiefenlager Nördlich Lägern sicher versorgt im Opalinuston, der seit Jahrmillionen dicht ist. Das Risiko eines Unfalls? Werde massiv überschätzt. In Fukushima sei ein einziger Mensch an den Folgen radioaktiver Strahlung gestorben. Überhaupt sei Kernenergie nach Solarkraft statistisch die sicherste Form der Energieproduktion. «Aber über die Zehntausende von Toten, die man wegen geborstener Staudämme der Wasserkraft zuschreiben muss, spricht nie jemand», sagt Simon Aegerter.
Das können die beiden ebenso wenig verstehen wie das Verbannen der Atomkraft. Es ist ein Angriff auf ihre Denkweise, auf ihre Geschichte und ihr Lebenswerk.
Denn Atombefürworter sind auch die Söhne. Wie auch nicht? In anderen Familien redete man über den Cup-Final, bei den Aegerters über Kernenergie. «Ich habe schon radioaktive Muttermilch getrunken», sagt der Unternehmer Daniel Aegerter. Und sein Bruder, der Professor, liess sich von Richard Feynman zum Studium inspirieren, dem brillanten amerikanischen Physiker, der mit Robert Oppenheimer an der Atombombe forschte.
Im März ist die Lage gerade wieder einmal schwierig. Kürzlich hat die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens berichtet, wie viel ihr Energie Club spezialisierten Firmen für das Sammeln bezahlt: 7 Franken 50 pro Unterschrift, mehr als üblich. Kurz darauf titelte der «Tages-Anzeiger»: «AKW-Freunde kaufen Unterschriften im grossen Stil».
Schlechte Presse, schon wieder. Dagegen beschweren sich Irene und Simon Aegerter wie üblich beim Presserat. Weit mehr ärgern wird sie Monate später die Nachricht, dass von 120000 gesammelten Unterschriften mindestens 30 Prozent ungültig sind. Manche hätten mit Phantasienamen unterschrieben, andere keine gültigen Adressen hinterlassen, erzählen sie.
Atomkraft hat eben viele Gegner. Und hört man den Aegerters zu, sitzen diese überall. In den Umweltverbänden, im Parlament, auf den Redaktionen. Man spürt ihren Frust, wenn sie über manche Politiker reden, die sie für «Windfahnen» halten (sie selbst sind aus der FDP ausgetreten). Man spürt ihn auch, wenn sie damit hadern, dass die Gegner der Atomenergie sich in ihren Augen nicht auf Fakten stützen, sondern auf reine Paranoia.
Diesen Frust haben sie sich während des Corona-Lockdowns in einem Buch von der Seele geschrieben. Die «Spurensuche» ist eine Abrechnung mit der Schweiz, die sich mit dem Atomausstieg «in eine energiepolitische Sackgasse manövrierte», wie es im Untertitel heisst. Zerstört wurde der jahrzehntealte Konsens, dass zur Schweizer Stromversorgung AKW gehörten – ein Konsens, zu dem sie beigetragen hatten, mehr als jede andere Familie in diesem Land.
Die Heilsbringer in der Familie
«Ich habe von Kind auf mitbekommen, was für ein Segen die Kernenergie ist», sagt Irene Aegerter. Zwei ihrer Onkel waren Physikprofessoren. Einer von ihnen, ihr Götti Paul Huber, gilt neben Paul Scherrer als Pionier der Kernforschung in der Schweiz. Oft übernachtete er bei ihrer Familie in Bern – und wurde für Irene zu einem Vorbild.
Natürlich fürchtete man die militärische Gefahr der Kernenergie, doch der Glaube an ihren Nutzen überstrahlte alle Bedenken. Rund um die Uhr brennende Lampen waren noch lange nicht selbstverständlich. Im Boom der Nachkriegszeit aber verdoppelte sich der Schweizer Stromverbrauch innert zehn Jahren, der Ausbau der Wasserkraft gelangte an seine Grenzen. Das war die Stunde der Atomkraft, die damals noch keine Frage von rechts oder links war. Scherrer und Huber galten nicht als Ewiggestrige, sondern als Heilsbringer, die halfen, den Weg von der Dunkelheit ins Licht zu ebnen, von der Vergangenheit in die Zukunft.
