Die Schweizer AKW wurden für eine Laufzeit von 40 Jahren gebaut. Doch weil der Ausbau der erneuerbaren Energien stockt, sollen sie 60 Jahre oder noch länger am Netz bleiben. Wie soll das gehen? Ein Besuch in Leibstadt, dem grössten AKW der Schweiz.
Der Dampf aus dem 144 Meter hohen Kühlturm scheint sich mit den tief hängenden Wolken zu vermischen. Die Krähen, die vor dem riesigen Betonbau vorbeigleiten, wirken winzig. Im Besucherzentrum beim Kernkraftwerk Leibstadt geht eine Gruppe Jugendlicher leicht gelangweilt durch die Ausstellung. Im ersten Stock des kreisrunden Glasbaus erwartet uns Kraftwerksleiter André Hunziker in einem grossen Sitzungszimmer. Wir treffen ihn, um ihm eine einfache Frage zu stellen: Wie renoviert man eigentlich ein AKW?
Die Frage ist hochaktuell. Als das AKW Leibstadt am 15. Dezember 1984 den Betrieb aufnahm, ging man davon aus, dass nach 40 Jahren Schluss ist. Das wäre in fast genau acht Monaten. Doch inzwischen sieht das ganz anders aus. Die zwischen 1974 und 1984 gebaute Anlage wird deutlich länger laufen.
Und nicht nur sie. Auch für die anderen Schweizer Kernkraftwerke gilt: 60 ist das neue 40 – mindestens. Selbst die Anlage in Beznau, eines der ältesten AKW der Welt, prüft seit kurzem eine Betriebszeit von über 60 Jahren. Hört man sich in der Branche um, heisst es, für die Anlagen in Leibstadt und Gösgen – die beiden grössten Schweizer Kernkraftwerke – seien gar Laufzeiten von 80 Jahren machbar.
AKW als tragende Säule
Grund für diese Entwicklung: Der Ausbau der erneuerbaren Energien kommt zu wenig rasch voran, gleichzeitig benötigen wir mehr Strom. Das macht die bestehenden Kernkraftwerke auch längerfristig zu tragenden Säulen der Versorgung – insbesondere im Winter, wenn sie bis zu 50 Prozent des benötigten Stroms produzieren. Bei den Stromriesen Axpo und Alpiq, den Hauptbesitzern der Kernkraftwerke, ist der sogenannte Langzeitbetrieb der Anlagen dominierendes Thema.
Doch wie ist es möglich, eine so hochkomplexe Einrichtung wie ein AKW so viel länger laufen zu lassen als ursprünglich gedacht? Und: Wie steht es um die Sicherheit, wenn die Betriebszeit so stark verlängert wird?
Kraftwerksleiter André Hunziker hat sich drei Stunden Zeit genommen, um all das zu erklären. Bevor er seinen 40 Seiten dicken Foliensatz durchgeht, wird Kaffee und Kuchen serviert. Der gebürtige Aargauer arbeitet seit Jahrzehnten in der Energiebranche. Jahrelang setzte er für die damalige BBC überall auf der Welt Gasturbinen in Betrieb. Seit 2011 arbeitet er in Leibstadt. Bevor er 2023 die Leitung der Anlage übernahm, war er als Abteilungsleiter Elektrotechnik für verschiedenste Projekte zuständig, die für den Langzeitbetrieb relevant sind.
Unablässig planen und bauen
Lässt man an diesem trüben Tag den Blick über das Kernkraftwerk schweifen, wirkt es wie ein unveränderlicher Monolith, kaum eine Menschenseele ist zu sehen. Doch der Eindruck täuscht, wie im Gespräch mit Hunziker rasch klar wird: An der Anlage wird unablässig geplant und gebaut.
Einmal im Jahr wird der Reaktor für die Revision heruntergefahren. Jeweils im Mai füllt sich dann der ganz in der Nähe gelegene, zusätzliche Parkplatz. Zu den 500 ständigen Mitarbeitern der Anlage gesellen sich 1000 weitere von Lieferanten und externen Firmen.
Bei der Standardrevision werden viele Maschinen demontiert, auf Schäden und Alterung geprüft, instand gehalten und wieder zusammengesetzt, Schweissnähte geröntgt, Messungen durchgeführt und vieles mehr. «Viele Teile eines Kernkraftwerks werden einmal im Jahr zerlegt und wieder zusammengebaut – das gibt es sonst bei keiner anderen technischen Anlage von dieser Grösse», sagt Hunziker.
