Clemens Bilan / EPA

Einen Support wie an der Europameisterschaft in Deutschland erlebte das Schweizer Nationalteam noch selten. In Berlin feiern die Fans den Einzug in den Viertelfinal, der Fanklub wird überrannt. Eine Reportage aus der Kurve.

Kurz vor 20 Uhr kennen die Fans im Berliner Olympiastadion kein Halten mehr. Aus den Lautsprechern dröhnt «Freed from Desire», ein bekanntes Eurodance-Lied aus den 1990er Jahren der italienischen Sängerin Gala. Im Stadion tanzen aber nicht die Italiener, sondern die Schweizer.

Die Schweiz hat im Achtelfinal der Fussball-EM soeben Italien 2:0 besiegt, und der rot gekleidete Teil der Stadionbesucher stürzt in eine kollektive Ekstase. In der Mitte hüpfen die Spieler der Nationalmannschaft im Kreis. Auf den Rängen skandieren die Fans «Switzerland is on fire». Im TV-Studio sagt der Moderator Rainer Maria Salzgeber: «Das ist ja wie an der Street Parade.»

Das Lied «Freed from Desire» spiegelt in Teilen auch die gegenwärtige Beziehung zwischen den Schweizer Fans und der Nationalmannschaft. Im Refrain heisst es: «People just want more and more», die Leute wollen einfach mehr und mehr. Und die Schweizer Fans wollen immer mehr von dieser Nationalmannschaft. Das zeigte sich nicht nur an diesem Samstagabend in Berlin, sondern auch schon in den letzten beiden Wochen in Köln und Frankfurt.

Einen Support, wie ihn das Schweizer Team an dieser EM erhält, hat es in der Geschichte des Schweizer Fussballs selten gegeben. In Köln zogen vor den ersten beiden Gruppenspielen gegen Ungarn und Schottland jeweils bis zu 12 000 Fans durch die Strassen. «Köln in Schweizer Hand», titelte der Boulevard. Im letzten Gruppenspiel gegen Deutschland trieben erneut Tausende Fans die Mannschaft lautstark an, was auch die Spieler beeindruckt hat.

«Unsere Fans waren lauter als die des Gastgebers Deutschland», sagte der Verteidiger Fabian Schär nach dem Spiel, und auch der Schweizerische Fussballverband (SFV) bedankte sich in einer offiziellen Mitteilung bei den Fans. «Spieler und Staff der Nati wissen es wahnsinnig zu schätzen, dass ihr auf den Rängen Vollgas gebt.»

Eine rote Party mitten in Berlin

«Vollgas» haben die Schweizer auch in Berlin gegeben. Stunden vor Spielbeginn am Samstag finden sie sich beim offiziellen Treffpunkt auf dem Breitscheidplatz im Berliner Stadtteil Charlottenburg ein. Bereits um 12 Uhr wird immer wieder «Schwizer Nati olé olé» angestimmt. Mit jeder Minute treffen neue Gruppen ein. Einige sind als Kühe oder als Fussball verkleidet, das Ganze erinnert an die Fasnacht. Viele Fans halten selbstgebastelte Pappschilder hoch. Die meisten haben einen direkten Bezug zum Gegner Italien. «Raclette ist besser als Mozzarella», «Schoki ist besser als Gelato» oder «Spalletti Carbonara», in Anlehnung an den italienischen Nationaltrainer Luciano Spalletti.

Spätestens um 13 Uhr ist der Platz in Rot-Weiss gehüllt, hier eine Walliser, dort eine Genfer Fahne. Die EM eint die Schweiz. Einen Röstigraben gibt es hier nicht, es wird Schweizer Folklore zelebriert. Genfer sprechen mit Zürchern, Jurassier mit Baslern. Die Menge ist divers. Junge Männer und Frauen, Familien, Menschen mit Migrationshintergrund. Sie alle identifizieren sich mit der Mannschaft, tragen Trikots mit den Namen Schär, Xhaka, Embolo oder Freuler.

Auch Lukas und Lukas aus Schaffhausen tragen ein rotes Team-Trikot. Sie sind am Morgen mit dem Auto angereist. Die beiden haben schon das erste Gruppenspiel gegen Ungarn besucht und sind immer noch überwältigt. «Köln mit den über 10 000 Schweizer Fans war ‹over the top›», sagt der Lukas, der eine Sonnenbrille und ein schwarzes Cap trägt.

Lukas und Lukas aus Schaffhausen sind mit dem Auto angereist.

Den Achtelfinal gegen Italien wollten sie sich deshalb nicht entgehen lassen. «Das war schon fast ein Muss. Wer weiss, wann ein solches Ereignis wieder einmal in unmittelbarer Nähe stattfindet.» Die EM im Nachbarland Deutschland zieht die Massen an. Ganz im Gegensatz zur letzten Weltmeisterschaft in Katar, die von vielen Schweizer Fans boykottiert wurde.