Dass das auch ein Mädchen kann, wollte Irene damals beweisen. Als einzige Frau im Reaktorphysikstudium fiel sie auf. Auch dem Thuner Schreiner aus einfachen Verhältnissen, Simon Aegerter, der die Matura nachgeholt hatte. Zusammen machten sie 1962 in Würenlingen, am heutigen Paul-Scherrer-Institut, ihr Praktikum. Der Forschungsreaktor hiess Saphir, wegen seiner Farbe – des Tscherenkow-Blaus.
Und vielleicht war das der Moment, der alles begründete, ihre Ehe, ihren Kampf, ihre Vision: als sie zum ersten Mal dieses Blau strahlen sahen, das entsteht, wenn Teilchen schneller sind als Licht. Ein Blau, so zauberhaft wie das Nordlicht am Polarhimmel – ein Blau, das aber nicht die Natur erschaffen hat, sondern der Mensch.
Alter Kampf, neue Strategie
Sechs Jahrzehnte später müssen sie Meinungen ändern und Mehrheiten schaffen, sie müssen netzwerken, netzwerken, netzwerken. So besuchen Irene und Simon Aegerter am 18. September die Economic Conference der Progress Foundation, die im Zürcher Zunfthaus zur Meisen die liberale Crème de la Crème versammelt. Heute wird das Thema «Energie und Klima» diskutiert, «vom Wunschdenken zum realistischen Handeln».
Die Aegerters sind bestens gelaunt. Im bürgerlichen Lager gewinnen sie einen Verbündeten nach dem anderen. Eben hat sich FDP-Präsident Thierry Burkart – mitten im Wahlkampf – klar zur Kernenergie bekannt. Zudem titelte die NZZ ein paar Tage zuvor: «Neue ETH-Studie: Ein Festhalten an der Kernkraft macht die Stromversorgung günstiger und sicherer». Und auch für die anwesenden Anzugträger scheint klar: Ohne Atomenergie geht es nicht.
Beim Apéro riche ahnen jedoch die wenigsten, wie involviert dieses Seniorenpaar in die «Blackout stoppen»-Initiative ist. Wie sie im Hintergrund den Energie Club orchestrieren, wie sie wöchentliche Sitzungen abhalten mit dem Polit-Strategen der Agentur Kommunikationsplan, den sie als Geschäftsführer angestellt haben. Und mit der Präsidentin Vanessa Meury, Solothurner SVP-Politikerin, 27 Jahre jung – dem offiziellen Gesicht der Kampagne. Wenn die «Arena» ruft, geht heute Meury hin. Die Aegerters haben ihre Lektion gelernt.
Der Kampf ist alt, die Strategie neu. Das wichtigste Argument der Aegerters lautet heute: Wer den Klimawandel bremsen will, muss auch auf Atomkraft setzen. «Jetzt haben wir zwei Schnellzüge, die aufeinander zufahren: das Netto-null-Ziel und der Ausstieg aus der Kernenergie», sagt Simon Aegerter. «Es wird knallen.»
Dieses Klima-Argument nehmen ihnen links-grüne Kreise zwar nicht ab, doch Simon Aegerter hat darauf eine klare Antwort: «Palmenstrand am Limmatquai» hiess sein «Weltwoche»-Artikel, in dem er schon 1979 vor dem menschengemachten Klimawandel gewarnt hat. Schliesslich hatte er bei Hans Oeschger, einem Pionier der Klimaforschung, doktoriert. Und Irene Aegerter war bereits 1999 Teil der Arbeitsgruppe «CH 50%», die an der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften über eine Schweiz nachdachte, die nur halb so viel fossile Energie verbraucht.