25 Tage dauert das mindestens. Doch zurzeit sind 30 bis 35 Tage nötig. Der Grund: «Für den Langzeitbetrieb wollen wir noch einmal sehr viel investieren», sagt Hunziker. Über 200 Projekte stehen an: eine modernere Überwachung der Strahlung, verstärkte Digitalisierung, die Nutzung von Robotern oder Verbesserungen bei Elektronik und Maschinen.
Milliardeninvestition
Rund 1 Milliarde Franken werden in den nächsten zehn Jahren dafür benötigt. Damit werde sich das Werk mindestens 60 Jahre betreiben lassen, sagt Hunziker. Um all die Projekte zu bewältigen, will er dieses und nächstes Jahr 70 zusätzliche Mitarbeitende anstellen. Personal zu finden sei schwierig, aber machbar, sagt der Kraftwerksleiter. Bei den Jungen habe sich das Image der Kernenergie verbessert – «und welche Industrie kann heute schon eine Jobgarantie für zwanzig, dreissig oder noch mehr Jahre abgeben»?
Bei einem Kernkraftwerk ist die Situation viel komplizierter als beispielsweise bei einem Haus, bei dem der Besitzer entscheiden muss, es abzubrechen oder eben zu renovieren. Das Gesetz verlangt von den Betreibern zum Beispiel, die Alterung ihrer Anlage kontinuierlich zu überwachen. Alle zehn Jahre müssen sie bei der Aufsichtsbehörde zudem eine umfassende Analyse einreichen, «periodische Sicherheitsüberprüfung» genannt.
Die vorletzte Prüfung umfasste knapp 20 Bundesordner, welche Mitarbeiter persönlich zum Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat in Brugg AG brachten. Die Aufsicht liess sich nicht lumpen: Ihre erste Antwort war gegen 400 Seiten lang. Inzwischen können die Unterlagen digital eingereicht werden. Die letzte Überprüfung stammt aus dem Jahr 2022 und umfasst auch einen zusätzlichen Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb von Leibstadt ab dem 40. Betriebsjahr.
Hinzu kommen weitere Vorgaben, etwa die sogenannte Nachrüstpflicht, die viele andere Länder im Unterschied zur Schweiz nicht kennen. Die Betreiber müssen die internationale Entwicklung der Nukleartechnologie verfolgen. Stossen sie irgendwo auf neue Techniken, welche die Gefährdung vermindern, die von ihrer Anlage ausgeht, müssen sie diese umsetzen.
Es gilt nur eine Einschränkung: Die Nachrüstung müsse «angemessen» sein, heisst es im Gesetz. Das bedeutet: Der Aufwand muss im Verhältnis zum Sicherheitsgewinn vertretbar sein. Die Nachrüstpflicht führe dazu, dass die Schweizer AKW sicherer seien als vergleichbare, nicht nachgerüstete Anlagen im Ausland, sagt Hunziker.
Blick in die Glaskugel
Das AKW Leibstadt hat zudem ein eigenes, internes Planungsinstrument, um den Langzeitbetrieb zu beurteilen. «Betriebsdauermanagement» nennt es sich. Bei jedem Projekt, das die Experten angehen, fragen sie sich: Wie genau müssen wir es ausführen, dass wir eine Laufzeit von 60 oder mehr Jahren erreichen können? Und vor allem: Wie sieht es mit der Wirtschaftlichkeit aus?
Die Wirtschaftlichkeit wiederum hängt stark von den künftigen Strompreisen ab. Und das macht die Planung zum Blick in die Kristallkugel: Strompreise lassen sich, wenn überhaupt, nur wenige Jahre im Voraus verlässlich voraussagen. Die Betreiber der Kernkraftwerke hingegen müssen bei Schlüsselprojekten schon ein Jahrzehnt vor der Umsetzung eines Projekts mit der Planung beginnen.