Pascal aus Zürich sticht wegen seines Begleiters aus der Masse. Er trägt eine Kartonfigur von Xherdan Shaqiri mit sich. Was es damit auf sich hat? «Das ist ein Gag», sagt Pascal. Der Offensivspieler sei zwar nicht sein Lieblingssportler. «Aber Shaqiri schiesst eben immer Tore.» Den Treffer gegen Schottland hat er in Köln live im Stadion gesehen. Wie er die Euphorie um die Nationalmannschaft erlebt? Diese sei ihm erst so richtig aufgefallen, als er vom Spiel in Köln zurückgekehrt sei, sagt Pascal. «Daheim haben alle über die EM und die Leistungen der Mannschaft gesprochen. Man merkt, das ganze Land will, dass die Schweiz an diesem Turnier weit kommt.»

Murat Yakin wird gefeiert

Um 14 Uhr startet der Schweizer Fanmarsch. Einzelne Rauchpetarden werden gezündet, immer wieder werden «Scholololo», «Wer nöd gumpet, isch kein Schwizer» und «Que sera, sera» gesungen. Das Repertoire der Lieder erschöpft sich zwar schnell, die Stimmung unter den rund 3500 Fans, so schätzt es später die Berliner Polizei, könnte aber kaum besser sein.

Nach der Ankunft am Bahnhof Charlottenburg steigen die Fans in den Zug. Auf dem Weg zum Olympiastadion nimmt die Schweizer Party Fahrt auf. In der Bahn wird gehüpft, gesungen, geschrien. Der Waggon vibriert und rumpelt. Im Innern ist es eng und heiss, es tropft von der Decke, es riecht nach Schweiss und Bier. Doch in diesem Waggon ist sich die Schweiz für einmal einig.

Egal ob Basler, Zürcher oder Berner, alle singen im Rhythmus zu «The Lion Sleeps Tonight»: «Oh Embolo. I de Schwizer Nati isch de Breel dihei.» Dass der Stürmer lange verletzt ausfiel und derzeit nicht die beste Torquote vorweisen kann, spielt keine Rolle mehr. Vergessen sind auch die Eskapaden, für die sich Embolo jüngst vor Gericht hatte verantworten müssen. Drohungen und gefälschte Covid-Zertifikate interessieren in diesem Moment der Glückseligkeit niemanden.

Auch der Trainer Murat Yakin, vor wenigen Monaten noch öffentlich in der Kritik, wird gefeiert wie ein Messias. «Murat Yakin» hallt immer wieder durch den Zug. Später im Stadion geht er vor dem Spiel zur Fankurve hin, applaudiert und winkt. Begleitet wird er dabei von mehreren Fotografen. Yakin wirkt wie ein Superstar, die Schweizer Kurve skandiert seinen Namen. Die Unzufriedenheit über die enttäuschende EM-Qualifikation existiert ob der Euphorie nicht mehr.

Eine Einigkeit, die es lange nicht mehr gab

Auch der Schweizer Fanklub spürt diese Euphorie. «Wir bewegen uns gerade von einem Extrem ins andere», sagt Fabian Zulliger. Er ist Geschäftsführer des Vereins Freunde der Schweizer Fussball-Nationalmannschaften. Dieser wurde in den frühen 1960er Jahren auf Initiative des damaligen Nationaltrainers Karl Rappan gegründet und unterstützt seither die Schweizer Nationalequipe. Ihm ist auch die Fankurve angegliedert.

Laut Zulliger ist die gegenwärtige Begeisterung für das Nationalteam generationenübergreifend, alle Sprachen und Regionen des Landes seien im Verein vertreten. «Das ist eine Einigkeit, die es lange Zeit nicht mehr gab.»

Der Verein hat vom SFV für das Achtelfinalspiel ein Kontingent von 1100 Tickets zur Verfügung gestellt bekommen, die innert Kürze weg waren. Derzeit zählt der Verein über 2200 Mitglieder. Allein innerhalb der letzten drei Monate hätten sich 600 neue Mitglieder angemeldet, sagt Zulliger. «Vor dem Achtelfinal gegen Italien habe ich täglich hundert Neuanmeldungen erhalten.» Der administrative Aufwand sei kaum zu bewältigen. Der Verein hat deshalb beschlossen, während der EM keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen, da das Ticket-Kontingent für die EM 2024 ausgeschöpft sei.

Beni Huggel macht die Welle

Auch der Achtelfinal gegen Italien im Berliner Olympiastadion ist ausverkauft. 70 000 Zuschauer sind es laut dem Europäischen Fussballverband (Uefa). Wie viele von ihnen Schweizer Fans sind, ist nicht bekannt. Klar ist lediglich: Es sind viele. Der Verteidiger Manuel Akanji sagt nach dem Spiel, die Mannschaft spüre die Unterstützung auf dem Platz. «Wir versuchen, den Fans alles zurückzugeben.»

Die Schweizer Fankurve ist auch lange nach Spielende noch im Stadion präsent. Sie skandiert nun den Namen des SRF-Experten Beni Huggel, der in der TV-Station gerade das Spiel analysiert. Der Moderator Rainer Maria Salzgeber unterbricht die Live-Sendung, und Huggel macht mit den Fans eine Welle. Die Schweizer Fans, sie wollen immer mehr und mehr.

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