Umso irritierender ist, dass sie für ihre Initiative gemeinsame Sache mit Klimaskeptikern machen – gehören dem Energie Club doch auch einzelne Exponenten an, die die menschengemachte Klimaerwärmung anzweifeln. Die Aegerters nehmen das in Kauf, für ihre Kampagne, für ihre Vision: «Mir ist es egal, wenn einer sagt, das Klima erwärme sich nicht», sagt Simon Aegerter, «Hauptsache, er ist für Kernenergie.»
Die Millionen der Aegerters
Im Kampf der Aegerters spielen die Söhne eine wichtige Rolle, dabei unterscheiden sie sich sehr: Christof malte in der Schule eine schwitzende Erde zum Thema Zukunftsangst, Daniel ist der Swimmingpool im Elternhaus in Erinnerung geblieben, der nach dem Ölpreisschock in den siebziger Jahren nicht mehr geheizt werden konnte. Christof sitzt im Vorstand der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft, Daniel verkehrt im Zürcher Club zum Rennweg, einem Netzwerk der Wirtschaftselite.
Daniel, der Ältere, studierte als Einziger nicht Physik, sondern machte eine Banklehre. Die Eltern waren nicht begeistert. Wer hätte schon gedacht, dass «Dani» eine netflixreife Karriere hinlegen würde?
Genau das aber tat er – und schuf die finanzielle Grundlage dafür, dass die Aegerters sich heute ihren Aktivismus ebenso leisten können wie eine eigene Stiftung, um naturwissenschaftliches Denken zu fördern.
Mit 18 Jahren überzeugte er seinen Vater, sich mit Kapital aus seiner Pensionskasse an einer kleinen Firma zu beteiligen, die Zubehör für Apple-Produkte aus den USA importierte. Mit 20 Jahren zog er selbst nach Florida, um dort die Onlineplattform Tradex zu entwickeln. 2000 verkaufte er diese für 5,6 Milliarden Dollar. Im Alter von 30 Jahren wurde er von der Presse als Milliardär gefeiert – seine Eltern verdienten am Rekord-Deal mit und mussten nie mehr für Geld arbeiten.
«Sie haben an mich geglaubt, jetzt unterstütze ich sie», sagt Aegerter, der heute im Komitee der Initiative «Blackout stoppen» sitzt. Zudem finanziert er Organisationen wie Emergency Reactor, um das Narrativ über die Kernenergie zu ändern. Sein Engagement ist jedoch in erster Linie wirtschaftlich: Über sein Family-Office Armada Investment finanziert der 54-Jährige Startups wie die amerikanische Firma Oklo, die neue Kleinreaktoren entwickelt. Es sei nicht Rendite, die ihn dabei antreibe, sondern Idealismus: «Ich helfe mit, Firmen aufzubauen, die zu einer Welt beitragen, in der ich leben möchte.»
AKW bauen, die Welt retten
Die Welt. Um nichts Geringeres geht es den Aegerters. Müsste man ihre Vision mit einer Farbe beschreiben: Sie wäre blau. Blau wie die Tscherenkow-Strahlung in Atomreaktoren. Blau wie der Ammolit aus Alaska, den Irene Aegerter am Hals trägt. Blau wie das Logo ihrer Cogito-Stiftung. Blau wie die Wände im Sitzungszimmer von Daniel Aegerters Armada Investment oder blau wie die Hemden von Christof Aegerter. Alle teilen den Glauben, dass die Lösung für die meisten Probleme technologische Innovation ist – die Erfindungskraft des Menschen. Die Atomenergie sehen sie als Sinnbild dieser Erfindungskraft, und wenn sie darüber reden, wird klar: Ihr Engagement mag sich vordergründig um Energiepolitik drehen. Aber eigentlich geht es um ein Weltbild, das sie bedroht sehen: durch einen freiheitsfeindlichen «Mindset», wie es Daniel Aegerter nennt.
Die bisherigen Bemühungen, den Energieverbrauch zu senken, sind für den Investor die Vorstufe zu einem «Ökofaschismus, der mit Regeln und Verboten Innovation und Freiheit erdrückt». Stattdessen hofft er auf eine Welt, in der Strom die fossilen Brennstoffe ablöst, Strom, der immer und reichlich verfügbar ist, günstig und sauber.