Das zeigt sich an einem essenziellen Teil der Anlage: den Dieselgeneratoren. Das Kernkraftwerk verfügt über mehrere davon. Sie können sofort angeworfen werden, um die Sicherheitssysteme in einem Notfall mit Strom zu versorgen. Nur: Das AKW Leibstadt muss sie austauschen, weil der Hersteller die Maschinen nur noch wenige Jahre warten wird. «Könnten wir sie nicht adäquat ersetzen, müssten wir unser Kernkraftwerk bereits Anfang nächstes Jahrzehnt abstellen», erklärt Hunziker.
Zwar evaluieren Hunziker und seine Leute bereits andere Lieferanten, welche die hohen Anforderungen an Geräte für den Einsatz in Kernkraftwerken erfüllen. Doch der Wechsel braucht viel Zeit: «Für den Ersatz der Dieselgeneratoren mussten wir acht bis zehn Jahre einberechnen», sagt der Kraftwerksleiter. Die Aufsicht will zum Beispiel einen Nachweis, dass der neue Gerätetyp mindestens so sicher ist wie jener, der bisher verwendet wurde.
Problem Ersatzteile
Bei fast jedem der laufenden 200 Projekte stellen sich ähnlich komplexe Fragen. Etwa bei der Anschaffung von Maschinen. Die Spezialisten müssen sich überlegen, wie sie sicherstellen können, dass sie genügend Ersatzteile für die restliche Betriebsdauer haben. Sind zu wenige verfügbar, laufen die Betreiber Gefahr, dass sie Maschinen früher als geplant abstellen müssen – und als Folge im Extremfall das ganze Kernkraftwerk. Eine Lösung ist, genügend Ersatzteile einzulagern. Eine andere: Verträge für die Lieferung von Ersatzteilen abzuschliessen.
Die Zuverlässigkeit und die Lebensdauer von Bestandteilen des AKW lassen sich auch durch eine verstärkte Instandhaltung erhöhen. Heikle Teile werden zum Beispiel öfter als unbedingt nötig ausgewechselt. Oder wichtige Anlageteile werden komplett ersetzt und gleich noch modernisiert – die «Maximallösung», wie Hunziker erklärt. Ein Beispiel ist die Leittechnik, mit der das AKW überwacht und gesteuert wird: Als das Werk 1984 ans Netz ging, war diese analog. Jetzt wird sie vollständig digitalisiert.
Eine Sache ist laut Hunziker aber klar: Die Sicherheit hat oberste Priorität. Projekte, welche die Sicherheit verringern, wären bei der Aufsichtsbehörde ohnehin «chancenlos», sagt er.
Nukleares Herz
Zwar kann man bei einem Kernkraftwerk «mehr oder weniger alles austauschen», wie Hunziker erklärt. Es gibt allerdings einen Bereich, bei dem das nicht geht: der Reaktordruckbehälter, das nukleare Herz der Anlage. Das Reaktordruckgefäss in Leibstadt besteht aus mindestens 15 Zentimeter dickem Stahl und ist von 1,5 Meter dicken Stahlbetonmauern umgeben. Erfülle es die Sicherheitsanforderungen nicht mehr, könne man es nicht ersetzen und müsse den Betrieb einstellen, sagt Hunziker.
Nur: Wie weiss man, ob das Reaktordruckgefäss für einen längeren Betrieb geeignet ist? Sichergestellt wird dies mit regelmässig durchgeführten Ultraschallprüfungen. Im Reaktordruckgefäss sind zudem Materialproben installiert, die aus dem ursprünglichen Herstellungsprozess stammen. Sie sind so angeordnet, dass sie einer noch höheren Belastung unterliegen als die Materialien des Druckgefässes selbst. Sie werden periodisch entfernt und mit identischen, unbestrahlten Materialproben verglichen, um Veränderungen zu identifizieren. Ähnliche Verfahren werden für Komponenten wie etwa Kabel angewendet. Überwacht wird auch der Beton, eine weitere mögliche Schwachstelle.
Die drei Stunden sind längst vorbei, das Besucherzentrum hat sich geleert. Hunziker ruft die letzte Folie auf, dann klappt er seinen Computer zu. Das Resultat der Abklärungen sei eindeutig: «Es spricht nichts gegen einen Langzeitbetrieb unserer Anlage.» Und diese erreiche vergleichbare Sicherheitsstandards wie neu gebaute Kernkraftwerke – dank den bereits durchgeführten und den jetzt noch geplanten Verbesserungen.
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