Sein Vater Simon Aegerter denkt diese Vision noch weiter, auch in seinem Buch «Das Wachstum der Grenzen». Was den Menschen von allen anderen Tieren unterscheide, sei das Feuer, sagt er: «Vor dem Feuer waren wir Teil der Biosphäre. Mit dem Feuer haben wir angefangen, diese Biosphäre zu nutzen. Die Atomkraft, das neue Feuer, liefert uns Energie im Überfluss, um dem Planeten die Natur zurückgeben zu können.» So gäbe es eine Landwirtschaft ohne Boden, in Gewächshäusern, in denen die Sonne dank Strom nie untergeht.
Irene Aegerter nickt – und fasst die Aussagen ihres Mannes so zusammen: «Mit der Kernenergie kann man die Welt retten.»
Vernunft oder pure Ideologie?
Es sind Sätze wie diese, die Irene und Simon Aegerter anecken lassen. Auch in Kreisen, die ihnen wohlgesinnt sein müssten. «Streit unter AKW-Freunden», titelt die «Sonntags-Zeitung» im November: Das Nuklearforum, in dessen Vorstand Vertreter der Wirtschaft, der Stromversorger und der Forschung sitzen, unterstützt die Initiative «Blackout stoppen» nicht. Präsident Hans-Ulrich Bigler hält sie für zu unklar formuliert, um das AKW-Bauverbot zu kippen.
Hört man sich unter Atomfreunden um, taucht ein weiterer Vorwurf auf: Irene und Simon Aegerter seien zwar gescheit, aber ebenso dogmatisch wie die Grünen. Indem sie in ihrem Kampf für die Kernkraft alle anderen Energieformen schlechtredeten, vergraulten sie potenzielle Verbündete.
Christof Aegerter, der Physikprofessor, sagt: «Im Vergleich zu meinen Eltern bin ich weniger davon überzeugt, dass es nur eine richtige Energieform gibt.» In der Schweiz sei es sicher zwingend, auch in Zukunft Kernkraft zu haben. Aber anderswo gehe es durchaus ohne. «In Schottland etwa, wo es genug windet, würde ich voll auf Wind setzen.»
An der Universität Zürich arbeitet er für eine Welt, in der die Menschen rationaler denken und selbst berechnen können, wie stark sich die Erde erwärmt oder wie viel Potenzial Solar- oder Windenergie in Mitteleuropa haben. «Die einzig wahre Magie ist Physik», sagt Aegerter, der das Interesse dafür bei den Jüngsten wecken will und an seinen «Physik-Shows» auch Kindern erklärt, wie zum Beispiel ein Regenbogen entsteht.
Damit wandelt Christof Aegerter auf den Spuren seines Vaters, der als Direktor des Technorama eine Brücke schlagen wollte zwischen den Naturwissenschaften und der Gesellschaft, zwischen seiner Familie und dem Rest der Welt. Und wie zuvor sein Vater präsidiert er heute die Cogito-Stiftung. «Wer weiss», sagt Aegerter, der sich als «Klon» des Vaters bezeichnet, «in 15 bis 25 Jahren werde ich vielleicht auch Aktivist.»
Szenario gegen Szenario
So rational sich seine Eltern geben, bisweilen operieren sie nicht viel anders als ihre Gegner: Sie übertreiben, sie spitzen zu, sie polemisieren. Und damit wären wir wieder zurück in der Villa über der Zürcher Rämistrasse, wo die Damen des Lyceum Club von den Aegerters hören, dass der Schweizer Strombedarf im Jahr 2050 von heute 60 auf bis zu 150 Terawattstunden steigen wird. Der Bund und die Stromversorger rechnen in ihren Modellen mit maximal 90 Terawattstunden – ein erheblicher Unterschied.
«Wer so einen absurd hohen Stromverbrauch postuliert, kann leicht argumentieren, dass es mit den Erneuerbaren nicht reicht», sagt Markus Unterfinger von der Schweizerischen Energie-Stiftung. Es sei auch fragwürdig, so zu tun, als ob all die «fehlenden» Terawattstunden Strom ausschliesslich mit Solarenergie oder ausschliesslich mit Windkraft ersetzt werden sollten, was selbstverständlich niemand im Sinn hat. Solche Szenarien aber rechnen die Aegerters im Lyceum Club vor. Und so bleiben Botschaften wie diese haften: Alle zwei Kilometer ein Windrad. Wer will das schon?
Unter dem blauen Weihnachtsbaum
Es ist kurz vor Weihnachten, als wir die Aegerters zum letzten Mal zu Hause besuchen. Die elektrischen Kerzen am Christbaum leuchten (natürlich blau), auf dem Tisch liegen Teller mit Zimtsternen und Mailänderli. Wir fragen sie: Übertreiben sie in ihrem Eifer? Verdrehen sie sogar?
Irene und Simon Aegerter, die sonst auf alles sofort eine enzyklopädische Antwort haben, zögern für einmal. Und halten dann doch dagegen. «Im Gegensatz zum Bund rechnen wir die vollständige Dekarbonisierung zu netto null und das Wirtschaftswachstum mit ein», sagt Irene Aegerter. Ihr Mann sitzt mit verschränkten Armen da und sagt: Es gehe nicht darum, polemisch zu argumentieren, sondern die Grössenordnungen aufzuzeigen. «Auch mit den Annahmen des Bundes lässt sich das Netto-null-Ziel nicht erreichen.»
So ist der Kampf um die Energiewende auch ein Kampf um Modellrechnungen, Szenarien und Schätzungen. Und besonders um die Frage, wie lange es gehen würde, bis in der Schweiz ein neues AKW am Netz wäre. Dauert es zu lange, lässt sich kurzfristig weder die Stromversorgung sichern, noch lassen sich die CO2-Emissionen senken.
Kann ein grosses Kernkraftwerk in nur 10 Jahren gebaut werden, wie der erste Barakah-Reaktor in den Vereinigten Arabischen Emiraten? Nein, lautet die Antwort des Bundes, der für das Verfahren, die Bewilligungen und den Bau mit bis zu 19 Jahren rechnet. Nein, meint der Axpo-Chef Christoph Brand, dessen Nuklearexperten von mindestens 20 Jahren ausgehen.
Es ist dieses «verregulierte Denken», das den Aegerters den letzten Nerv raubt. Sie halten 12 Jahre für realistisch, sofern man die Verfahren beschleunige wie beim Solar- und beim Windexpress. «Es ist eine Frage des politischen Willens», sagen sie.
Was also bleibt von diesem Jahr, in dem Irene und Simon Aegerter alles gegeben haben?
Sie sind von einer Sitzung zum nächsten Anlass gestiefelt, sie haben sich weltweit Rat geholt, sie haben Hunderte von E-Mails, Leserbriefen und Meinungsbeiträgen verschickt. Jetzt lehnen sie sich zufrieden in ihren Ledersesseln zurück.
Natürlich gab es sie, die Rückschläge. Die harzende Unterschriftensammlung. Die Spendengelder, die nicht wie erhofft geflossen sind. Aber jetzt können sie die Initiative Mitte Februar einreichen. Inzwischen spricht sogar Energieminister Albert Rösti darüber, und der Bundesrat prüft einen Vorstoss des FDP-Präsidenten Thierry Burkart, der die Aufhebung des AKW-Verbots thematisieren soll.
Damit haben die Aegerters erreicht, was sie wollten: «Atomkraft ist zurück in der energiepolitischen Debatte», sagt Simon Aegerter. Und seine Frau fügt an: «Im Grunde haben wir schon gewonnen.»
Sonst gibt es noch Nico – ihren Enkel. Er studiert in den Niederlanden Physik und ist ebenso politisch wie seine Grosseltern. Der nächste Aegerter steht also schon bereit.